(Musik)
Angriff! Und dieser sah stark aus. Marc kurbelte sofort hinterher, konnte die Lücke aber nicht schließen. Es war ein Peugeot-Trikot. Hatte Peugeot nicht schon zwei Fahrer vorne? Anscheinend wollten sie heute wirklich den Etappensieg erringen.
Er musste beißen, die Schmerzen ignorieren und schon gar nicht an die Strecke nach diesem Berg denken, aber er blieb dran. Vielleicht 30, 40 Meter lag er hinten. Er drehte sich kurz um. Eine ganze Reihe an Fahrern suchte den Anschluss, aber scheiterten. Und er sah Emirates und Lavazza-Fahrer, die sich nach vorne schoben. Das Rennen hatte also wirklich begonnen.
Einer der Gründe, warum er die entscheidenden Angriffe erst später erwartet hätte, waren die fehlenden Kurven hier unten. Der andere war die kurze Abfahrt von vielleicht 500 Meter. Es ging nur leicht bergab, aber ein reiner Bergfahrer konnte hier gegen ein Feld unmöglich bestehen. So wenig wie der Peugeot vor ihm sich gegen ihn durchsetzen konnte. Aaron hatte eben doch Rouleur-Qualitäten. Er fuhr an seinem Kontrahenten vorbei, schaute kurz zurück und setzte sich dann vor ihn.
Es war Laurent Farine! Der Franzose war eigentlich eher ein Bergfahrer. Und dazu erst 22 Jahre alt. Marc schüttelte den Kopf und bremste ab. Er pilotierte sein Rad um die enge Kurve, hinein und hinaus aus der Kreuzung, welche den eigentlichen Beginn des Berges markierte. Die Straßenqualität wurde augenblicklich schlechter. Er stand auf, brachte sein Rad wieder auf Touren und setzte sich dann mit seinem typischen, verkniffenen Gesichtsausdruck wieder hin. Die Schlacht konnte beginnen.
„Farine? Verdammte Scheiße!“ Er brüllte, er tobte. „Gérard, verdammt noch mal. Die sollen die Gruppe zusammen halten. Farine hat angegriffen. Bis zum Gipfel ist er dran. Kurz vorher soll er die Gruppe sprengen, dann können sie sich zusammen tun.“ Er fluchte wieder. Der Mechaniker im Fond, ein gottesfürchtiger Mann, schüttelte den Kopf und sah nach draußen. Man konnte schon in die Hölle kommen wenn man bei so etwas nur zuhörte. Zum Abschluss hieb Quarzo seine Faust mit aller Wucht gegen die Mittelkonsole. Das Radio sprang an.
„Dieser verrückte Affe. Ich hätte ihn nie mit zur Tour nehmen sollen. Wenn er sich auf die Dauphinee, die Romandie oder so etwas konzentriert hätte... Er kann sowas schon gewinnen. Aber hier, bei der Tour. Dieser...“ Er suchte kurz nach einem Wort. Der Mechaniker hielt sich die Ohren zu und schaute dann doch erschrocken drein.
Er hatte keine Lust mehr zu warten. Dieses ganze Taktieren ging ihm gehörig auf die Nerven. Er fuhr aus der Reihe, nickte auffordernd und grüßend zugleich hinüber und beschleunigte dann hügelauf. Drei Fahrer blieben an ihm dran. Er wusste das er nicht noch einen Angriff würde hinlegen müssen. Er ignorierte das hektische Geschubse und Zucken hinter sich und versuchte, seinen Rhythmus wieder zu finden.
Da war Laurent! Gérard sah ihm im Rückspiegel. Er zog schnell nach rechts, so dass der Franzose auf seiner Seite am Auto vorbei musste. Als der Fahrer auf der Höhe des Kofferraums war griff sich Gérard eine Trinkflasche und hielt sie wie eine Schranke aus seinem Fenster hinaus.
„He Laurent, klasse Leistung.“
Der Franzose schnappte sich die Flasche ohne sich wirklich daran fest zu halten.
„Wie weit vorne?“ Kam gepresst seine Antwort.
„Fast 40 Sekunden. Luc ist schon da vorne. Etwa 150 Meter. Vergiss nicht: Es geht heute um sein Gelbes Trikot.“
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen griff Laurent nach der zweiten dargebotenen Trinkflasche, verstaute sie im Rahmen und legte dann einen kleinen Zwischensprint ein. Trotz der kochenden Wut, die sich in seinem Magen zusammenballte, musste Gérard doch annerkennend nicken: Er sah wirklich noch sehr frisch aus. Marc Aaron, der einen kleinen Vorsprung heraus gefahren hatte, musste deutlich beißen um Farines Hinterrad zu halten.
Da kam Laurent heran! Luc konnte ihn hinter sich erkennen. Den Kopf nach hinten gewandt nickte er seinem Teamkollegen zu. Doch das magere, weißliche Gesicht, hinter einer Sonnenbrille teilweise versteckt, blieb ausdruckslos. Luc runzelte die Stirn. Er hatte schon gehört, das Laurent quasi auf eigene Faust eine Attacke gestartet hatte, aber was hatte das mit ihm zu tun?
Es dauerte nicht lange, da setzte sich Marc Aaron wieder an die Spitze der Vierergruppe. Marc Meunier hielt sich am Ende auf, und trotz seiner kürzeren Flucht verglichen mit Luc sah er schon ziemlich angeschlagen aus. Sie waren ganz vorne im Rennen, und die nächsten Verfolger konnte er in den Serpentinen schon kaum mehr ausmachen.
Ein Bewegung zu seiner Rechten ließ ihn erschreckt seinen Kopf drehen. Farine griff an! Schon wieder. Der Franzose schien wirklich die Entscheidung herbei zu sehnen. Luc scherte sofort aus der Reihe aus, bereit, bei einem eventuellen Konter mit zu gehen. Und der Konter kam!
Aaron hatte eine Sekunde gewartet, ob ihm jemand anders den Gefallen tun würde, und schließlich die Geduld verloren. Sein Antritt war bei weitem nicht so stark wie der von Farine, trotzdem tat jeder Tritt weh. Lucs Beine schrien nach einer Pause, nach einem langsameren Tempo. Doch er konnte nicht auf sie hören. Das gelbe Trikot wartete auf ihn.
Keine Schlangenlinien, kein Taktieren. Aaron fuhr wirklich wie der Teufel hier hinauf. Und Farine schien trotz seiner lockeren Fahrweise ein wenig auf sie zu warten. Der Weg ins Ziel war eben doch noch lang.
Wie gebannt blickte Mirko auf den Monitor. Kaum konnte er seine Augen heben um die Strecke zu beobachten. Er hatte nun zwei Fahrer in einer Spitzengruppe, der eine mit großen Chancen auf Gelb, der andere mit guten Aussichten im Etappenfinale.
„Um Gottes Willen, sie MÜSSEN zusammenarbeiten!“ beschwor er den Funk. „Droh ihm nicht, Laurent ist dafür ein zu starker Charakter. Geh einfach davon aus dass die Zusammenarbeit schon beschlossen sei!“
Für den Moment folgten keine weiteren Flüche nachdem er das Mikrofon wieder eingehängt hatte. Der Mechaniker bemerkte aber, wie die Finger seines Chefs am Lenkrad langsam weiß wurden.
Zu Gérards Überraschung funktionierte die Gruppe sehr gut, sobald sie sich kurz unter dem Gipfel wieder vereinigt hatte. Aaron spekulierte wohl darauf das Luc bald nicht mehr konnte und er dann im Finale all seine Erfahrung und Sprintstärke gegen Farine ausspielen konnte.
Die Abfahrt war wiederum recht harmlos gewesen, doch diesmal konnte es sich keiner erlauben nicht absolut volles Risiko zu gehen. In einigen Kurven spritzte Schmutz auf als die Räder bei 80 km/h den Rand der Straße touchierten. Seine Bremsen musste Gérard fast überhaupt nicht benutzen.
Unten dann reihte sich die Straße zwischen den Bergen und dem Schluchsee ein. Bei fantastischem Wetter war der See gefüllt mit zahlreichen Booten, von denen viele Fans das Rennen in einer ganz exklusiven Perspektive verfolgten. Glücklicherweise hatten sie Rückenwind. Noch heute Morgen hatte ihr Mann am See 'wechselnde Winde' gemeldet. Nun schienen sie im Glück zu sein.
Hinein ging es in eine kleine Ortschaft. Hier waren die Straßen voll von Menschen. Für die Fahrer sicherlich ein erhebender Moment, vielleicht Motivation genug, um die allerletzten Kraftreserven anzuzapfen. Und sie mussten es wohl! Am Gipfel hatten sie noch etwas über eine Minute Vorsprung, nach der Abfahrt waren es noch 50 Sekunden gewesen. Und nun, elf Kilometer vor dem Ziel, wurden noch 30 Sekunden vermeldet. Sollte die Flucht auf den letzten Metern noch scheitern?
Immerhin war Fröbe am letzten Berg zurückgefallen, Fresenius seither aus der Führung verschwunden. Aber noch viele andere Fahrer konnten auf den Sieg spekulieren. Die leichte Steigung hinauf nach Rothaus eröffnete viele Möglichkeiten. Aber jetzt, wo der Vorsprung so deutlich kleiner wurde, schienen die Spielchen im Feld wieder zu beginnen.
Es waren nur noch etwa 30 Mann übrig, und viele würden Morgen auf der ersten Hochgebirgsetappe alles geben müssen. Nur wenige Fahrer dort vorne hatten keine Siegambitionen und morgen einen lockeren Tag vor sich.
Als sie Seebrug, etwa vier Kilometer vor dem Ziel, passierten und der Vorsprung noch immer bei etwa 25 Sekunden lag, wusste er, dass sie es schaffen würden. Für Laurent Farine hieß das aber nur dass er seinen Fokus verschieben musste. Weg von der reinen Fluchtarbeit, dem Tempobolzen, hin zu taktischem Fahren.
Er würde angreifen. Bald, sehr bald. Und Luc würde nicht folgen können. Aaron war sein einziger echter Gegner, und so blieb er an dessen Hinterrad. Einmal kurz wechselte er noch durch die Führung, dann ging er in Lauerstellung.
Und gerade, als Aaron sich umschaute nachdem er aus der Führung ausgeschert war, gerade als er realisierte, das die Spielchen begonnen hatten und das er nun auch würde taktieren müssen, gerade da griff Laurent an.
Sie fuhren gerade an einem Waldrand entlang und die wechselnden Lichtverhältnisse zwischen prallem Sonnenschein und dem kühlen Schatten der Bäume machte es für Laurent unmöglich, seine Verfolger im Auge zu behalten. Er musste genau nach Südosten schauen, hinein in die Sonne, die zwischen den Blättern hindurch brach.
So zog er voll durch, jagte am Wald entlang, dann hinaus auf das offene Feld, an einem Bauernhof vorbei. Dann kam eine Kurve, hin zum Hang. Und dort vorne konnte er bereits den Schlussanstieg erkennen.
Er drehte sich um und erkannte, das Aaron sich wieder heran gekämpft hatte. Luc entdeckte er nicht. Farine hörte auf zu treten, fuhr Schlangenlinien, hoffte, das der US-Amerikaner vorbei fuhr. Aber er tat ihm diesen gefallen nicht. Langsam rollten sie auf den Beginn der Steigung zu. Von hinten kam das Feld und kam Luc immer näher. Laurent drehte sich um, erkannte den Rotschopf, der die Straße entlang jagte, die Zunge weit aus dem Mund heraus hängend. Er kämpfte wirklich um Gelb. Die Flame Rouge flog über ihnen vorbei. Der letzte Kilometer begann!
Als er sich wieder auf Aaron konzentrieren wollte war es schon geschehen. Dieser Fuchs hatte seinen Moment der Unachtsamkeit perfekt genutzt und war einen Angriff gefahren!
Nicht umdrehen, nicht umdrehen, einfach nur fahren. Er schwang das Rad mit aller Gewalt unter sich hin und her, versuchte, all seine verbliebenen Kräfte zu mobilisieren. Aber es half nichts. Er wusste es.
Als er sich nach seinem Verfolger umsah wartete dieser ruhig und scheinbar mühelos in seinem Windschatten. Aaron setzte sich wieder in seinen Sattel, verschnaufte kurz. Was sollte er noch tun? Was konnte er noch tun? Viel blieb ihm nicht mehr nach diesem Angriff.
Er versuchte, aus der Führung auszuscheren, aber Farine machte es ihm nicht einfach. Der Franzose hatte alle Trümpfe in seiner Hand.
Und er spielte sie aus. Als würde er von einer Rampe hinab in ein Zeitfahren starten brachte er seine Maschine auf Geschwindigkeit. Chancenlos sah Aaron ihm hinterher. Er versuchte erst gar nicht, das Tempo aufzunehmen. Vielmehr drehte er sich um, erkannte, das Luc Allou nicht zu sehen war und das der zweite Platz wohl ihm gehören würde.
Der Mechaniker hinter ihm und sein Assistent neben ihm jubelten beide. Aber Mirko war nicht nach feiern zumute. Erst als Luc die Linie passierte und erst 23 Sekunden später das Feld ins Ziel kam konnte er lächeln. Sie hatten Gelb gewonnen!
Er bahnte sich einen Weg durch die Zone, hin zu der Dopingkontrolle, wo Luc vorbei musste. Durch einen Traube an Reportern bahnte er sich den Weg zu dem 1,90 Riesen und schloss ihn in die Arme.
„Gut gemacht mein Kleiner“ Auch wenn sie sich während der Etappe heute und auch vorher schon oft stritten, so wussten sie was sie aneinander hatten. Und so konnten sie sich gegenseitig schnell verzeihen.
Luc reichte seinem Boss die Hand. „Danke... danke“ Sie schlugen ein. Trotz aller Widrigkeiten hatte sich doch noch etwas Gutes aus diesem Tag entwickelt.