15.10.2005 (Giro di Lombardia) – Italien feiert:
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Beim letzten ProTour-Rennen der Saison 2005, dem “Rennen der fallenden Blätter” quer durch die Lombardei und schließlich mit Ziel in Como, kam es zu einem großen Fest der Italiener. Die Tifosi hatten in den letzten Wochen darauf gewartet einen Fight zwischen ihren drei größten Helden dieser Radsportsaison zu sehen: Dem ProTour-Sieger, Danilo DiLuca, dem Ardennen-König Davide Rebellin und dem Giro-Sieger Ivan Basso. Massenweise Plakate mit ihren Namen hingen an den, meist rennentscheidenden, Anstiegen auf den letzten 50 Kilometern vor Como. Dieser Sonntag sollte ein Feiertag für Radsport-Italien werden und laut Gazetta dello Sport den „wahren Weltmeister“ hervorbringen – in Italien war das „langweilige“ Rennen von Madrid mit einem norwegischen Weltmeister nicht gut aufgenommen und als unwürdig abgestempelt worden. Hier in der Lombardei sah man ein viel geeigneteres Terrain um den besten Radsportler zu finden.
Es ist kein Wunder, dass die Italiener das so sehen: Erstens war ihre große Sprinter-Hoffnung Alessandro Petacchi bei der WM verletzt, so dass Bettini im Massensprint ran musste und mit Platz fünf sein bestes Saison-Ergebnis erzielte (was den Italienern aber sicher nicht genügt hatte) und zweitens bestehen auf bergigen Strecken für Italiener im Moment einfach die größeren Siegchancen, wie das oben genannte Trio im Verlauf der Saison eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
Was die Tifosi aber nicht wussten war, dass unser Kapitän Davide Rebellin seit ein paar Tagen mit einer Erkältung zu kämpfen hatte und sich deshalb kaum Hoffnung auf eine Top-Platzierung machte. Für mich hieß das, dass ich vor dem Fernseher ohne schlechtes Gewissen hoffen konnte, dass der italienische Radsport heute einen Dämpfer bekommen würde. Ich drückte allen die Daumen, nur nicht den Italienern – mit Ausnahme natürlich von Davide.
Als etwa 30 Kilometer vor dem Ziel der Spanier Perdiguero seine Attacke startete sprang ich vom Sofa auf und war außer mir vor Freude.
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Der Phonak-Kapitän, der bereits im August in San Sebastian siegreich war, konnte sich vom Feld absetzen und sah sehr gut aus. Würde er es sein, der heute zu Italiens Staatsfeind Nr. 1 avancierte? Danilo Di Luca sorgte bald dafür, dass die Lage des Spaniers noch interessanter wurde, denn er schloss zu ihm auf. Das Duo hatte einen ordentlichen Vorsprung und Perdiguero sah noch immer so aus, als ob er den ProTour-Sieger heute würde ärgern können. Meine Hoffnung wuchs bis einige Kilometer später von hinten ein weiterer Italiener aufschließen konnte: Paolo Bettini. Der Quick Step-Kapitän hat eine fürchterliche Saison hinter sich, in der er nur vier Siege bei unterklassigen Rennen feiern konnte und mit Platz fünf bei der WM und Platz sechs in Zürich nur zwei starke Ergebnisse erreichte. Man sah ihm einfach an, dass er heute darauf brannte doch noch einen versöhnlichen Abschluss zu finden! Kaum hatte er das Führungs-Duo erreicht hielt es ihn schon wieder nicht im Sattel. Bettini beschleunigte und ließ zumindest Perdiguero und somit all meine Hoffnungen einfach so stehen. Di Luca aber blieb am Hinterrad seines kleinen glatzköpfigen Landsmannes und so kam es zum Showdown zweier italienischer Publikumslieblinge – zweier absoluter Top-Stars.
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Der Eine, Bettini, mit dem Frust einer schlechten Saison im Bauch und der teilweise bösen Kritik der italienischen Presse im Hinterkopf, gegen den Anderen, Di Luca, der die beste Saison seines Lebens gefahren war – mit dem Gesamtsieg bei Paris-Nizza, massenweise zweiten Plätzen in San Remo, beim Amstel Gold, in Hamburg und Zürich, sowie bei der Polen-Rundfahrt und den dritten Plätzen in der Wallonie, in Lüttich und bei der Baskenlandrundfahrt – die er eigentlich am letzten Sonntag in Tours schon perfekt abgerundet hatte. Für den Einen bestand die Chance auf Wiedergutmachung, für den Anderen die auf das Sahnehäubchen. Es war klar, dass sie sich nichts schenken würden. Nebeneinander absolvierten kurbelte das Duo den letzten Anstieg zum Battaglia hinauf, von dem es nur noch sechs Kilometer hinab ins Ziel von Como waren. Es sah nach einem Zweikampf bis auf die Ziellinie aus, doch dann schien Di Luca sich daran zu erinnern, dass Bettini ein starker Sprinter ist. Der Liquigas-Kapitän attackierte seinen Begleiter und setzte sich einige Meter ab.
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Hintereinander, mit ein paar Sekunden Abstand zwischen den Reifen, stürzten sie sich die Abfahrt hinunter und dem Ziel entgegen. Mit vollem Risiko kam Bettini wieder etwas näher an Di Luca heran, doch am Ende fehlten noch immer ein paar Meter – Di Luca hatte gewonnen und Bettini blieb nur Rang zwei. Dass das sein bestes Saison-Resultat war, konnte „ill grillo“ kaum trösten – zu nah war er am großen Sieg bei der inoffiziellen Weltmeisterschaft dran gewesen!
Di Luca hingegen feierte mit erhobenen Händen ein großes Fest und ich bin mir sicher, dass er morgen in der Gazetta dello Sport als größter Radsportler der Welt gefeiert wird. Kaufen werde ich mir das rosa Blatt sicher nicht – auch wenn ich den Hut vor Di Luca’s Leistungen ziehe! Dass er eine tolle Saison gefahren ist und die ProTour zurecht mit einem enormen Vorsprung gewonnen will ich nicht leugnen, die Art und Weise, wie die italienische Öffentlichkeit das präsentiert, geht mir aber ein Stück zu weit.
Ergebnis:
1 Danilo Di Luca Liquigas - Bianchi 6h27'42
2 Paolo Bettini Quick Step - Innergetic s.t.
3 Miguel Perdiguero Phonak Hearing Systems + 1'12
4 Igor Astarloa Team Barloworld s.t.
5 Gianpaolo Caruso Liberty Seguros s.t.
6 Michael Boogerd Rabobank + 1'35
7 Damiano Cunego Lampre - Caffita + 1'59
8 Davide Rebellin Gerolsteiner s.t.
9 Leonardo Bertagnolli Cofidis s.t.
10 Mirko Celestino Domina Vacanze s.t.