Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Benutzeravatar
Rene75
Beiträge: 1601
Registriert: 20.2.2004 - 9:47
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750247Beitrag Rene75
30.12.2008 - 10:19

Irgendwie bin ich zu blöd oder hab einen Hänger. Also dieser Alex Gruber ist das tolle Talent das einen Sturz hatte und nun ein Nachwuchsteam aufbauen möchte, Richtig? Dann schreibst du weiter das Sven sein Halbbruder ist, Richtig? Und dann kommt dazu das seinen Stiefmutter Isabel den steinreichen Geschäftsmann geheiratete hat, ist das nun der Alex Gruber? Dann wäre ja seine Stieftmutter mit seinem Bruder verheiratet, Lol. Und wenn Nein und der steinreiche Typ ein anderer ist, warum ist sie dann Geschäftsführerin in diesem Nachwuchsteam vom Ex? Nicht sehr realistisch wie ich finde.

Finde das alles ziemlich caotisch, etwas mehr Übersicht und Vereinfachung wäre hier toll. Ansonsten kann man wirklich nicht viel kritisieren an deinem AAR, ausser das ich hoffe das bald der Bezug zum Spiel kommt, zwar haste die Tour Down Under drin, aber eine Vorgeschichte über 8 Seiten ist schon ziemlich ausführlich. Wir wollen endlich Rennen sehen ^^ :D

crojkr
Beiträge: 339
Registriert: 14.1.2007 - 16:17
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750249Beitrag crojkr
30.12.2008 - 12:30

Stiefmutter Isabel ist Alex Gruber´s Mutter und Svens Vater ist mit Isabel verheiratet, die vorher mit einem steinreichen Geschäftsmann zusammen war, der aber tödlich verunglückte und Alex Gruber und Isabel das ganze Vermögen geerbt haben^^

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750264Beitrag Andy92
30.12.2008 - 15:07

Danke crojkr - dem ist nichts hinzuzufügen.

@Rene75: Ich hab nicht nur die Tour down Under, sondern auch schon Paris-Nizza, Tirreno-Adriatico, Mailand-San Remo und mehrere kleinere Rennen beschrieben. Eigentlich sollen jetzt zunächst mal die beiden Handlungsstränge mit Andreas und Jörg nebenher laufen. Dass Jaksche in letzter Zeit etwas zu kurz gekommen ist, hängt natürlich mit der Karriere von Andreas zusammen, die eindeutig im Mittelpunkt stehen soll. Wenn euch die Verhältnisse (es wird in den nächsten Wochen und Monaten noch um einiges komplizierter) zu unklar seien sollten, dann kann ich ab und zu mal eine aktualisierte Grafik erstellen, in der alle relevanten Personen des AAR's auftauchen. Das sollte kein Problem sein. Gut verstehen kann man aber alles eigentlich nur (so glaube ich zumindest), wenn man das im Zusammenhang mit der Geschichte liest. Ich bemühe mich auch darum, nie allzu viel auf einmal dar zu legen. Ich kann das schon verstehen, dass man, wenn man nicht so sehr in der Materie drin steckt wie der Autor, also ich, leicht den Überblick verliert. ;)
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750638Beitrag Andy92
5.1.2009 - 12:54

3.Kapitel - Der Deal

„Sebastian Langeveld zieht den Sprint für Oscar Freire an! Das sieht sehr gut aus für den Spanier! Das machen die beiden richtig klasse! Ja – wo sind denn jetzt Boonen, Zabel, Pozzato – wo sind die denn alle?“
„Noch 500 Meter.“
„Wann beginnt der Sprint? Wann beginnt das Finale, der letzte Paukenschlag dieser dramatischen Flandernrundfahrt 2008? Ich hab schon gar nicht mehr mitgezählt, wie oft sich das Blatt heute gewendet hat! Die Spannung ist förmlich spürbar – es knistert richtig...jetzt biegen sie um die vorletzte Kurve. Und schauen Sie! Schauen Sie! Erik Zabel! Der alte Hase! Der weiß, wann er antreten muss! Der weiß das! Und er macht’s wieder richtig! Das sind locker 15, 20, ja vielleicht sogar 30 Meter! Erik Zabel! Auf und davon! Mit 37 gewinnt er zum ersten Mal die Flandernrundfahrt...“
„Woah! Schau dir das an!“
„Tom Boonen! Der hat sich im Windschatten seines Teamkollegen Stijn Devolder wieder rangezogen und sprintet jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit nach vorne! Komm zieh durch Ete! Aber die Ziellinie, sie will nicht näher kommen! Das ist die letzte Kurve! Die Zielgerade haben sie jetzt vor sich! Pozzato, Cancellara, Hincapie und wie sie alle heißen – Freire dort hinten eingeklemmt – alle geschlagen! Aber Tom Boonen, der kommt wieder ran! Der hat geblufft! Das wird ganz knapp! Nein! Nein! Er ist vorbei! Tom Boonen gewinnt! Er hat Erik Zabel wieder geschlagen!“
„Ahhh! Das tut weh – so knapp.“

Na, da hatte ich wohl genau im richtigen Moment zugeschaltet. Ich war so perplex von der ganzen Schreierei, dass ich erst einmal tief durchschnaufen musste, um zu realisieren, was ich da gerade gesehen hatte. Das, was Tom Boonen da gerade abgeliefert hatte, war – einfach unglaublich!
Karsten Migels und Ulli Jansch ließen das Rennen jetzt noch einmal in kurzen relativ unverständlichen Sätzen Revue passieren, während die Belgier ihren Superstar im Zielbereich förmlich nieder rannten. Umringt von Reportern, Fans und Betreuern seines Teams kämpfte sich der grinsende Boonen durch die Menschenmassen zu Erik Zabel. Eine Kamera schnappte die freundschaftliche Umarmung der beiden auf – das spätere Titelbild in sämtlichen Sportzeitungen.
Dort in Flandern war heute anscheinend ein genauso packendes, dramatisches und hochspannendes Rennen zu sehen gewesen, wie hier in der Schweiz am Ächerlipass. Es war jetzt kurz nach fünf Uhr. Das U23-Rennen war schon längst zu Ende. Peter hatte leider nur einen vierzehnten Platz herausfahren können. Er war schon ein wenig enttäuscht, doch die Konkurrenz in dieser Altersklasse, war relativ gesehen um ein vielfaches stärker, als in meiner. Da man aber alles relativ sehen kann, hätte man auch meinen können, dass ich einfach einen unheimlich starken Tag erwischt, oder in der letzten Woche ganz enorme Fortschritte gemacht hätte und Peter einfach einen schlechten Tag hatte. So oder so – es war mir egal. Ich hatte gewonnen – ich hatte eine Einladung in ein Eliteinternat – ich war mit dem Mädchen meines Herzens zusammen – ich war überglücklich und ich bemerkte, dass mein Leben jetzt erst so richtig Fahrt aufnehmen sollte. Kurzum: Es war der schönste Tag meines Lebens!
Und jetzt saß ich hier alleine im Zimmer der Ferienwohnung, genoss still meinen Triumph und lies die Siegerehrung des zweiten großen Klassikers der Saison über mich ergehen. Eigentlich wollte ich schon meine Sachen für die morgige Abfahrt packen. Doch bis jetzt hatte ich gerade mal den Reißverschluss vom Koffer öffnen können. Das Finish der Flandernrundfahrt hatte meinen Glücksgefühlen das Sahnehäuptchen aufgesetzt.
Ich beschäftigte mich gerade mit der Frage, ob man an einer Überdosis Endorphine sterben könnte, da stieß Sven die Zimmertür auf und er und Peter traten herein. Sven hielt kurz inne, als er auf dem Fernseher das breite Grinsen von Tom Boonen sah und lies sich fast automatisch neben mich auf einen Stuhl fallen – Peter blieb zunächst stehen.
„Und? Gerade zu Ende, oder?“, fragte Sven.
Gerade wollte ich damit beginnen, die letzten Meter des Rennens zu beschreiben, da ertönten erneut Karsten Migels und Ulli Jansch Stimmen und begrüßten die Zuschauer zu einer kurzen Zusammenfassung des Rennens. Das war genau das, was ich jetzt brauchte.
„Wirst du schon sehen“, fügte ich Svens überraschten Blick hinzu, der genauso wenig wie ich, eine Zusammenfassung erwartet hatte.

Das erste Bild zeigte das geschlossene Feld beim Start auf dem Marktplatz von Brügge. Wie immer säumten unzählige Fans den Straßenrand. Es gab einen Umschnitt: Vier Ausreißer zerstoben die feinen Tröpfchen des Nieselregens, der das Rennen heute beherrschen sollte. Am rechten oberen Bildschirmrand wurde ein Vorsprung von etwa vier Minuten angezeigt. Besonders erfreut bemerkte ich, dass mit Volker Ordowski auch ein Fahrer von Gerolsteiner neben Reynès (Caisse d’Epargne), Belloti (Barloworld) und Hansen (Columbia) in der Gruppe zu finden war. Sie erklommen gerade die ersten Meter des Oude Kwaremont. Das Feld konnte seinen Rückstand hier lediglich verringern, doch am darauffolgenden Paterberg geschah endlich etwas interessantes: In der Abfahrt löste sich – wohlgemerkt 80 Kilometer vor dem Ziel – Fabian Cancellara zusammen mit seinen Teamgefährten Matti Breschel und Karsten Kroon, sowie dem Schweizer Meister Markus Zberg, ein weiterer Gerolsteiner Profi.
Natürlich machten Silence-Lotto, Rabobank, Quick Step und Liquigas, also die Teams der Topfavoriten jetzt richtig dampf, um den CSC-Express wieder einzuholen. Doch deren Vorsprung war nach dem gefürchteten Koppenberg bereits auf eine Minute angewachsen, während das Hauptfeld immer kleiner und kleiner wurde.
Schließlich erreichte die Gruppe um Cancellara die Spitzengruppe mit Ordowski – was für ein geschickter Schachzug meines Lieblingsteams, welches jetzt mit zwei Mann in der Spitzengruppe vertreten war. Doch die Freude währte nicht lange, denn außer den drei Fahrern von CSC wurden alle anderen Ausreißer kurz darauf wieder gestellt.
Am Eikenberg verlor Cancellara mit Kroon seinen ersten Helfer, während Johann Van Summeren aus dem Hauptfeld attackierte und sich zusammen mit seinem Teamkapitän Leif Hoste auf die Verfolgung des Schweizers machte. Doch dieser eigentlich doch so geniale Schachzug von Silence sollte nich aufgehen, denn mit Paolo Bettini als Zugpferd war das Hauptfeld auf den nun folgenden kopfsteinpflasterlosen Hellingen klar im Vorteil.
Eine eindrucksvolle Kameraeinstellung von vorne auf den Weltmeister zeigte seine Überlegenheit auf diesem Terrain. Während er ganz locker und mit versteinertem Gesichtsausdruck im Wiegetritt davon segelte, sah man im Hintergrund kämpfende Fahrer mit weit aufgerissenen Mäulern. Leider fielen diesen Tempoverschärfungen auch sämtliche Gerolsteinerfahrer zum Opfer, die im Renngeschehen auf den hinteren Plätzen versanken. Zumindest wurden sie nun nicht mehr von Migels oder Jansch erwähnt, was diesen Schluss unweigerlich forderte.
Dagegen entwickelte sich an der Spitze ein äußerst dramatisches Rennen. Mit Stijn Devolder hatte Tom Boonen nun ebenfalls einen seiner Männer nach vorne geschickt. Cancellara war mittlerweile auf sich alleine gestellt und das Feld gerade mal noch 16 Mann stark. Eine lange und vor allem erfolgreiche Soloflucht des Schweizers wurde nun immer wahrscheinlicher, zumal die Gruppe um Hoste und Devolder immer mehr an Boden verlor und schließlich gestellt wurde. Devolder hatte sich zuvor aber noch erfolgreich absetzen können und mit Arvesen einen weiteren aber unbrauchbaren Weggefährten erhalten. CSC fuhr ein richtig starkes Rennen, während Tom Boonen wohl mittlerweile am Verzweifeln war. Der Abstand zu Cancellara wollte einfach nicht kleiner werden.
Auf dem Weg zum berühmten Finale an der Mauer von Geraardsbergen hatte Devolder seinen Begleiter aber irgendwann stehen gelassen, während Cancellara als erster und immer noch mit einem Vorsprung von über einer Minute auf seine ärgsten Konkurrenten die ersten Meter hinauf zur Kapelle in Angriff nahm.
Hier überschlugen sich jetzt die Ereignisse: Das Schweizer Uhrwerk an der Spitze des Rennens erlitt zum ersten Mal einen Einbruch, während sich Flecha, Boonen, Pozzato und Hoste aus der großen Verfolgergruppe abwechselnd attackierten – Devolder ging dabei irgendwo unter. Flecha konnte als erster zu Cancellara aufschließen. Doch der Anstieg wollte und wollte kein Ende nehmen. Und plötzlich waren Pozzato und Boonen da. Hoste kämpfte noch als Solist um den Anschluss, nachdem er Hinacpie und Co einfach stehen lies. Doch jeder ahnte, dass der Belgier gerade an seine Grenzen stieß. Genauso wie Daniele Bennati, der bisher noch ganz überraschend, das Tempo der Gruppe um Zabel, Freire, Hincapie, also der größeren Verfolgergruppe, die sich stets auf Schlagdistanz gehalten hatte, mithalten konnte. Damit war ein weiterer Mann für einen Massensprint aussortiert worden, doch damit rechnete jetzt auch keiner mehr. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als ganz vorne ein unheimlich starker Flecha erneut attackierte und Tom Boonen kurzzeitig in Schwierigkeiten steckte.
Jetzt fiel mir wieder der Satz von Karsten Migels ein: „...wie oft sich das Blatt heute gewendet hat...“ So langsam verstand ich warum und wieso. Denn das Rennen war noch lange nicht gelaufen, wie das Ende ja vermuten lies. Noch stand der Bosberg im Weg. Hier konnte Boonen wieder zur Spitze aufschließen. Doch außer Flecha, der mit Freire in der Verfolgergruppe zudem noch einen starken Sprinter in petto hatte, konnte keiner die Führungsarbeit ernsthaft übernehmen. Flecha wollte nicht, Boonen, Cancellara und Pozzato konnten nicht – also schloss Hoste zu den vieren auf. Flecha attackierte genau in diesem Moment und gab dem Belgier den vermeintlichen Todesstoß. Doch auf dem Flachstück zum Ziel schauten sich die vier wieder nur an. Hoste kam als erster wieder heran und dann, drei Kilometer vor dem Ziel waren plötzlich auch wieder Zabel, Freire und Co da.
Sofort übernahm der Rabobankzug die Führung – Flecha hatte seine ausgezeichnete Form leichtfertig verspielt – Freire wurde zu allem Überfluss für Rabobank auch noch eingeklemmt – es folgte der gewaltige und überraschende Antritt von Erik Zabel. Jeder ging nach diesem Rennverlauf davon aus, dass Boonen keine Kraftreserven mehr übrig haben konnte. Kein Wunder also, das Migels den Deutschen bereits zum Sieger erklärt hatte, doch jetzt spielte Boonen sein wahres Blatt – der Bluff flog auf und er lies einen noch viel gewaltigeren Antritt als den von Zabel folgen. Er kam immer näher, während Zabel auf der anderen Straßenseite kämpfte wie ein Verrückter. Doch als Boonen aufgeschlossen hatte und sofort vorbeigezogen war, drehte sich der Deutsche um, wusste, dass ihm der zweite Platz sicher war und gab den aussichtslosen Kampf auf. Boonen hatte sogar noch genug Zeit sich vor dem Zieldurchlauf aufzurichten und die Arme in die Höhe zu reißen – so deutlich war am Ende sein Sieg.
Sven und Peter, der sich mittlerweile auf die Bettkante gesetzt hatte oder sogar musste, schüttelten fassungslos den Kopf.
Zuletzt geändert von Andy92 am 7.1.2009 - 21:54, insgesamt 1-mal geändert.
Bild
Bild
Bild

Benutzeravatar
vino 12
Beiträge: 587
Registriert: 25.11.2006 - 16:43

Beitrag: # 6750645Beitrag vino 12
5.1.2009 - 13:42

Sehr guter und schön verpackter Renbericht... macht lust auf mehr

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750806Beitrag Andy92
6.1.2009 - 17:45

Wir starrten immer noch gebannt auf den Bildschirm, obwohl die Übertragung bereits zu Ende war. Sven erbarmte sich schließlich den Fernseher auszuschalten. Doch das war es nicht, was ihn störte. Er wirkte besorgt.
„Ich frag mich immer noch, warum mein Vater nicht gekommen ist. Da kann doch was nicht stimmen...“
„Wann hast du ihn denn das letzte Mal gesehen?“ Ehrlichgesagt fand ich es auch seltsam. Meine Mutter wollte zwar auch kommen, doch bei ihr gab es andere Gründe, warum sie nicht am Streckenrand gestanden hatte. Diese Gedankenverbindung traf mich mit ihrer ganzen Wucht. Ich wollte es einfach nicht glauben, was mir meine Mutter gestern Abend erzählt hatte. Nein, zu so etwas war sie doch niemals im Stande – auf keinen Fall! Und selbst wenn. Sie war doch völlig durch den Wind. Vollkommen unzurechnungsfähig, was natürlich keine Entschuldigung – nein! Ich durfte gar nicht dran denken. Einfach auf etwas anderes konzentrieren. Wo war eigentlich Christine abgeblieben?
„In den Weihnachtsferien“, sagte Sven.
„Bitte?“ Ich hatte total den Zusammenhang verloren. Mein Gehirn benötigte einen Augenblick, um die störenden Gedanken verschwinden zu lassen. „Achso, ja, sorry. Ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.“
Das hätte ich lieber nicht sagen sollen.
„Ja, ja – bei wem wohl?“, lachte Peter und stieß mir mit seinem Ellenbogen rüpelhaft gegen eine Rippe.
Sven hatte dafür aber nur ein kurzes Schmunzeln übrig: „Ich hab gerade andere Sorgen.“
„Jetzt komm schon. Dein Alter taucht sicherlich bald wieder auf, wahrscheinlich hat er’s nur vergessen.“ Doch Peters Aufmunterungsversuche waren zum Scheitern verurteilt.
„Ach was! So ist er nicht. Wir Kinder haben es hauptsächlich ihm zu verdanken, dass wir nie richtig unter der Scheidung leiden mussten. Er hat sich nur mit Mama nicht mehr verstanden, aber mit uns schon. Außerdem sind wir seine einzigen Kinder. Er hat uns noch nie so im Stich gelassen.“
„Tja, es gibt für alles ein erstes Mal.“
Ich lies die Zweideutigkeit in Peters Aussage lieber unbeachtet. Trotzdem stieg mir plötzlich die Hitze ins Gesicht...
„Das einzige Mal, dass er uns hat sitzen lassen, war, als er unsre Mutter verlassen hat. Er hat nur einen Zettel geschrieben und war für Wochen verschwunden. Dann kam er um seine Sachen zu holen, aber dieses Verschwinden hat er sich nie verzeihen können. Seitdem klärt er alles hundertprozentig genau ab, so sehr, dass es fast schon wieder nervt.“
„Ich weiß, das klingt vielleicht blöd, aber man sollte ein paar Möglichkeiten nie ausschließen“, mischte ich mich zaghaft in die Unterhaltung ein. Ich musste mich jetzt schon von zwei Sachen ablenken, wobei die letztere eher die Ablenkung von einem gedankenlähmenden Verlangen war.
„Und die wären?“
„Deine Stiefmutter hat ja gesagt, dass er schon seit gestern verschwunden ist. Ja, vielleicht hat er bei nem Abend unter Kumpels einen übern Durst getrunken und schläft jetzt seinen Rausch aus. Oder...“
„Oder?“
„Vielleicht hat er auch schon wieder ne andere.“ Ich legte so viel Vorsicht wie möglich in diesen Satz.
„Beides ausgeschlossen. Erstens ist er seit einigen Jahren Antialkoholiker, weil sein Bruder wegen einer von ihm angezettelten Saufparty tödlich verunglückte. Und zweitens muss er dieser widerlichen Isabel unheimlich treu sein, was ich zwar nicht verstehen kann, aber er ist es ganz sicher.“
„Dann bleibt ja nur noch eines übrig“, meinte Peter.
„Ja, es wird wohl so sein. Verdammter Mist!“ Sven war den Tränen nahe. Wir wussten alle, welche Möglichkeiten noch ausstanden. „Wahrscheinlich liegt er jetzt zwischen den Trümmern seines Autos, irgendwo im Wald....“
„Nein, an so was darfst du gar nicht denken“, warf ich schnell ein.

Doch von Tag zu Tag wurde die Lage ernster. Svens Vater antwortete nicht. Auf keine SMS, auf keinen Anruf. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Christine konnte genauso wie ihr Bruder an nichts anderes mehr denken, als an ihren Vater. Schließlich war ich genauso besorgt wie die beiden und wie ihre Mutter – Viktoria, die ihre Kinder am Mittwoch krank schreiben lies und sogar mit Isabel von Klavsen Kontakt aufnahm, um sie zu einer Vermisstenanzeige zu drängen. Dabei hasste Svens Mutter diese Frau noch viel mehr, als ihre Kinder es taten, doch die beiden verstanden sich in der Not, in der sie sich sahen, ziemlich schnell und schalteten die Polizei ein.
Was für eine Mutter – Viktoria nahm all diese Unannehmlichkeiten nur ihrer Kinder wegen auf sich. Denn sie hasste nicht nur Isabel, sondern auch ihren Ex-Mann, was ihr später noch zum Verhängnis werden sollte.
Es brach eine schwierige Zeit an. Für mich und meine Freunde. Ich musste zurück zu meiner Mutter. Das war leider unumgänglich. Wir sprachen kaum ein Wort miteinander und ich trainierte so viel und so lange wie noch nie. Zum Glück spielte das Wetter mit. Länger als eine halbe Stunde hielt ich es nicht bei meiner Mutter aus. Da kam mir das Angebot vom Internat des Alexander Grubers doch gerade recht, zumal Sven jetzt auch dort hin sollte. Doch daran verschwendete mein bester Freund keinen Gedanken mehr. Offensichtlich verstand er sich mit seinem Stiefbruder zwar sehr gut. Alexander setzte wohl seine ganze Energie in das Projekt, seine jungen Talente dazu zu bringen, mit ihnen eine ähnlich glanzvolle Karriere zu erleben, wie er es eigentlich immer wollte. Am Freitag Nachmittag wollte er – neben Jörgs üblichem Anruf – mit mir ein längeres Telefongespräch über meine Zukunft führen. Aber irgendwie konnte ich mich nicht richtig darauf freuen.
Denn meine Mutter schaltete auf Durchzug, wenn ich sie auf meine Bitte, in das Internat zu ziehen, ansprach. Offenbar wollte sie mich wegen meines Wissens lieber in ihrer Umgebung haben, aber warum sollte ich schon etwas ausplaudern? Ich wollte von der ganzen Sache nichts, aber überhaupt nichts mehr wissen. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, dass meine Mutter eine Mörderin sein könnte, schnürte es mir die Kehle zu. Seit meiner Ankunft hatte ich ihr kein einziges Mal in die Augen geschaut – zumindest nicht bewusst. Ich hatte Angst davor, in ihren Augen den Tod selbst zu erkennen. Ich musste dringend fort aus ihrer Gegenwart. Einzig und alleine beim Radfahren, fand ich ein bisschen Erholung. Und das war es, was ich wollte. Es war unumgänglich und das beste für uns beide, wenn ich einfach weg gehen würde und mich um andere Dinge kümmern müsste. Doch den Mumm sie direkt auf eine Art Deal anzusprechen, hatte ich nicht.
Außerdem war da ja noch Christine, die hier in Deutschland zurück bleiben würde. Ich würde sie wahrscheinlich wochen- oder sogar monatelang nicht mehr sehen. Zwar haben Fernbeziehungen zwar auch so ihre Vorteile, doch zurzeit war ich einfach zu vernarrt in sie, als dass ich sie für längere Zeit verlassen könnte. Zudem hatte ich Angst, sie würde in dieser Zeit einen anderen finden. Dafür besuchte ich sie jetzt jeden Tag. Sie brauchte das. Sie brauchte mich, der sie in den Armen hielt und...ach, sie war einfach völlig fertig und konnte jeden Trost gebrauchen – auch wenn er nur stumm war...

Am Donnerstag drohten sich die Ereignisse letztendlich zu überschlagen. Isabel von Klavsen hatte am Vorabend endlich eine Polizeidienststelle aufgesucht und eine Anzeige aufgegeben. Der Fall wurde sofort an die Kriminalpolizei in Luzern weitergegeben. Letztendlich landete er auf dem Schreibtisch eines gewissen Kommissar Meyer, der für den Vormittag des 10.April 2008 eine Handyortung veranlasst hatte. Im Grunde genommen würde er am Vormittag das Ergebnis der Arbeit seiner Kollegen in den Händen halten und daraus neue Schlüsse für die weitere Aufgabenverteilung ziehen. Doch das Ergebnis sollte ihm ganz und gar nicht erfreuen. Er ahnte, was das bedeuten könnte und beauftragte sofort zwei seiner Schützlinge damit, eine kleine Bergtour zu den gegebenen Koordinaten zu unternehmen.
Und wie es das Schicksal so will wäre es beinahe nicht dazu gekommen, denn der Akku des Handys hatte gerade mal zehn Minuten nach der Ortung den Geist aufgegeben. Diese zehn Minuten hatten also über die Zukunft vieler Menschen in Andreas Umgebung entschieden. Es war entweder eine ruhigere aber ungewisse Zukunft, oder eine klar definierte dafür aber stressige, prekäre und schmerzhafte Zukunft. In diesem Fall sollte letztendlich die zweite Variante zum Zuge kommen.
Bild
Bild
Bild

Gerrit
Beiträge: 584
Registriert: 11.7.2007 - 14:43
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750831Beitrag Gerrit
6.1.2009 - 20:37

Irgendwo habe ich den Faden verloren aber ich habe 2 Vermutungen:
Andreas ist ein Halbbruder von Sven, oder
Andreas Vision war der Vater von Sven.

Benutzeravatar
ScÔtt
Beiträge: 375
Registriert: 4.1.2009 - 14:28
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750834Beitrag ScÔtt
6.1.2009 - 21:16

@ Gerrit


Ich glaube das es eher so seien könnte das ANdreas'S Mutter den Vater von Sven geownt hat!!


Andy

vil. kennste mich aus anderen Foren, man kennt mich auch unter dem Namen Specializer.

Ich habe deine Story damals schon gebannt vervolgt und vervolge sie jeztzt auch weiter

Ich wieß nciht wie du auf diese Geschichten kommst aber erste klasse!!

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750838Beitrag Andy92
6.1.2009 - 21:44

@ Gerrit:
1.Das stimmt nicht, aber du bringst mich da gerade auf eine Idee.
2.Andreas Vision (ich gehe mal davon aus, dass du den Autofahrer und seinen Traum einige Kapitel weiter vorne meinst) bezog sich auf seinen eigenen Vater -> er entwickelt beim Rennen die Gedanken, dass sein Vater noch leben könnte. Oder du meinst den letzten Absatz. Dann muss ich dazu aber noch was allgemeines sagen.

Und zwar das: Ich hab jetzt zum ersten mal die Erzählperspektive auf andere Personen gewechselt (letzter Absatz). Hier ist es dann ein auktorialer (=allwissender) Erzähler. Das werde ich in den nächsten Kapiteln immer häufiger tun (siehe "Robert" am Anfang der Geschichte), denn ich finde, dass ständig nur die Sicht aus Andreas Blickwinkel etwas langweilig wird. Durch den autkorialen Erzähler, der laut Definition aber nicht mit seinem Wissen rausrücken muss :roll: , weiß man meistens auch nicht viel mehr, als Andreas bzw. ist für unsere Hauptfigur nicht zwingend von Bedeutung.

@Speci: Hi. Freut mich natürlich, dass du auch hier mitliest (auch wenns die selbe Geschichte ist :) ). Zu deiner Frage, wie ich auf diese Geschichten komme: Am Anfang steht eine kleine Idee. Hier war es einzig und alleine die Fahrt aufs Stilfser Joch mit Jörg Jaksche. Alles was danach kam, fiel mir nach und nach ein und umso weiter sich die Geschichte hinzieht, umso mehr fällt einem ein. Das liegt daran, dass immer mehr Charaktäre auftreten, also immer mehr Personen vorkommen (ich kenne übrigens schon ein paar mehr als ihr, was auch ganz gut so ist ;) ) und man ein paar Eigenschaften hier und da hinzufügt, evtl. noch ein paar Verwandte erfindet und ein paar Taten in der Vergangenheit dazu dichtet, das ganze ein paar Mal überprüft und verbessert und schon hat man ne richtig gute Story und kann von Kapitel zu Kapitel auf ihr Ziel hinführen. Viele Ideen kommen mir auch direkt beim Schreiben, oder wenn ich Musik höre. Am schlimmsten ist es, wenn du dich schlafen legst, denn während du versuchst einzuschlafen, gehst du den Tag nochmal durch, evtl. ist da auch die Geschichte hier dabei und dann sprudelsts einfach nur so aus dir hervor. ;)

P.S.: Für was steht bitte "geownt"?
Bild
Bild
Bild

Benutzeravatar
ScÔtt
Beiträge: 375
Registriert: 4.1.2009 - 14:28
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750857Beitrag ScÔtt
7.1.2009 - 6:17

geownt= getötet|alle gemacht...

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6750919Beitrag Andy92
7.1.2009 - 20:51

Ah ok. Mal sehen :) ;) ob das stimmt.
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751047Beitrag Andy92
8.1.2009 - 22:23

Pierre Besson stammte aus Martigny im Tal der Rhone, der französischsprachigen Schweiz. Der Blick auf die schneebedeckten Berggipfel waren der Inbegriff seiner Heimat. Sein Herz schlug für diese Region. Schon seit seiner Kindheit wollte er nichts anderes sehen, als das breite tief eingeschnittene Tal und die weißen Giganten der Westalpen ringsum.
Doch die Liebe zu einer Frau, war stärker gewesen, als die Liebe zu seiner Heimat. So hatte es ihn hier hin verschlagen. In die Zentralschweiz an den Vierwaldstättersee. Hier, bei Luzern gab es auch hohe schöne Berge, doch sie alle konnten mit den imposantesten Gipfeln wie dem Dent Blanche oder dem Grand Combin bei weitem nicht mithalten – es fehlte ihnen einfach an Schönheit und Ästhetik. Auf dem Massiv des Titlis, dem höchsten hier, konnte man zwar vom Tal aus eine gewaltige Schneewächte bestaunen, doch auf dem Firnschnee des Gipfelgletschers prangte ein gewaltiger Stahlmast einer Seilbahn und ganz oben stand ein auf den Fels geschlagenes Gipfelhaus. Was die Menschheit nicht alles tut, um ganzjährig Skifahren zu können.
Doch dafür hatten die Berge hier durch den See eine ganz andere Charakteristik. Die Landschaft wirkte malerisch, fast zauberhaft. Wenn im Herbst am Morgen der Nebel über den See strich und darüber die Berghänge gleich dem Morgenrot leuchteten, dann sah selbst der Gletscher des Titlis wunderschön aus.

Doch an solch herrliche Bilder war jetzt überhaupt nicht zu denken. Pierre war im Dienst, auch wenn ihm der Dienst im Moment wie Urlaub vorkam. Er war Kriminalkommissar. Sein Chef Oberkommissar Meyer hatte ihn und seine Kollegin Tanja Hagen zu einer kleinen Bergtour beordert. Sie sollten das Handy einer vermissten Person finden und wenn möglich diese Person gleich noch dazu. Allerdings würde dann eine Menge Arbeit auf sie zukommen. Doch diese Arbeit würde Pierre, wie sonst auch, Spaß bereiten – soweit man von Spaß sprechen konnte. Er liebte es einfach zu ermitteln, er hatte das Gespür für die richtigen Entscheidungen und hatte sich so Jahr für Jahr nach oben gearbeitet. Und bald würde er den Ober spielen dürfen, denjenigen, der sich nicht mit der Drecksarbeit abplagen muss, sondern gemütlich auf dem Chefsessel im Büro sitzt, seinen genialen Kopf arbeiten lässt und Anweisungen erteilt. Ja, er war der geborene Kommissar. Bis jetzt hatte es noch keinen Fall gegeben, den er noch nicht gelöst hätte. Mittlerweile lies ihm Meyer sogar großzügige Freiheiten. „Sie haben sich mehrfach bewährt. Das Vertrauen ist berechtigt“, hatte Meyer vor einigen Wochen zu ihm gesagt. Und heute Morgen im Büro: „Ich hoffe zwar, dass aus diesem Vermissten kein Mordopfer wird, aber falls sie den Fall lösen sollten, dann sind sie allemal mein würdiger Nachfolger.“ Wie stolz ihn das gemacht hatte. Noch zwei Jahre, dann würde Meyer „Abdanken“ – in Rente gehen – und das Schlachtfeld würde allein ihm gehören. Nicht, dass er seinen Vorgesetzten nicht mochte, nein, die beiden verstanden sich außerordentlich gut, aber er wollte endlich an der Reihe sein – auch wenn er gerade erst 35 geworden war – an Erfahrung mangelte es ihm nicht.
Die einzigen Probleme, die er in seinem Beruf und auch im alltäglichen Leben hier hatte, war die Sprache. Seine Muttersprache war Französisch. Deutsch hatte er in der Schule gelernt und später noch einmal vertieft, um die Versetzung nach Luzern so gut wie möglich zu meistern. Doch, was er gelernt hatte, war Hochdeutsch – und nicht diesen schrecklichen Dialekt. Zum Teil verstand er ganze Sätze nicht, doch es wurde von Zeit zu Zeit immer besser. Und seinen eigenen französischen Akzent konnte er auch immer besser unterdrücken, obwohl das seine Frau so sehr an ihm mochte.

„Ich sag dir doch, dass ich diesen Namen schon mal irgendwo gehört habe“, schnaufte Tanja hinter ihm, als sie schließlich ein flacheres Stück erreichten. Sie waren beide sportlich und sie war sogar noch sieben Jahre jünger als er. Doch anscheinend konnte sie kaum mit ihm mithalten.
„Du musst schon sagen, wenn ich dir davonlaufe.“
„Nein...passt schon. Ich bin dieses Jahr nur wieder zum ersten Mal in der Höhe – außer beim Skifahren, aber da geht’s ja nur bergab...Pierre, kennst du diesen Mann vielleicht?“
„Wie bitte? Achso, nein, Georg von Klavsen – nie gehört.“
„Also, ich denke schon. Ich glaube, ich hab ihn sogar schon einmal gesehen, aber es macht einfach nicht klick.“
Pierre würde das später sicherlich gut gebrauchen können, was Tanja über diesen Mann wusste. Vielleicht bekam ihr die Höhe wirklich nicht gut. Eine Pause wäre nicht schlecht. Er warf einen Blick auf sein GPS-Gerät.
„Jetzt sind es noch 900 Meter bis zur Ortungsstelle. Dort können wir ja erst mal eine Pause machen.“
„Oh ja, aber bitte nicht neben einer Leiche.“
„Wir wollen ja nicht das schlimmste befürchten, Tanja.“ Pierre lache in sich hinein. Er wusste, was seine Kollegin gleich sagen würde.
„Also, wenn dich Meyer mit einem Fall beauftragt, dann geht er wohl selbst davon aus, dass es etwas verzwickter werden könnte. Er glaubt wohl kaum, dass wir einen Mann auf einem Felsen sitzend finden werden.“
„Wohl eher liegend.“
„Jetzt meinst du aber auch, dass er...na, du weißt schon.“
„Abwarten. Heute ist so schönes Wetter, da hab ich keine Lust auf Überstunden.“

Fünf Minuten später standen sie an einer Kreuzung. Der Weg, auf dem sie gekommen waren, mündete in einen anderen, der an einem Abhang entlang lief. Das Gelände war unwegsam und unübersichtlich. Ein Wald versperrte zum Großteil die Sicht. Der Hang bestand aus mehreren ineinander verschachtelten Stufen. Und auf jeder wucherte der Nadelwald in seiner ganzen Pracht.
Pierre schloss die Augen. Sollte er es wagen, auf sein GPS-Gerät zu schauen? Lieber nicht. Er wusste auch so, was es anzeigen würde.
„Und?“, fragte Tanja gespannt. „Wohl hoffentlich nicht irgendwo da unten.“
Pierre seufzte. „Wenn es da unten ist, dann haben wir eine Leiche. Wenn du mich fragst, dann war es hundertprozentig kein Unfall – die Stelle ist einfach perfekt für einen Mord – in diesem Fall wohl eher einen Todschlag. Und abstürzen kannste hier bloß nachts. So dumm kann man gar nicht sein und hier tagsüber runterfallen. Dazu ist es einfach zu offensichtlich, dass es da auf die nächste Stufe, ich würde sagen, so 30 Meter sind.“
„Na super. Und was machen wir jetzt? Wieder zurück und ne Kletterausrüstung besorgen?“
„Warte – noch hab ich nicht auf meinen kleinen Freund geschaut“, Pierre tippte vielsagend mit seinem Zeigefinger auf den kleinen grauen Kasten in seiner Gürteltasche. Er zog das Gerät heraus und warf einen flüchtigen Blick auf das Display. Er konnte seinen Augen nicht trauen! Tanja lugte über seine Schulter und stöhnte. Sie wendete sich ab und schlug sich die Hand vor die Stirn.
„Dreißig Meter – gerade aus.“ Pierre schluckte, als er die Worte für sich bestimmt flüsterte. Während sich Tanja immer noch ärgerte und dabei war, ihr hübsches blondes Haar zu ruinieren, warf er noch einmal einen Blick nach unten und dachte nach. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch die Stufen in der Felswand abschüssig waren. Er bückte sich um das Gefälle besser einschätzen zu können.
„Also, ich mach jetzt erst mal Pause“, rief Tanja von hinten. Er schenkte ihr keine Beachtung.
„Ich glaube wir müssen noch mal eins tiefer. Der Weg nach rechts führt da drüben -,“ er wies auf den Berghang zu seiner Rechten, -„ nach unten in dieses Tal zu einer Hütte.“
Jetzt verlies ihn die Erinnerung an die Karte, die er sich vorhin im Auto noch so genau eingeprägt hatte. Wie viele Stufen gab es eigentlich?
Er drehte sich um und lief zu Tanja, die auf einem verwitterten Felsen hockte und in ihrem Rucksack nach einem belegten Brötchen stöberte. Er schwang seinen Rucksack vom Arbeitseifer gepackt vom Rücken und klemmte ihn sich zwischen die Beine, während er sich neben seine Kollegin setzte. Er suchte nach der Karte.
„In der Seitentasche“, meinte Tanja plötzlich mit vollem Mund – er konnte sie kaum verstehen.
„Sicher“, lachte er, schüttelte den Kopf und zurrte das Hauptfach wieder zu. Auf der rechten Seite seines Rucksackes wurde er schließlich fündig und breitete die Karte auf seinem Schoß aus.
„Wir sind jetzt hier, oder?“
„Ganz genau“, bestätigte er ohne zuzugeben, dass er die Stelle nicht so schnell gefunden hätte, wie Tanja. Sie ergänzten sich wirklich – nicht nur im Kartenlesen – in sämtlichen Dingen. Sie waren beide auf ihre eigene Weise brillant und unverbraucht.
Ein starkes Team!, dachte Pierre.
„Was willst du nachschauen?“, fragte Tanja.
„Wie viele Stufen da unten sind“, antwortete Pierre angebunden. Er zählte bereits die Stellen auf der Karte ab, an denen die Höhenlinien nicht ganz so dicht gedrängt abgedruckt worden waren. Doch bevor er überhaupt erst zum Abzählen kam, musste er die flacheren Stellen von den steileren unterscheiden können. So genau konnte man das auf der Karte gar nicht erkennen wie im Original. Anscheinend waren die Stufen noch viel steiler als er gedacht hätte – wie einen das Auge doch täuschen konnte.
„Also ich sehe da vier bis fünf“, meinte er schließlich.
„Ja, aber so wie das aussieht, liegt jemand, der hier abstürzt nicht auf einer der Stufen sondern rutscht bis ganz nach unten.“
„Dann dürfte das kein Problem werden...“
„...ihn zu finden, genau.“
Ja, sie ergänzten sich prima. Unwillkürlich schauten sie sich an. Sie lachten über sich selbst. Sie verstummten und blickten sich lange an. Pierre war noch nie aufgefallen, welch hübsches Lächeln Tanja hatte...
Bild
Bild
Bild

Benutzeravatar
Mor!tz
Beiträge: 359
Registriert: 17.7.2008 - 14:45
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751067Beitrag Mor!tz
9.1.2009 - 11:24

Gefällt mir sehr Gut. Nachdem du vom Rhonetal und den Dents Blanch schreibst, gehe ich stark davon aus, das du dort zum Skifahren warst.
Eins ist mir aber nicht ganz klar. Warum heißt Die Frau von Klavsen? Wenn sie die Mutter von Alexander Gruber ist, müsste sie doch auch gruber heißen, oder heißt Sven von klavsen?

Benutzeravatar
ScÔtt
Beiträge: 375
Registriert: 4.1.2009 - 14:28
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751091Beitrag ScÔtt
9.1.2009 - 17:30

Joa wie immer ne...

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751094Beitrag Andy92
9.1.2009 - 17:34

Zum Skifahren: Ich fahre nicht Ski, höchstens Langlauf. Aber ich war zusammen mit meinem Vater - es war glaub ich mein 10. Geburtstag - bei einem Urlaub im Wallis in dieser Region. Genauer gesagt am Mont Blanc in Chamonix und der höchste Berg der Alpen liegt ja genau auf diesem Kamm - dem Alpenhauptkamm.

Zu den Namen: Ich denke mal du meinst Isabel von Klavsen. Ihren Mädchennamen verrate ich jetzt noch nicht - aber ihr erster Ehemann war ja der reiche Geschäftsmann Richard Gruber (die beiden haben einen Sohn: Alexander), der unter mysteriösen Umständen gestorben ist. Kurz darauf hat sie Georg von Klavsen geheiratet, dem Vater von Sven und Christine.
Ich glaub, ich muss doch mal eine Grafik mit den genauen Beziehungen hochladen.
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751133Beitrag Andy92
9.1.2009 - 23:44

Eine Grafik mit den Personen und deren Beziehungen erscheint absofort stets aktualisiert im ersten Post.
Zuletzt geändert von Andy92 am 10.1.2009 - 17:00, insgesamt 1-mal geändert.
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751184Beitrag Andy92
10.1.2009 - 16:04

„Jetzt weiß ich’s wieder!“, rief Tanja völlig unerwartet.
„Was?“ Pierre verstand die Welt nicht mehr. Dieser Ausruf passte so gar zu seinem Gedankengang und so brauchte er eine Weile, um zu verstehen, was Tanja überhaupt meinte.
„Na, woher ich diesen Georg von Klavsen kenne.“
Pierre verstand immer noch nicht. Er hatte von der einen auf die andere Sekunde alles vergessen. Warum waren sie überhaupt hier?
„Hallo, Pierre, träumst du?“, lachte sie jetzt.
Ja, von dir, schwärmte eine Stimme in seinem Kopf. Was war das? Nein! Das konnte jetzt aber nicht wahr sein, oder?
Er schüttelte den Kopf und hätte sich am liebsten dazu noch kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Aber sobald er wieder seine Kollegin ansah, entglitten ihm wieder sämtliche Zusammenhänge. Plötzlich kam sie ihm so unglaublich attraktiv vor. Ihr seidiges blondes Haar, dass sie hinten zu einem kurzen Zopf zusammengebunden hatte, ihr hübsches, anmutiges blasses Gesicht, das noch immer jugendliche Züge annahm und ihre tiefblauen Augen, in denen man sich bis in die Unendlichkeit verlieren konnte. Und jetzt zeigte sie ihm wieder ihr strahlendes Lächeln...
Er arbeitete jetzt fast ein Jahr mit ihr zusammen und auf einmal sah er sie in einem ganz anderen Licht. Warum hatte er eigentlich nie eine Sekunde damit verschwendet, diese wunderschönen langen Beine zu betrachten? Es war so warm, dass man selbst auf dem Berg eine kurze Hose tragen konnte – er schickte ein großes Dankeschön an den Wettergott und lächelte, während sein Blick langsam an ihr wieder hinaufwanderte. Sie war gertenschlank, sportlich, ja, da ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass sie so gut aussieht. Die Proportionen stimmten einfach und ihre Brüste schienen auch noch die perfekte Größe zu haben.
Mein Gott, ich bin doch nicht mehr in der Pubertät!, dachte er und versuchte seine Gedanken neu zu ordnen. Er kannte sie jetzt doch schon so lange.
Jetzt konzentrier dich! Ja nicht mehr ablenken lassen!, doch sein Kopf wollte sich nichts sagen lassen.

Unwillkürlich musste Tanja an ihren ersten Arbeitstag im Kommissariat der Luzerner Polizei denken. Sie war damals 27 Jahre alt gewesen und hatte ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Sie sollte mit einem versetzten Kommissar aus Martigny zusammenarbeiten, der zwar sieben Jahre älter als sie war, doch seine Ausbildung ebenfalls erst vor wenigen Monaten beendet hatte. Ursprünglich hatte er mit einem Sportstudium begonnen, welches er aber aus Unentschlossenheit abbrach, um zur Polizei zu gehen.
Als er dann vor ihr stand, merkte sie sehr schnell, dass er wie sie auch, immer noch regelmäßig trainierte. Was er genau machte, um seine Fitness zu halten, war ihr zunächst egal. Sie bestaunte seine ausgeprägten Muskeln und seinen ästhetischen Körper, der aber bei weitem nicht überproportioniert war, und hatte sich zwei Sekunden, nachdem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in sein Äußeres verliebt.
Das ist doch ganz normal, hatte sie zunächst gedacht. Doch den ganzen Vormittag hatten sie nichts anderes getan, außer sich über ihre berufliche und oberflächliche private Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auszutauschen, bis hin zu den sportlichen Interessen. Ein wenig wehmütig musste sie erfahren, dass er wegen seiner Frau hierher nach Luzern gekommen war. Schade, denn es hatte nicht mal eine Stunde gedauert, um sich auch in seinen charmanten, offenen Charakter zu verlieben – er hätte auch glatt als echter Franzose durchgehen können, trotzdem sah er sich als absolut echten Schweizer an, wie er immer wieder betonte. Als er dann auch noch davon anfing, im Mountainbiking seine wahre sportliche Leidenschaft gefunden zu haben, die sie absolut mit ihm teilte, war es schon beinahe um sie geschehen.
Es dauerte lediglich zwei Wochen und er hatte all ihre Sympathien gewonnen. Mittlerweile trainierten sie zusammen, um sich auf die Events im Sommer vorzubereiten und darüber hinaus waren sie nicht mehr „nur“ Arbeitskollegen, sondern echte Freunde geworden. Kaum verwunderlich, dass sie sich in ihrer Arbeit blind verstanden und absolut ergänzten – der Erfolg blieb auch nicht lange aus.
Doch all diese Sympathien für Pierre Besson sollten vergeblich bleiben. Immer wieder schwärmte er ihr von seiner Frau vor – jedes Mal brach er ihr dabei das Herz, bis sie schließlich aufgab und versuchte, ihn weiterhin nur als guten Freund anzusehen. Von Woche zu Woche bekam sie das besser auf die Reihe, bis der Schmerz fast verschwunden war, wenn er wieder einmal das Thema auf seine Ehe lenkte. Doch diesmal setzte er ihrer verzwickten Lage die Krone auf, in dem er ihr eröffnete, dass seine Frau ein Kind erwartete.
Jetzt kannst du’s alle Mal vergessen!, dachte sie. Bis jetzt. Vor zwei Tagen erst war seine Frau zu ihr ins Büro hereingeschneit und hatte ihr klar gemacht, dass sie nicht weiterhin versuchen soll einen Keil zwischen die beiden zu treiben. Dabei wollte sie das doch gar nicht mehr. Bei der Diskussion fiel jedoch ein wichtiger Satz: „Ich habe das Gefühl, dass mein Mann mehr Zeit mit ihnen verbringt, als mit mir“, hatte Fiona, so hieß sie, gesagt.

Und gerade in diesem Moment ging ihr ein Licht auf, warum Pierre sie so lange mit seinem treuen Hundeblick anstarrte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte es also tatsächlich geschafft! Ausgerechnet jetzt, wo sie es gar nicht mehr wollte. Oder hatte sie doch noch Gefühle für ihn?
„Was wolltest du mir vorhin noch mal sagen?“, fragte Pierre schließlich. Sie sah ihm an, dass er sich unheimlich konzentrieren musste, um überhaupt einen Ton herauszubringen. Sollte sie etwa mit ihm spielen?
Nein, der Arme hat jetzt schon genug „gelitten“. Gib ihm lieber wieder die Chance, sich zu erholen. Den Rundumschlag kannst du später noch starten, dachte sie und sie begann abermals zu grinsen.
„Dass ich wieder weiß, woher ich Georg von Klavsen kenne“, sagte sie gelassen.
„Und?“ Pierre schien erstaunt – er hatte sie vorhin also wirklich nicht gehört. Schon seltsam, wie schnell sich manchmal alles ändern konnte...

„Meine Schwester Yvonne ist doch mit Johannes Simon verheiratet...“
„Ja, und?“, fragte Pierre. Er erkannte keinerlei Zusammenhang zwischen Georg von Klavsen und Tanjas Schwager Johannes Simon, von dem er bisher nur ein paar schnippische Bemerkungen zu hören bekam. Tanja verstand sich mit ihrer älteren Schwester anscheinend nicht sonderlich gut.
„Ja, lass mich doch mal ausreden.“ Pierre bemerkte, dass sie dabei schon wieder Lächeln musste. Wusste sie etwa, dass er immer wieder etwas sagen musste, um sich von ihrer Schönheit abzulenken, damit er sich überhaupt auf die Arbeit konzentrieren konnte? Moment mal – hier oben war niemand, der sie überwachte – hier war, um genau zu sein, überhaupt niemand...
„Also, dieser Johannes Simon hat so weit ich weiß noch zwei Geschwister. Einen kleinen Bruder und eine große Schwester – er ist glaub ich so Mitte zwanzig und heißt Fabian, allerdings hab ich ihn noch nie gesehen. Du weißt ja, dass ich die Familie Simon kaum kenne. Yvonne hab ich auch erst an den Weihnachtsfeiertagen das letzte Mal gesehen – wir haben uns ja nie wirklich gut verstanden, aber das ist ein anderes Thema. Wie gesagt, Johannes hat auch noch eine große Schwester, die schon über vierzig sein dürfte. Keine Ahnung, wie diese großen Altersunterschiede zustande gekommen sind, aber die Kinder stammen angeblich alle aus ein und der selben Ehe. Aber frag mich ja nicht, wer die Eltern sind und ob die überhaupt noch leben. Von denen hab ich nämlich noch nicht mal was gehört. Na ja, auf jeden Fall heißt diese Frau Isabel, war früher Model und mit diesem steinreichen Manager aus Luzern verheiratet – wie hieß der noch mal?“
Pierre hatte ihr bis hier hin aufmerksam zugehört. Doch jetzt ging ihm ein Licht auf. Er ahnte schon, woher Tanja diesen Georg kannte.
„Du meinst den Gruber Fall. Warte, der hieß Richard Gruber. Meyer hat den Fall bearbeitet, weil nicht sicher war, ob diese Isabel was mit seinem Tod zu tun hatte.“
Tanja schaute etwas verdutzt, fast schockiert drein – wahrscheinlich hatte sie Angst, dass sich ihre große Schwester mit dem Bruder einer Mörderin verheiratet hatte.
„Keine Sorge, da ist nichts rausgekommen. Das waren alles nur Spekulationen, vor allem aufgrund des Erbes, was Isabel damit von Gruber bekommen hat. Allerdings war Richard Gruber auch schon sehr alt und die beiden hatten einen Sohn, diesen Radsportler Alexander Gruber, der jetzt dieses Internat gegründet hat. Am Wochenende war übrigens dieses Nachwuchsrennen – das war ja mal Hammer, wie der eine in der U19-Klasse die anderen in Grund und Boden gefahren hat – der hat echt Talent. Warst du eigentlich auch da?“
„Nein, ich war doch mit meinen Eltern in Bern, das hab ich dir doch erzählt, außerdem ist das jetzt total unwichtig“, winkte Tanja gelangweilt ab.
„Ja, das stimmt allerdings.“

Hätte Pierre Besson auch nur ein winziges Zeichen bekommen, dass er bei diesem Jungtalent mit dem Namen Andreas Wagner, der ihm gerade entfallen war, auf der richtigen Spur gewesen wäre, er hätte es wohl nicht beachtet. Selbst er, der geniale Kommissar, der er zweifellos war, konnte solche Zusammenhänge nicht erschließen. So sollten die beiden einen beschwerlichen Umweg einschlagen, um eine erste heiße Spur in diesem Fall zu bekommen. Dabei hatten sie die Leiche immer noch nicht gefunden.

Hatte Georg sein Handy vielleicht nur über die Klippe geworfen, um einen falschen Verdacht zu erzwingen? Wollte er Zeit gewinnen, um aus seinem Leben fliehen zu können?
Pierre wusste nicht, warum und wieso ihm diese Fragen plötzlich durch den Kopf geschossen waren, doch sie zwangen ihn dazu, kurz inne zu halten. Vielleicht sollten sie doch erst mal nach dem Handy suchen, bevor sie hier völlig falsche Mutmaßungen anstellten und Isabel von Klavsen erneut von der Polizei fälschlicherweise verdächtigt wurde.
Als er das Tanja erzählte, war sie sofort damit einverstanden auf dem Weg diese Gedanken weiterzuspinnen. Sie folgten dem Bergpfad am Hang entlang hinunter in das schmale Tal.

„Um auf Isabel Gruber zurückzukommen“, fing Tanja nach ein paar Minuten wieder an. „ Sie hat vor kurzem Georg von Klavsen geheiratet., da bin ich mir ganz sicher. Ich glaub ich hab die beiden vor zwei oder drei Jahren auf irgendeiner Familienfeier gesehen. Da waren aber so viele Leute, dass ich gar kaum mit denen geredet hab.“
„Das hab ich mir schon gedacht“, meinte Pierre. Dennoch war es besser noch mal die Bestätigung aus Tanjas Mund zu hören – zum Glück lief er wieder voraus, sonst hätte er wahrscheinlich keinen Fuß vor den anderen setzen können.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Warum hatte er das nur vergessen? Was war bloß mit ihm los? Er war glücklich verheiratet, er erwartete ein Kind, warum hatte ihm Tanja plötzlich nur so die Augen verdreht, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte?
„Also, falls wir einen Toten haben, dann können wir Isabel von Klavsen schon mal ausschließen. Erstens war sie seine Ehefrau, aber das war Kommissar Meyer beim Fall Richard Gruber auch schon egal, also ist das diesmal auch kein ,Alibi’ – allerdings hat sie doch die Vermisstenanzeige aufgegeben, oder? Ich hab Meyer nicht so ganz zugehört, als er uns mit dem Suchen beauftragt hat, wie der genaue Stand ist...“
„Mensch, Pierre, was ist bloß los mit dir?“, lachte Tanja. „Sicher hat sie das. Nur, ein wenig spät, findest du nicht?“
Pierre errötete. Ja, sie spürte es offensichtlich – dabei gab er sich doch soviel Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Allerdings hatte sie in dem Punkt Recht, dass Isabel von Klavsen etwas spät damit begonnen hat, ihren Mann zu suchen. Mal sehen, was bei einem Verhör mit Meyer persönlich herauskommen würde. Das beherrschte sein Vorgesetzter wirklich perfekt, um nicht zu sagen, dass er ein Genie auf diesem Gebiet war.
„Du hast Recht“, sagte er schließlich. „Aber jetzt lass uns erst Mal suchen. Nicht, dass wir uns wirklich umsonst solche Gedanken gemacht haben. Wobei ich meine, dass an der ganzen Sache schon irgendetwas faul ist, das spür ich einfach.“
„Dann sollten wir nicht allzu lange suchen müssen.“

Wie Recht Tanja damit doch hatte. Pierres Gespür für einen angebrachten Verdacht hatte ihn noch nie im Stich gelassen und diesmal sollte es nicht anders sein.
Nach einer Dreiviertelstunde erreichten sie die Talsohle und folgten wieder dem GPS-Signal. Schließlich lotste sie das kleine Gerät durch den Wald zum Fuße der Steilwand. Umso näher sie dem nackten Fels kamen, desto spürbarer wurde die Aufregung. Sie sprachen jetzt kaum noch ein Wort. Stattdessen sahen sie sich ständig um, als ob der Mörder oder der Tote persönlich hinter ihnen auftauchen könnte. Zwar war um die Hütte hier unten im Tal schon etwas mehr Betrieb auf den Wanderwegen, doch jetzt waren sie wieder ganz allein in der Wildnis der Berge unterwegs. Zum Glück waren sie zu zweit – alleine hätte es Pierre hier keine Sekunde lang ausgehalten, zumal die Sonne jetzt auch noch von ein paar Wolken verdeckt wurde. Ein kalter Schauer jagte ihm über dem Rücken, als das GPS-Gerät in seiner Hand zu piepsen begann. Das Signal, dass das Handy im Umkreis von fünf Metern zu finden sein müsste, so genau war die Technik dieses Gerätes dann doch noch nicht.
Er blickte auf und erkannte ungefähr zehn bis fünfzehn Meter vor sich die Felswand. Die Baumwipfel über ihm wiegten sich im Wind. Es frischte auf. Zu seinen Füßen breitete sich ein Dickicht aus allerlei Pflanzen und Büschen aus, was wohl vom feuchten Fels dahinter herruhte. Zu seiner Erleichterung konnte er aber nirgends einen leblosen Körper entdecken. Weder eines Tieres noch eines Menschen. Doch das Handy würde er in diesem Gestrüpp auch nicht so schnell finden, wie er erhofft hatte. Zudem war der Waldboden weich und sumpfig – ein wenig Wasser lief am Felsen herunter. Anscheinend hatte selbst hier vor noch nicht allzu langer Zeit Schnee gelegen. Das könnte schon mal eine Erklärung dafür sein, dass das Handy und sein Besitzer Georg, falls er überhaupt hier unten liegen sollte, während des Sturzes getrennte Wege gegangen sein sollten – der Boden war so weich, dass das Gerät wohl kaum einen Schaden genommen hätte. Allerdings könnte es ganz gut eingesunken sein. Und dann würde es bei der nahen Felswand, dem dichten Wald und dem Schlamm dazwischen wohl kaum noch einen Netzempfang haben können. Hatte er etwas übersehen? Ein kleines Detail war ihm sicherlich entgangen, was sicherlich daran lag, dass er eigentlich an nichts anderes mehr denken konnte, außer an die schönen Beine von Tanja.
„Denkst du was ich denke?“, fragte sie. Pierre spürte wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
Nein, das würde sie sicherlich nicht!, dachte er. Er versuchte sich daran zu erinnern, über was er davor gegrübelt hatte.
„Ich denke schon“, fing er an. „Das Handy muss zusammen mit von Klavsen hier runter gefallen sein, weil es sonst hier im Schlamm versunken wäre und somit keinen Empfang gehabt hätte.“
„Ja, so ähnlich“, lachte sie. „Allerdings versinkt es gleich wirklich im Boden, wenn du deinen Fuß noch länger da stehen lässt.“
„Oh!“ Pierre machte einen Schritt zurück und hob das Handy auf.
Nobel, nobel, dachte Pierre – und das obwohl es jetzt total verdreckt war. Außerdem war es ausgeschaltet. Hoffentlich hatte er es gerade nicht kaputt gemacht. Wahrscheinlich hatte er Wasser in das Gehäuse gedrückt – heute war wirklich nicht sein Tag. Trotzdem probierte er, es anzuschalten. Es tat sich nichts.
„Akku leer“, meinte er zuversichtlich.
„Ist anzunehmen, ja“, bestätigte Tanja.
Stimmt! Wenn von Klavsen bereits am Freitag verschwunden ist und das Ding hier seitdem liegt, dann war anzunehmen, dass der Akku bereits leer ist.
„So, und wo ist jetzt Georg von Klavsen?“, meinte Pierre etwas verärgert. Er liebte diese Selbstironie.
„Keine Ahnung.“
Sie schauten sich ein wenig um. Drückten ein paar Büsche zur Seite. Nichts. Hier lag niemand und hier hatte wohl auch nie jemand gelegen. Pierre sah sich in seiner Vermutung, dass von Klavsen aus seinem Leben fliehen wollte, bestätigt. Warum? Das würde er schon noch herausfinden können, denn eigentlich hatte dieser Mann alles was das Herz begehrt. Seine Frau war steinreich. Er musste sich eigentlich um nichts mehr kümmern.
Er zuckte zusammen. Sein Handy klingelte. Auch Tanja war kurz aufgefahren. Pierre schüttelte über seine eigene Nervosität den Kopf. Die Umstände waren aber auch mysteriös.
Meyer rief an. Was wollte der denn jetzt?
„Hallo?“
„Mahlzeit Herr Besson.“ Pierre konnte ihn Schmatzen hören. „Haben sie das Handy schon gefunden?“
„Ja, es liegt in meiner linken Hand“, meinte Pierre etwas genervt. Warum begann Meyer wieder damit, ihn zu überwachen? Er hatte ihm doch vollstes Vertrauen zugesprochen.
„Gut. Ich hab den Besitzer gefunden.“
„Was?!“, rief Pierre. Jetzt verstand er gar nichts mehr. Er schaute hinüber zu Tanja, die ihn fragend anblickte. Bevor er sich wieder in ihren Augen verlor, schaute er schnell weg.
„In ihrer Nähe befindet sich doch eine Berghütte. Sie wurde erst vor wenigen Tagen zur Sommersaison wieder eröffnet. So und jetzt kommt’s: Der Wirt hat heute Morgen den Wald durchkämmt, der zur Hütte gehört. In diesem Wald dürften sie jetzt stehen. Um genau zu sein, dürften sie genau an dem Punkt stehen, wo dieser arme Mann die Leiche eines Bergwanderers entdeckt hat. Am Telefon hat er mir gesagt, dass er ihn unterhalb einer Felswand fand, wo schon viele Leute abgestürzt sind, also der Mann hat schon Routine in so was und hat natürlich sofort die Polizei verständigt. Sinnvollerweise hat er die Leiche aber zu sich in die Hütte geschleift. Ich weiß auch nicht, wie man so dämlich sein kann, aber eine Spurensicherung können wir jetzt schon so gut wie vergessen.“ Meyer wirkte verärgert.
Dagegen hatte Pierre ein mulmiges Gefühl, da er wohl tatsächlich genau auf dem Flecken Erde stand, wo noch vor wenigen Stunden eine Leiche gelegen hatte. Jetzt wusste er, warum die Erde hier so rötlich lehmig war. Das war nämlich gar kein Lehm, sondern geronnenes Blut. Es war ihm nicht aufgefallen, da es so wenig war. Beim Aufprall nach einem Sturz holte man sich in der Regel eher innere Verletzungen als äußere.
„Und da sie ja gerade in der Nähe der Hütte sind, sollten sie wissen, was sie zu tun haben“, fuhr Meyer seine Rede fort.
„Sicher. Könnten sie aber trotzdem schon mal die Kollegen herbestellen? Laut Karte gibt es einen geteerten Fahrweg zur Hütte“, antwortete Pierre.
„Ja, schon unterwegs. Bis heute Abend Herr Besson. Das wird sicherlich noch ein langer Tag für sie werden. Und einen schönen Gruß an Frau Hagen.“
„Ja, werd ich ausrichten. Bis heute Abend Herr Meyer.“
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751489Beitrag Andy92
12.1.2009 - 22:47

Noch am selben Nachmittag wurde Isabel von Klavsen von Oberkommissar Meyer in den jüngsten Erkenntnissen unterrichtet und, was noch viel wichtiger für Pierres Arbeit war, zuvor verhört, ohne zu wissen, dass ihr Mann bereits Tod war. Es war herzzerreißend wie in ihren Augen neue Hoffnung aufflammte, als ihr wieder einfiel, dass ihr Mann möglicherweise auf einer Bergtour unterwegs gewesen sein könnte, da er so etwas mal erwähnt hätte. Umso überraschender war ihre Reaktion auf die schreckliche Nachricht, die ihr Meyer schonend beibringen musste. Anscheinend hatte sie es schon geahnt oder zumindest befürchtet. So leid es Pierre auch tat, doch damit rückte sie noch weiter in sein „persönliches Beobachtungsfeld“ vor, wie er seinen Verdächtigenkreis getauft hatte. Leider brachte ihn die Aussage von Frau von Klavsen nicht sonderlich weiter. Sie bestätigte lediglich seine und Tanjas Vermutungen. Bis zum Sonnenuntergang hatten sie Georgs letzten Tag bereits ohne große Hilfe von Außen rekonstruiert:
In seinem Rucksack hatten sie zwei Tickets einer Bergbahn in der Nähe gefunden – von zwei Erwachsenen. Schon hatten bei Pierre die Alarmglocken geschellt, dass von Klavsen womöglich eine Geliebte hatte. Viktoria von Klavsen, seine Ex-Frau, und seine Witwe Isabel bestätigten seine außerordentliche Attraktivität Spätnachmittags per Telefon – und, dass sie ständig das Gefühl gehabt hätten, von ihm betrogen worden zu sein. So, wie die beiden ihn beschrieben hatten, musste er ein ziemlicher Hundskerl gewesen sein.
Nun war die Zeit gekommen Isabel nach einem Alibi zu fragen. Leider war Pierre bei ihr auf einer völlig falschen Fährte, denn sie hatte zusammen mit ein paar Freundinnen eine Theatervorstellung besucht – wofür es Dutzende Zeugen gab –, die bereits um fünf Uhr Nachmittags begonnen hatte und somit eine halbe Stunde vor Georgs Tod. Für diesen Zeitpunkt gab es leider nur eine zuverlässige Quelle, denn eine medizinische Bestimmung war nach so vielen Tagen ausgeschlossen. Tanja hatte die Gehzeit von der Bergbahn zur Unglücksstelle berechnet und war zu dem Ergebnis gekommen, dass Georg eben ungefähr um halb sechs zu Tode gestürzt war.
Jetzt begann die Suche nach Georgs schleierhaften Begleitperson an jenem Tag. Erster Anhaltspunkt war die Videoüberwachung der Bergbahn. Georg und eine blonde Frau ungefähr in seinem Alter stiegen aus einem Wagen, dessen Kennzeichen förmlich in die Kamera schrie. Pierre begann aber erst zu jubeln, als er feststellte, dass das Auto nicht auf Georg von Klavsen, sondern auf eine gewisse Katharina Wagner aus Deutschland zugelassen war. Auf dem Video war es deutlich zu sehen, wie die beiden zusammen an die Kasse gingen, zwei Tickets lösten und gemeinsam in die wartende Gondel stiegen. Und dann, um sieben Uhr am Abend, kam sie mit der letzten Gondel herunter gefahren. Aber ohne Georg von Klavsen! Sie schien ein wenig besorgt und verwirrt zum Auto zu schreiten und fuhr weg. Doch es war eindeutig – es konnte gar keinen anderen Schluss geben!
Das war sie! Das war die Mörderin von Georg von Klavsen! Pierre konnte es gar nicht fassen. Einen Tag hatte er gebraucht! Einen einzigen Tag! Der Fall war so gut wie gelöst. Es war gegen halb acht, als er Meyer und Tanja informierte. Die Fahndung war draußen. Die deutschen Kollegen würden sie hoffentlich zuhause antreffen, dann würde alles ein schnelles Ende nehmen. Es war angerichtet...

Die Küchenuhr an der Wand zeigte kurz vor acht.
„Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum ich nicht in dieses Internat darf!“, schrie ich meiner Mutter ins Gesicht. Es war zum verzweifeln. Ich wollte unbedingt dort hin. Wenn möglich sofort, doch sie wimmelte immer wieder ab – ohne Erklärung.
„Schrei hier nicht so rum! Ich hab es dir schon oft genug gesagt, dass es einfach nicht geht. Akzeptier das endlich!“ Sie wendete sich von mir ab.
Nein, heute Abend wollte ich mich nicht so schnell geschlagen geben. Vor zehn Minuten hatte ich mit Christine telefoniert. Sie hatten ihren Vater gefunden – Georg. Ich wusste gar nicht, dass er so hieß. Georg, der Name sagte mir etwas. Doch zunächst war ich nicht dahintergekommen. Dann hatte sie erzählt, wo und wie sie ihn gefunden hatten: Er war von einer Klippe gestürzt – tot. Sie wirkte zu meiner Überraschung sehr gefasst. Hatte sie denn gar keine Hoffnung mehr gehabt? Gut, es stand schlecht um ihn, aber trotzdem – so schnell gibt man doch nicht auf.
Obwohl – wie gut hatte sie ihn eigentlich gekannt? Sven war fünf, als sein Vater die Familie verlassen hatte – demnach dürfte Christine vier Jahre alt gewesen sein. Also, hatte sie von ihrem Vater gar nicht so viel mitbekommen. Doch später soll er seine Kinder ja regelmäßig besucht, oder zumindest einen Kontakt hergestellt haben. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Christines Beziehung zu ihrem Vater so gefestigt war, wie die zwischen mir und meinem Vater. Und im Gegensatz zu den mysteriösen Umständen, mit denen mein Vater verschwunden war, ist der Tod ihres Vaters endgültig. Ihre Stiefmutter Isabel hatte ihren Mann eindeutig identifizieren können. Womöglich wollte Christine auch keine Schwäche vor mir zeigen, auch wenn ich das überhaupt nicht verstehen könnte.
Mein Gott! Von Sven hatte ich heute noch gar nichts gehört. Wie würde es ihm wohl gehen? Ich hätte so eine endgültige Nachricht wohl nicht ertragen können. Wenn ich mich recht erinnerte, dann schwamm bei mir schon immer das Misstrauen mit – aber das tat jetzt nichts zu Sache.
Bei mir ging während des Telefonats mit Christine ein Licht auf. Wobei diese Beschreibung noch viel zu positiv dafür ist, was ich eigentlich empfunden hatte: Angst, richtige Angst, Verabscheuung und Verachtung. Ich brauchte Gewissheit. Ich musste es einfach wissen, was meine Mutter mit dem Tod von Georg von Klavsen zu tun hatte! Und dennoch war es ein einziger Alptraum! Wenn meine Mutter den Vater meines besten Freundes und meiner Freundin...dann – Gnade ihr Gott!
„Mama, warum?! Warum willst du mich nicht auf das Internat gehen lassen? Das Angebot ist eine einmalige Chance! Das wäre ein Meilenstein in meiner Karriere! Ich würde eine sportlich und schulisch perfekte Ausbildung bekommen und womöglich sogar einen Profivertrag mit neunzehn, zwanzig Jahren. Aber das Angebot gilt nur noch bis Freitag. Bis dahin muss ich mich entschieden haben! Verbau mir das bitte nicht! Außerdem kostet es dich keinen Cent! Ich krieg eine Art Stipendium, weil ich das Rennen gewonnen hab! Begreif das doch endlich – du müsstest dich um nichts mehr kümmern! Du wärst mich los.“
Hatte ich das gerade laut gesagt? Meine Mutter drehte sich mit entsetztem Gesicht zu mir um. Sie schüttelte fassungslos den Kopf.
„Warum sollte ich dich, meinen einzigen Sohn und das einzige, was mir noch bleibt, loshaben wollen?“
Das war allerdings ein Argument. Doch es zählte bei mir nicht. Nicht mehr. Mein Vater war am Leben! Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche! Ich spürte es – an jedem Tag, in jeder Stunde, in jeder Minute, ach was, in jeder Sekunde spürte ich es. Aber warum tat sie das nicht? Steckte sie da am Ende auch noch dahinter? Ich konnte ihr nicht mehr trauen. Sie war eine eiskalte Mörderin! Die Mörderin des Vaters meiner Freundin und meines besten Freundes noch obendrein! Ich empfand gar nichts mehr für sie – außer Verachtung und Ekel. Ich hatte nicht einmal Angst einen Schritt auf sie zuzugehen, obwohl sie das große Küchenmesser vom Spülen in der rechten Hand hielt. Sie würde mir nichts antun können – ihrem eigenen Sohn! Niemals!
„Mama, ich frage dich das jetzt nur einmal“, begann ich mit gedämpfter, ja fast flüsternder Stimme. Ihr Gesichtsausdruck nahm gelangweilte Züge an, was mich nur noch mehr provozierte. Sie hatte gar keinen Respekt vor mir – gar keine Achtung! Trotzdem würde sie mir nichts antun können. Das spürte ich. „Vorhin hat mich Christine angerufen. Du weißt ja, ihr Vater ist verschwunden. Die Polizei hat ihn jetzt tatsächlich gefunden – tot.“
„Oh mein Gott! Das tut mir so Leid!“, rief sie und schlug die freie Hand vor den Mund. Beinahe hätte ich ihr die Schauspielerei abgekauft, doch letztendlich wirkte es doch zu aufgesetzt. Sie hatte sich in den letzten Monaten so sehr verändert.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich erinnerte mich an eine Szene vor unserem gemeinsamen Urlaub in den Sommerferien, wo sie schon mal so „komisch“ aufgetreten war. Das fiel mir erst jetzt wieder auf. Trotzdem war es unheimlich wichtig. Jetzt bestand für mich kein Zweifel mehr – sie hatte nicht nur Georg von Klavsen, sondern auch meinen Vater auf dem Gewissen – oder entführt, irgendwas halt, und das Warum ist mir auch egal, denn jetzt empfand ich ihr gegenüber nur noch eines: Rache!
„Rate mal wo. Auf einem Berg – er ist offenbar von einer Klippe gestürzt. Und rate mal wann...“, ihr Gesicht fiel in sich zusammen – sie wirkte wie versteinert, „...am Freitagabend gegen halb sechs Uhr Nachmittags. Ich hab’s vorhin mit einem Routenplaner im Internet überprüft – von einer Bergbahn in der Nähe braucht man genau eine Stunde zu unserer Ferienwohnung! Du warst gegen acht Uhr da und wolltest mich abholen! Bleibt also noch eine halbe Stunde, um zur Bergbahn zurückzulaufen! Dein Geständnis, noch dazu, was ich zuerst gar nicht glauben wollte. Aber jetzt wird mir so einiges klar! Passt doch alles wunderbar, nicht!? Stimmt alles hundertprozentig! Ach, hab ich dir schon erzählt, dass Christines und Svens Vater mit Vornamen Georg heißt und vor einigen Jahren in die Schweiz ausgewandert ist!? Zufällig genau in die Region, wo wir letzte Woche waren!“, schrie ich. Meine Spucke sprühte direkt in ihr Gesicht, doch sie zeigte keinerlei Regung. Mit jedem Wort war ihre Miene gefühlsloser geworden. Jetzt stand sie kreidebleich vor mir – ihre Hände zitterten – ich sah es am Messer. Ich hatte genau ins Schwarze getroffen! Und trotzdem war ich den Tränen nahe. Eigentlich hatte ich erwartet, ihr das ohne jegliche Gefühlseinflüsse an den Kopf zu werfen – doch immerhin war sie meine Mutter! Das wirft man nicht so einfach weg! Es kostete mich sehr viel Überwindung überhaupt noch ruhig stehen bleiben zu können und auf eine Antwort zu warten. Am liebsten hätte ich ihr den Rücken zu gewandt, denn die Wahrheit kannte ich eh schon. Jetzt machte ich mir mehr sorgen um das Messer in ihrer Hand, dessen schwarzen Griff sie verkrampft umklammerte. Sie bebte. So langsam schien sie wieder zu sich zu kommen.
„Nein“, flüsterte sie. „Nein. Wir kannten unsere Nachnamen nicht. Er hieß nur Georg und ich nur Katharina. Ich habe Georg – umgebracht“, sie erschauderte bei dem Wort, „nicht den Vater von Sven und Christine.“
Sie konnte kaum sprechen. Aber war das wieder nur Schaumschlägerei? Ich konnte sie einfach nicht mehr lesen. Zwischen uns hatte sich ein grauer Schleier gelegt, den ich wohl nie wieder in meinem Leben durchdringen könnte.
„Das glaub ich dir nicht“, flüsterte ich und musste schlucken. Meine Augen füllten sich mit Wasser. Über ihre Wangen rannen bereits die Tränen.
„Irgendwann hab ich herausbekommen, dass er von Klavsen heißt“, stammelte sie. „Georg von Klavsen – so hieß er. Damals, als wir uns für einen Tag gesehen hatten. Und das Kind – er wollte es einfach nicht glauben. Er wollte einfach nicht glauben wer ich bin – da hab ich ihn da runter gestoßen. Ich war wütend – sehr wütend.“ Sie schaute zu mir auf. Sie war ruhig geblieben. Doch ich musste erneut schlucken. Mir steckte ein schwerer Kloß im Hals. Einen so dicken und schmerzhaften, wie ich ihn noch nie gehabt hatte. Ich musste zwei, dreimal schlucken, um überhaupt wieder ein Wort sprechen zu können.
„Was...was für ein Kind?“
Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Ich hab alles verloren – alles verloren, Andreas.“
Sie nahm das Messer in beide Hände und ich wich panisch einen Schritt zurück. Doch sie richtete es nicht auf mich...
Für einen kurzen Augenblick hielt sie inne, als sie die Klinge auf sich gerichtet hatte und blickte angsterfüllt, als ob sie den Schmerz bereits spürend könnte, auf das silberglänzende Metall. Sie biss sich auf die Zähne und holte aus! Ich reagierte blitzschnell und schlug ihr das Messer mit dem Fuß aus der Hand – es flog irgendwo hin – mir war es egal wo es jetzt war, Hauptsache aus der Reichweite meiner Mutter, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Fußboden krümmte und ihre Hand zwischen die Beine presste.
Sie wollte sich gerade umbringen! Sich allen Konsequenzen entziehen. Ihrer gerechten Strafe, die sie irgendwann noch bekommen würde, entfliehen – und das vor mir, ihrem eigenen Sohn! Die Verachtung, wich dem Zorn, und der Zorn wich dem Hass! Hass und Rache sind eine hochexplosive Mischung!
Plötzlich schimmerte Licht durch den zugezogenen Vorhang herein – blaues Licht. Ein Auto hielt vorne auf der Straße – man hörte Türen zuschlagen und eilige Schritte die Einfahrt hinaufhassten. Dabei flackerte das blaue Licht in rhythmischen Abständen durch den Vorhang. Die Polizei war da – aber warum? Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet! Alles kam völlig unerwartet! Und doch im richtigen Moment.
Los nimm die Chance wahr, sagte ich mir.
„Steh auf!“, reif ich. Als sie nicht reagierte, packte ich sie am Arm und zog sie wieder auf die Beine. Es klingelte.
„Ich brauch dich noch – so einfach kommst du dem ganzen nicht davon!“, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Plötzlich schien der Schmerz in ihrer Hand wie verflogen, ja, als ob er nie da gewesen wäre. Auf einmal war sie hellwach und blickte mir direkt in die Augen.
„Hör zu! Vergiss einfach, was ich gerade getan hab. Es gibt noch eine andere Lösung“, sagte sie mit beherrschter Stimme. Sie hatte den Ernst der Lage anscheinend sofort begriffen. Ich hatte gar nicht gewusst, wie schnell meine Mutter handeln konnte – und wie souverän sie das tat – es war beängstigend. „Du weißt von nichts, verstanden. Ich werde mir was einfallen lassen, um da wieder rauszukommen.“
Ich schüttelte den Kopf. Nein! Da wird sie nie rauskommen! Da soll sie auch gar nicht mehr rauskommen – sie hat es verdient!
„Und im Gegenzug, schicke ich dich in dieses Internat, wenn dir so viel daran liegt. Aber dafür, darfst du mich auf keinen Fall in irgendeiner Weise belasten, ja? Wenn nicht, dann kommst du sofort wieder hierher zurück – ich denke das ist klar. Es wird wirklich das beste für uns sein, wenn wir uns nach all dem hier, für einige Zeit nicht mehr sehen müssen.“
Ich war am Ziel. So einfach, war ich ans Ziel gekommen. Beinahe wäre ich in diesem Moment glücklich gewesen. Und doch sah ich die einfachere Lösung nicht, meine Mutter ins Gefängnis zu stecken, wo sie hingehörte und somit sie, als meinen Vormund zu verlieren – ich sah es einfach nicht. Sie hatte immer noch so viel Macht über mich – ich vertraute ihr also doch noch.
„Polizei! Machen sie die Tür auf!“, rief jemand von draußen und hämmerte gegen die schwere Haustüre. Dann klopfte jemand gegen das Küchenfenster – zum Glück waren die Vorhänge zugezogen!
In diesem Augenblick fiel mir nichts besseres ein, als langsam zu nicken. Und dann nach einem kurzen Augenblick, sagte ich ganz unwillkürlich und mit fester, bestimmender Stimme: „Mama, ich weiß, dass Papa noch lebt.“
Sie schaute mich völlig verwundert an. Jetzt schien sie vollkommen durcheinander zu sein. Sie brauchte zwei, drei Sekunden um ihre Schauspielerei fortzusetzen, mir mit einem Lächeln auf den Lippen mit der Hand durchs Haar zu fahren und dann in den Flur zur Haustüre zu gehen. Und dennoch hatte dieser kurze Augenblick ausgereicht, um aus ihrem perplexen Gesichtsausdruck abzulesen, dass ich die Wahrheit gesprochen hatte...
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6751522Beitrag Andy92
13.1.2009 - 15:50

Vielen Dank für eure Stimmen bei der Monatswahl! Ich bin echt überglücklich, dass ich es wieder geschafft hab, das Forum zu überzeugen.
Meine Glückwünsche möchte ich natürlich auch an udo_bölts aussprechen, der es, wie ich finde, allemal verdient hätte, den Titel alleine zu bekommen. Vielleicht sollte man doch mal über zwei Monatsawards nachdenken: Eine für die klassische Form des AAR und eine für die sogenannten Radsportgeschichten.
Bild
Bild
Bild

Andy92
Beiträge: 468
Registriert: 29.6.2008 - 19:53
Kontaktdaten:

Beitrag: # 6752493Beitrag Andy92
21.1.2009 - 22:14

Sorry, dass es der letzte Teil jetzt schon wieder etwas länger zurück liegt. Evtl. schon morgen, aber ganz sicher im Laufe dieses Wochenendes werden weitere Teile erscheinen.
Bild
Bild
Bild

Benutzeravatar
mad
Beiträge: 201
Registriert: 13.8.2008 - 10:10

Beitrag: # 6753109Beitrag mad
26.1.2009 - 14:05

Andy92 hat geschrieben:Evtl. schon morgen, aber ganz sicher im Laufe dieses Wochenendes werden weitere Teile erscheinen.
*räusper* :roll:
"Von all den Dingen die mir verloren gegangen sind, habe ich am meisten an meinem Verstand gehangen..." - Ozzy Osbourne

Antworten