Es wird in der Regel gesagt, dass ein fehlender Plan zwingend ein Nachteil in der Erreichung eines Ziels ist. Aber Fabian wusste es besser. Er hatte ein Ziel, der Plan würde kommen, wenn er es für nötig erachtete. Diese heutige Etappe war, wieder einmal, ein möglicher Wendepunkt in der Tour de France. Die gestrige, überraschende Schwäche von Zeres, sein eigene Stärke und vor allem das Gefühl, in den Bergen das Geschehen kontrollieren zu können... Die Tour war offen. Nicht nur er konnte spekulieren, auch hinter ihm hatte der gestrige Tag Hoffnungen geweckt. Was, wenn er einbrach? Was, wenn Jerdona Zeres seine Form auch heute nicht wieder fand? Die eigentlich so klare und definierte Hackordnung war auseinander gebrochen. Gut für ihn. Und eigentlich der richtige Moment, um auf einen festen Plan zu verzichten und sich einfach vorzunehmen, das beste aus dem Tag zu machen. Man konnte niemals wissen, was die Strecke, die Berge, für einen bereit hielten.
So setzte sich denn auch das Fahrerfeld in Bewegung: Unkoordiniert, unschlüssig, wie ein Blinder sich langsam vorwärts tastend. Nach und nach wurde dann doch eine Tempoarbeit etabliert. Erst der etwas flachere, aber durch seine Länge doch nicht zu unterschätzende Coll del Canto. Eine Ausreißergruppe sicherte sich, fast schon pflichtgemäß, die Überfahrt. Fabian hatte bis zu diesem Zeitpunkt seinen Kopf noch nicht eine Sekunde aus seinem Kokon gezogen. Nun aber, am Fuße des Puerto de la Bonaigua, beorderte er seine ersten Mannen an die Spitze des Feldes, um das Tempo weiter anzuziehen.
Langsam, aber sicher wurden sie schneller. Am ersten Berg hatte er noch kaum etwas gespürt, aber nun war es da: Dieses dumpfe Pochen in den Beinen. Er kannte es zur Genüge. Es war eigentlich eines der Gefühle in seinem Leben, die er am besten kannte. Dieser Druck, dieses klopfen in seinen Adern. Er kannte es von zahlreichen Trainingsausfahrten, von Schlussanstiegen, von den letzten Kilometern in einem Zeitfahren. Es hatte ihn über die steilsten Hügel der Klassiker begleitet, über die giftigsten Anstiege der Alpen und Pyrenäen. Aber nun war es da, an einem nur durchschnittlich schweren Berg. Und da war noch etwas anderes: Während er sich sonst immer nach höherem Tempo, nach der Entscheidung, nach einem tobendem Sturm im Fahrerfeld gesehnt hatte spürte er nun... Angst. Angst vor dem Superbagneres, Angst vor dem nächsten Berg, Angst vor den Tempomachern an der Spitze, Angst vor seinen Gegnern.
Col du Portillon, die Brücke zurück nach Frankreich. Oben auf dem Gipfel würden sie die Grenze überqueren. Dann war das Ende schon in Sichtweite. Bagneres, die Stadt am Fuße des nicht unbedeutenden Skisportortes. Vorbei war es nun mit der Zurückhaltung vom Beginn der Etappe. Jerdona Zeres machte heute nicht den Eindruck, als ob er die Schmach von gestern wettmachen könnte, im Gegenteil. Und die Meute roch seine Angst wie ein Rudel hungriger Jagdhunde.
An der Spitze opferten sich nun alle Helfer auf. Es war ein regelrechter Kampf um die Spitzenposition entbrannt. Zahlreiche Fahrer fielen zurück, andere strebten nach vorne... Der Sturm war dabei, los zu brechen. Und er freute sich darauf.
Das war es, das war die Glocke zur letzten Runde, der Beginn des Finals. Jeder, der bisher noch vor sich hindöste, rutschte nun auf seinem Stuhl nach vorne. Das Feld flog förmlich vorbei an dem Banner, das die Bergwertung ankündigte, noch runde 20 Kilometer voraus. Man konnte an den Gesichtern der Fahrern ablesen, dass es todernst war. Heute würde keiner Geschenke machen, keiner würde zurück stecken, taktieren, auf Morgen hoffen. Morgen war der Ruhetag, heute war... der Tag des Jüngsten Gerichts.
Es war ein Kampf auf verlorenem Posten. Er quälte sich, was das Zeug hielt. Versuchte, locker am Feld vorbei nach vorne zu tänzeln, sich wieder zurückfallen zu lassen, seine Gegner einzuschüchtern. Er konnte es nicht. Einmal hinten angekommen musste er wirklich schlucken und beißen, das Tempo der anderen wieder aufzunehmen. Vorbeifahren so gut wie möglich, spielerisch tänzelnd eine Demonstration seiner Kraft abliefern unmöglich.
Verzweifelung stieg in ihm auf. Was sollte er tun, wenn jemand Angriff? Konnte er das Tempo überhaupt halten, auch ohne Angriff? Da kam schon die erste Rampe, ein steiles Stück. Nun galt es.
Sie schauten sich ein wenig an. Aber nicht lange. Rasmussen ging, Contador hinterher. Mit einem irren Tempo zogen sie von hinten weg am Feld vorbei. Evans stieg sofort ebenfalls in die Eisen und legte beim Tempo des Feldes eine ordentliche Schaufel oben drauf. Die Edelhelfer fielen quasi augenblicklich zurück, der offene Schlagabtausch hatte begonnen. Er blickte nach unten, auf seinen Pulsmesser. Verdammt. Er lag ein wenig über dem geplanten Sollwert, mit dem er gestern so gut gefahren war. Widerwillig ließ er ein wenig locker und büßte Weg nach vorne ein. Langsam, aber sicher, entschwanden Evans, Klöden und einige andere. Aber wo war Zeres?
Ein Blick nach hinten, Motorräder, Begleitwagen, tobende Zuschauer. Ein Blick nach vorne, eine Wilde Menge, baskisch orange. Doch wo war ihr Held? Er pfiff einmal mehr darauf. Sein Job war es, seine verdammte Pulsuhr zu bewachen und im richtigen Bereich zu fahren.
Panik. Die Angst war purer Panik gewichen. Jerdona konnte spüren, wie sie durch seinen Körper pulste. Das Blut schoss ihm ins Gesicht statt in die Beine. Er wurde puterrot. Seine Wangen glühten. Wo waren sie alle hin? Er hatte keinen mehr an seiner Seite, weder Freund noch Feind. Er fand nicht einmal mehr die Zeit, sich umzuschauen. Er musste kämpfen, musste diesen Berg hinauf. Noch hatte er eine Chance. Eine dünne zwar, aber er konnte diese Tour noch gewinnen. Verdammt nochmal, er musste sie gewinnen. Er würde nicht zu den Radfahrern zählen, die einmal die Tour glücklich gewonnen hatten und danach nie wieder etwas Vergleichbares zeigen konnten. Nein, er würde kämpfen, und er würde siegen. Final.
Er kämpfte weiter. Er musste weiter. Es war überraschenderweise sogar für ihn langweilig, den Berg auf diese Art und Weise in Angriff zu nehmen. Sein Körper war am Limit, das Blut rauschte in seinen Ohren, Sternchen flogen vor seinen Augen. Aber ihm war irgendwo doch langweilig.
Sobald er diesen Gedanken einmal gefasst hatte bemerkte er, warum ihm diese doch recht angenehme geistige Leere verwehrt bleiben würde. Ein paar Sekunden lang dachte er, dass er sein Limit erreicht hatte und nun schwächer würde. Mit einem kurzen Blick nach hinten bemerkte er aber den eigentlichen Grund: Er hatte einen Plattfuß. Kaum möglich, einen ungünstigeren Zeitpunkt zu erwischen. Das Schicksal hatte seinen Konkurrenten diese eine Chance eingeräumt. Aber er würde sie ihnen nicht gewähren. Anstatt panikartig anzuhalten sah er sich nach seinem Teamfahrzeug und signalisierte mit seinem Arm, dass er Hilfe bräuchte. Nichts wäre nun tödlicher, als noch auf die Mechaniker warten zu müssen. Aus den Augenwinkeln erspähte er, wie hektisch eine Tür am Auto aufgerissen wurde und der Beifahrer sich im Fahren am Dach zu schaffen machte. Die Zuschauer wichen erschrocken zurück, erstaunlicherweise immer schnell genug um nicht gegen die Türe zu stoßen.
Fabian bremste ab und schwang sich von seinem Rad herunter. Seine Beine, an ihre monotone Bewegung gewöhnt, schienen zu explodieren. Sobald der Mechaniker das Rad gegriffen hatte und sich an ihm zu schaffen machte, fing Fabian an zu laufen. Er konnte nicht zu lassen, dass die plötzliche Belastungspause seinem Körper allzu schwer zu schaffen machte. Das Adrenalin rauschte in seinen Ohren, aber er musste sich gedulden.
Immer wieder fuhren, nein rauschten abgehängte Fahrer vorbei. Fabian versuchte, sie nicht zu beachten, aber innerlich konnte er den immensen Schmerz spüren. Seine Zwangspause kostete ihn mehr und mehr Zeit. Fahrer, die eigentlich weit schwächer als er waren, holten ihn wieder ein. Und auf einmal… da war Jerdona! Die Menge schien ihn im gleichen Moment erkannt zu haben und das Toben um ihn herum schien sich noch einmal um einige Klassen zu steigern.
Wie auf Kommando wurde sein Mechaniker fertig und drückte ihn sein Rad in die Hand. Die Reparatur schien ewig gedauert zu haben. Fabian setzte sich auf den Sattel und unterdrückte den Impuls, direkt einen kleinen Sprint einzulegen, um Zeres nicht außer Sichtweite entkommen zu lassen. Nach und nach schaltete er durch seine Gänge und legte an Geschwindigkeit zu. Sein Puls tanzte hin und her und es dauerte eine weitere Ewigkeit, bis sein Organismus sich wieder an die Belastung gewöhnt hatte.
Er hatte es in der Vorbeifahrt kaum realisiert, aber jetzt, als er zurück schaute, realisierte Jerdona sein ganzes Glück: Schmidt hatte einen Plattfuß gehabt, das Rennen war wieder offen. Seine Chancen stiegen. Ein weiterer Blick zurück beraubte ihm der Illusion, das er es nun leichter haben würde: Schmidt saß wunderbar geschmeidig auf seinem Rad, sein Tritt gleichmäßig, sein Gesicht entschlossen, aber nur leicht berührt von den Ereignissen um ihn herum. Er schien fast in Trance zu sein.
Wie ein D-Zug rauschte er an ihm vorbei. Und zum zweiten Mal heute versuchte er erst gar nicht, sein Tempo anzugleichen. Er wusste, dass er heute nicht dazu gemacht war, die Angriffe zu parieren. Und obwohl es eigentlich vorauszusehen gewesen war, traf ihn der Schmerz dennoch tief. Würde er Gelb heute verlieren? Würde er die Tour verlieren? Was würde danach kommen?
Seine Gedanken drehten sich in Kreisen, viel zu kleinen Kreisen. Mit aller Macht versuchte er, sich auf das Rennen zu konzentrieren, aber weder sein Körper noch sein Geist wollten ihm heute Folge leisten. Die etwas mehr als zwei Minuten, die er Vorsprung auf Evans hatte, würden sie reichen? Oder würde er sogar das Podium verlieren, wenn er drei Minuten nach Leipheimer ankam? Sein Fall konnte noch scheinbar ewig nach unten weitergehen.
Die Erkenntnis traf ihn hart: Sein Plattfuß hatte ihm heute wahrscheinlich das Gelbe Trikot gekostet. Als er um die letzte Kurve vor dem Ziel fuhr und immer noch keinen Sichtkontakt mit Evans, Leipheimer und den anderen hatte, wurde ihm ein wenig anders. Auf einmal interessierten ihn die Zwischenzeiten doch. Er stand auf und versuchte im stehen auf den letzten Metern das Ergebnis, von dem er noch keinen blassen Schimmer hatte, zu korrigieren. Im Ziel plumpste er völlig entkräftet auf seinen Sattel und rang nach Luft.
Seine Lunge brannte, seine Beine brannten, seine Arme brannten. Mühsam stieg er vom Rad und ließ sich von einem Helfer eine Wasserflasche geben. Er taumelte nach vorne, bis er halt an einem Eisengeländer fand. Erst nachdem er sich den Inhalt der Flasche teils auf, teils in den Hals gekippt hatte kehrte er wieder in irdische Sphären zurück: Hatte er Gelb? Hatte er es geschafft?
Sein Kopf schnellte empor und er spähte auf die Anzeigetafel. Hier fand er die Antwort nicht. Rasmussen hatte gewonnen. Aber… aber… Fragend schaute er umher. Erst jetzt realisierte er das etwas betretene Schweigen seiner Teamkameraden. Das Geschrei kam von anderen. Es hatte nicht gereicht.
Was war schlimmer? Der Schmerz seiner Beine oder der Scham, hier, so nah an seiner Heimat unterzugehen? Die Pyrenäen… Er hatte auf heute gehofft, hatte sich extra diesen Anstieg herausgesucht. Was hatte es ihm gebracht? Er hatte verloren. Gelb, vielleicht die Tour. In den Schweiß, der in Strömen an ihm herab rann, mischten sich Tränen. Erst einige wenige. Dann, als Yuri ihn erreicht hatte, brachen die Dämme. Wie ein kleines Kind schluchzte er in seine Schulter. Die Fotoapparate, die Blitzlichter, die schreienden Menschen, die Massen an Fahrern, Offiziellen, Reportern und Betreuern, die sich um ihn herum drängelten, all das verblasste. Er war geschlagen.
Gesamtklassement
1) Evans 00:00:00
2) Schmidt 00:00:46
3) Rasmussen 00:00:49
4) Leipheimer 00:01:01
5) Zeres 00:01:34
6) Contador 00:01:54
7) Valverde 00:02:22
8) Klöden 00:03:17