17.9.2005 (Vuelta Espana) – Dickes fettes Ausrufezeichen:
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Das Zeitfahren hatte im Vorfeld für riesige Spannung gesorgt und im Kreis der Experten war man sich einig, dass am Ende jede Sekunde entscheidend sein könnte. Totsche und Botero waren die absoluten Protagonisten dieser Vuelta gewesen und sie standen absolut zurecht nun ganz oben im Gesamtklassement – völlig abgeschirmt von allen Kontrahenten. Schon der Drittplatzierte Jan Ullrich würde heute sicher nicht die geringste Chance haben noch an die Spitze zu springen und so war es kein Wunder, dass die Hoffnungen hier in Deutschland allesamt auf unserer Seite – also auf der Seite von Totsche – lagen. 1’22 brachte er an Vorsprung mit auf die Startrampe in Guadalajara und 1’46 hatte er vor einigen Tagen beim, fünf Kilometer kürzeren, ersten Einzelzeitfahren gegen Botero eingebüßt. Auch ihm musste also bewusst sein, dass es sehr, sehr eng werden würde. Es kam auf jeden Tritt an! Ab jetzt hieß es, sich 50 Minuten voll zu konzentrieren. Den Blick nur auf die Straße und sämtliche Körpersäfte hinein in die Beine – Totsche war gestartet!
Was sich auf der Strecke bis dahin abgespielt hatte, lässt sich schnell zusammenfassen:
Während sich die meisten Jungs aus dem Hinterfeld damit zufrieden gaben heute einfach nur ins Ziel zu rollen und im Zeitlimit zu bleiben, hatten sich Gustav Larsson und Torsten Schmidt einen heißen Kampf um die zwischenzeitliche Führung geliefert. Bei der ersten Zwischenzeit sah es für Torsten zwar noch gut aus (er war zeitgleich mit dem Schweden), doch schon die zweite Zwischenzeit zeigte, dass es heute auf keinen Fall zum Etappensieg reichen würde und im Ziel hatte er dann fast eine Minute Rückstand auf den Fassa Bortolo-Mann. Larsson hatte also in 48’35 die Bestzeit gefahren und lag auch als Totsche auf die Strecke ging noch an der Spitze.
Viel Zeit war nun seit Larsson’s Zieldurchfahrt vergangen und so langsam spitzte sich die Lage zu. Im Zielbereich, wo ich mich heute aufhielt (ich war gestern nach Madrid geflogen um live dabei zu sein und mich auch schon mal für die mögliche WM-Teilnahme an das Klima zu gewöhnen), lag ein richtiges Knistern in der Luft und es war Zeit, dass wir die ersten Zwischenzeiten auf den Großbildleinwänden präsentiert bekämen, bevor dann auch endlich Live-Bilder von der Strecke gezeigt werden sollten. Bisher starrten wir alle auf ein schwarzes Bild und dann, urplötzlich, erschienen die Zahlen. Es war wie ein Schlag ins Gesicht! Ganz oben leuchtete es auf: „1. Santiago Botero / Kolumbien 12’21“! Der Kolumbianer hatte tatsächlich Bestzeit gefahren und lag schon nach 12 Kilometern 30 Sekunden vor dem bis dato führenden Larsson. Doch wo war Totsche? Sein Name stand nicht unter den ersten zehn! War er vielleicht noch gar nicht an der Zwischenzeit vorbei gekommen?! Ich schaute auf die Uhr. Doch, eigentlich hätte er längst dort sein müssen! Dann sprang die Anzeige auf die zweite Seite um und da war sein Name. Für einen kurzen Moment viel mir ein Stein vom Herzen, doch bei einem Blick nach rechts stürzte über mir ein ganzes Gebirge zusammen: Er hatte schon 1’13 Rückstand!
Von diesem Moment an war meine Hoffnung gestorben. All die Euphorie, die sich über den Tag hinweg und auch schon gestern aufgebaut hatte war wie weggeblasen. Ich hatte einen dicken Klos im Hals und ich war in Gedanken bei Totsche. Wie musste er sich jetzt fühlen? Er saß da auf dem Rad, gute 25 Kilometer vor dem Ziel, kämpfte gegen einen absoluten Weltklasse-Zeitfahrer und durfte jetzt nur noch acht weitere Sekunden verlieren! Die Vuelta 2005 war verloren, das Projekt Titelverteidigung konnte begraben werden.
Noch klarer wurde dieser Gedanke für mich, als die ersten Live-Bilder auf der Leinwand auftauchten. Totsche fuhr mit hängendem Kopf und schwerem Tritt, während Botero in aerodynamisch perfekter Position, wie ein Tornado über die Strecke wirbelte.
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Ich war traurig und begann mich langsam aufzuregen über das, was die Herren TV-Kommentatoren, die nun im ganzen Zielbereich über große Soundanlagen zu hören waren, veranstalteten. Immer wieder wurde Totsche gezeigt, wie er sich im Gold-Trikot über die Strecke quälte und immer wieder versuchten die Kommentatoren das Rennen spannend zu machen. Jeder, der ein bischen Ahnung von Radsport hat, wusste, dass es gelaufen war – Totsche hatte verloren und Botero würde in einigen Minuten als neuer Vuelta-Sieger im Ziel auftauchen. Anstatt diese Neuigkeit zu verkünden und in irgend einer Form abzuhaken, mussten diese Sadisten aber immer weiter auf den Bildern eines sich quälenden Weltmeisters herumreiten. Ich sah mich um und schaute in lauter staunende Gesichter. Tausend Menschen auf einem Fleck, die sich scheinbar daran aufgeilten, dass ihnen jemand präsentiert wurde, der ganz offensichtlich kurz vor dem seelischen und körperlichen Zusammenbruch stand! Es war zum Angst bekommen!
Völlig geschockt suchte ich das Weite und setzte mich schließlich in ein Café. Auch dort war ich natürlich den TV-Bildern und den Kommentatoren ausgeliefert, doch im Sitzen, mit einem kühlenden Getränk in der Hand und vor allem nicht mehr in der Mitte einer gaffenden Menschenmenge ließ es sich deutlich besser aushalten. Ich beobachtete die Bilder und registrierte an der zweiten Zwischenzeit den völligen Untergang unserer Kapitäne. Totsche lag nun, 14 Kilometer vor dem Ziel, 2’37 hinter Botero zurück und Markus hatte bei einem Rückstand von 4’32 wohl noch deutlich größere Probleme als der Ösi. Auch er würde sein Ziel, die Top-Ten, heute nicht mehr erreichen können und so stellte ich mich für den Abend darauf ein, dass im Hotel Trauerstimmung herrschen würde.
Den Rest des Zeitfahrens brauche ich eigentlich nicht mehr zu schildern. Ich trank mein Getränk aus, blickte hoch zum Fernseher, sah Totsche mit letzter Kraft über den Zielstrich rollen, stand auf und verließ das Café in Richtung Teambus. Dort legte ich meinen Arm um Markus’ Schulter und versuchte ihm ein paar tröstende Worte zukommen zu lassen. Was mich aber völlig überraschte, war seine Reaktion:
„Danke Rot, aber es ist schon okay. Ich habe mich in den letzten Tagen bereits damit abgefunden, dass meine Kräfte flöten gegangen sind und ich nur noch nach hinten schauen brauche. Viel mehr Sorgen mache ich mir um den armen Totsch!“
Den wiederum konnte man am Mannschaftsbus heute aber lange suchen – er kam dort nicht an. Nach der Zieldurchfahrt hatte er sich von den Betreuern direkt ins Hotel bringen lassen und auf seinem Zimmer eingeschlossen. Er wollte allein sein – den ganzen Abend. Auch zum Essen kam er nicht herunter und alle Versuche ihn durch Besuche aufzumuntern prallten an der Tür ab. Letztendlich schrieben wir ihm einen Brief, holten eine ordentliche Portion vom Abendessen, inklusive Kummer-Killer-Schoko-Nachtisch, aus der Küche und legten alles zusammen vor die Zimmer-Tür. Irgendwann muss er es sich wohl reingeholt haben, denn als ich eben auf mein Zimmer kam standen die Dinge nicht mehr vor seiner Tür. Mal sehen, wie es ihm morgen geht!
Die Vuelta ist nun also gelaufen und morgen steht nur noch ein abschließender Massensprint in Madrid an, den vorraussichtlich erneut Thor Hushovd gewinnen wird.
Achja, Etappensieger war heute am Ende natürlich Botero. In 46’57 erreichte er das Ziel 1’20 schneller als der Zweitplatzierte Jan Ullrich, der nach der Tour nun auch die Vuelta auf dem Treppchen beenden wird. Totsche hat am Ende 4’05 gegen den Kolumbianer verloren und der konnte ein richtig fettes Ausrufezeichen in Richtung Zeitfahr-WM setzen. Ich habe ehrlich gesagt schon fast ein bischen Angst, dass er mich dort ähnlich versenkt wie Totsche heute – vorrausgesetzt ich bin überhaupt nominiert!
Ergebnis:
1 Santiago Botero Phonak Hearing Systems 46'57
2 Jan Ullrich T-Mobile Team + 1'20
3 Gustav Larsson Fassa Bortolo + 1'38
4 Igor Gonzalez De Galdeano Liberty Seguros + 2'06
5 Torsten Schmidt Gerolsteiner + 2'26
6 Bobby Julich Team CSC + 2'44
7 Erik Dekker Rabobank + 3'08
8 Thomas Dekker Rabobank + 3'36
9 Alberto Lopez De Munain Euskaltel - Euskadi + 3'41
10 Carlos Barredo Liberty Seguros + 3'45
11 José Azevedo Discovery Channel + 3'59
12 Joost Posthuma Rabobank + 4'03
13 Georg Totschnig Gerolsteiner + 4'05
14 Thor Hushovd Credit Agricole + 4'35
15 Haimar Zubeldia Euskaltel - Euskadi + 4'48
16 Oscar Sevilla T-Mobile Team + 4'53
17 Robert Hunter Phonak Hearing Systems + 4'55
18 Heinrich Haussler Gerolsteiner + 5'06
19 Dario Cioni Liquigas - Bianchi + 5'08
20 Steven De Jongh Rabobank + 5'11
...
43 Roberto Laiseka Euskaltel - Euskadi + 6'37
53 Markus Fothen Gerolsteiner + 6'53
GK:
1 Santiago Botero Phonak Hearing Systems 75h41'17
2 Georg Totschnig Gerolsteiner + 2'43
3 Jan Ullrich T-Mobile Team + 5'03
4 Bobby Julich Team CSC + 9'19
5 Thomas Dekker Rabobank + 9'46
6 José Azevedo Discovery Channel + 10'37
7 Igor Gonzalez De Galdeano Liberty Seguros + 13'11
8 Juan Manuel Garate Saunier Duval + 15'22
9 Dario Cioni Liquigas - Bianchi + 16'05
10 Roberto Laiseka Euskaltel - Euskadi + 19'40
11 Markus Fothen Gerolsteiner + 20'31
12 Roberto Heras Liberty Seguros + 21'46
13 Aitor Osa Illes Balears + 22'18
14 Carlos Garcia Quesada Comunidad Valenciana + 23'15
15 Andriy Grivko Domina Vacanze + 23'21
Punkte:
1 Heinrich Haussler Gerolsteiner 180
2 Santiago Botero Phonak Hearing Systems 174
3 Georg Totschnig Gerolsteiner 155