Ich hatte so etwas noch nie gemacht. So klar und deutlich den Rennverlauf meines Teams auf einen Fahrer abgestimmt, ein hohes Risiko eingehen und unter Umständen alles verlieren. Aber ich liebe Herausforderungen.
Ich hatte auf den vorigen Etappen genügend Kraft für diesen Tag getankt und wenn es sein musste auch noch für Morgen. Es herrschte Hochstimmung im Team. Ich hatte die Jungs perfekt motiviert, in dem ich meine Begeisterung und meine Vorfreude auf sie abfärben lies. Es sollte hoffentlich ein erfolgreicher Tag werden. Das Wetter war optimal dazu. Aber man soll den Tag ja nicht vor dem Abend loben, denn noch hatte das Rennen noch gar nicht so richtig begonnen.
Was die Fans noch nicht wussten: Sollte meine Taktik heute perfekt aufgehen, dürften sie eine wahre Show in Magenta erleben. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen. Jeder war mit einbezogen, musste in jedem Moment voll da sein.
„Heute und morgen, Jungs, das werden unsre Tage sein! Da werden wir siegen!“, hatte ich heute morgen immer wieder gerufen. Ich hoffe nur, dass ich einige nicht mit zu viel Enthusiasmus überrumpelt habe, vor allem Enrico schien etwas geknickt, da er offensichtlich meinte, dass das Team während dieser Rundfahrt nie so für ihn gearbeitet hätte. Ich versicherte ihm, dass wir bereits alles versucht hätten, um ihn in Szene zu setzen, aber manchmal hätte man eben Pech und heute sei ja auch noch nichts gewonnen. Dennoch versicherte ich ihm, dass wir uns alle für diese eine letzte Woche noch so viel Kraft gespart hätten, dass wir diese Show auch in Mailand fortführen könnten.
Ausgangssituation: Der Siegesdurst des Spitzenreiters Cunego war nach meiner Einschätzung noch lange nicht gestillt worden, sodass ein Etappensieg bei diesem Profil für Linus unmöglich ist, wenn er am letzten Berg in einer Gruppe mit dem Italiener unterwegs ist.
Sprich: Man muss das so verhindern, dass Linus bereits einen ausreichenden Vorsprung auf Cunego hat und dieser nicht mehr an ihn herankommen kann. Außerdem kann das dem starken Rabobankteam eh egal sein, denn Linus hatte ja bereits einen Rückstand von über 20 Minuten auf ihren Kapitän.
Trick 1: Ein ausdauernder tempoharter Fahrer, der auch die Berge ganz gut hochkommt, in die Ausreißergruppe schicken – Lorenzo Bernucci.
Trick 2: Am ersten Berg den Mann im Bergtrikot angreifen lassen, denn die Gruppe wird noch keinen zu großen Vorsprung haben, als dass Andreas nicht zu Lorenzo aufschließen könnte.
Trick 3: Am vorletzten Berg früh mit Linus angreifen, oder kurz vor dem Gipfel – je nach Rennsituation. Die kurze Abfahrt hinunter wird er von seinen beiden Teamkollegen beschützt, die ihm dann noch mal das Tempo am kurzen Schlussanstieg diktieren, bevor er es selbst richten soll.
Trick 4: Mit Morris und Vincenzo immer die Option Etappensieg und Gesamtklassement offen halten, in dem sich die beiden voll und ganz auf Cunego konzentrieren.
Trick 5: Sollten sich Enrico, David oder Gabriele gut fühlen, dürfen sie mit Lorenzo mitziehen, wenn die Gruppe groß genug ist.
Bei angenehmen 25 Grad im Schatten machten sich die verbleibenden 159 Fahrer auf den langen Weg von Fossano nach Chianale über 179 Kilometer. Insgesamt stellten sich heute 4 Ansteige den Profis in den Weg:
Der Colle Esischie mit 21,5 Kilometer und einer Steigung von 7,5 %
Der Colle di Sampeyre über 14,9 Kilometer und einer Steigung von 8,2 %
Der Colle del Angelo über 19,1 Kilometer und einer Steigung von 6,5 % mit einer Höhe von 2710 m über Meereshöhe einer der höchsten Pässe des Giros 2009
Und zum Schluss direkt auf der Abfahrt vom Colle del Angelo geht es in Chianale links ab und hinauf zur Chapelle de Clausis über 9,3 Kilometer mit einer Steigung von 5,8 %
Die Route führt zunächst über Colle Esischie nach Frankreich hinein über den Colle di Sampeyre und über den Colle del Angelo wieder zurück nach Italien, wo wir uns auf ein furioses Finale und die letzte Bergankunft des Giros (ausgenommen das Zeitfahren am Samstag) freuen können.
Es lief von Anfang an nach Plan. Lorenzo ging die erste Attacke mit, obwohl das Team Rabobank den Braten wohl roch und Gabriele nicht auch noch ziehen lies bildete sich eine komfortable 8-köpfige Spitzengruppe, die Lorenzo auf den ersten flachen Kilometern durch die wunderschönen Alpentäler genügend Windschatten bot.
Dann am Colle Esischie sprengte Lorenzo die Gruppe durch sein konstant hohes Tempo. Andreas griff nach wenigen Kilometern im langen Anstieg an und überholte bereits nach kurzer Zeit Lorenzos einstige Begleiter. Bis jetzt lief alles wie am Schnürchen. Über Funk teilte ich Lorenzo mit, dass er sich jetzt ausruhen könne, damit der Zusammenschluss noch vor oder auf der verschneiten Passhöhe stattfinden könne. Zurzeit hatte er einen Vorsprung von rund 12 Minuten auf das Hauptfeld und Andreas lag immerhin noch 4’50“ zurück, doch man lies die beiden ziehen, denn mit über 1 Stunde Rückstand im Gesamtklassement bildeten sie keinerlei Gefahr für den Mann im Rosa Trikot.
Im Feld übernahm wie immer das Team Rabobank die Führung, doch noch konnten selbst Enrico und David mithalten, was mich zufrieden stimmte. Der Vorsprung wuchs mittlerweile auf fast 14 Minuten an! Lorenzo sicherte sich die Bergwertung mit einem Vorsprung von 2 Minuten auf Andreas, der seine Führung im Bergtrikot weiter ausbaute.
Noch immer kein hohes Tempo im Feld, sodass der Vorsprung auf der Abfahrt schnell über 20 Minuten anwuchs, während Davide einen rabenschwarzen Tag erlebte und dem nicht gerade rasenden Tempo des Feldes nicht mehr folgen konnte.
Während das Feld erst die ersten Meter des Colle di Sampeyre erklomm, schloss Andreas endlich zu Lorenzo auf.
Diesmal sicherte sich natürlich Andreas die Bergwertung – die beiden machten das echt gut, denn der Vorsprung lag mittlerweile schon bei 24 Minuten. Da stellte sich die Frage, ob nicht einer dieser beiden den Tagessieg holen würde.
Jetzt ergriff Linus die Gunst der Stunde, als sich Ardila vom Hauptfeld kurz vor der Bergwertung löste und jagte hinab ins Tal, wo die Sprintwertung genommen wurde, die Andreas für sich entschied, aber das war nun wirklich völlig belanglos.
Auch Schleck und Ricco hatten sich am Anstieg gelöst, fuhren aber in einer Gruppe hinter Linus. Langsam stieg die Aufregung bei mir. Das Gribbeln im Bauch begann. So eine gute Ausgangsposition! Ein Dreifachsieg?
Dann ergriffen auch der bislang enttäuschende Menchov und Rujano an, der seinen 5. Platz in der Gesamtwertung behaupten wollte und auch Ruben Plaza griff an. Cunego machte nichts. Das freute mich natürlich. Dann gingen auch Sella und Pellizotti, Cunego zuckte kurz, doch er machte nichts, zu groß war sein Vorsprung. Linus fuhr ein klasse Rennen. Er machte Boden auf seine beiden Teamkollegen gut und auf das Feld ebenso. Mittlerweile war er alleine auf weiter Flur. Dann ging auch noch Ghisalberti – Cunego zuckte wieder, doch er blieb im Feld, Vincenzo und Morris auch. Noch konnten sie auf den Schlussanstieg hoffen und bis zur Passhöhe waren es ja auch noch 8 Kilometer. Noch ein Grund nicht anzugreifen, war Cunego selbst, der das Feld sonst wieder gnadenlos von hinten aufgeräumt hätte – also Geduld Jungs!
Und das Feld lief wieder zusammen! Rujano, Ghisalberti – alle wieder gestellt und beisammen. Nur der Gerolsteiner Profi probierte es gleich wieder alleine, doch keiner wollte ihm folgen, schon gar nicht meine Jungs. Doch jetzt ging Cunego in die Tempoarbeit und sprengte die große Gruppe. Morris konnte ihm am längsten folgen, doch dann waren sie alle alleine unterwegs. Cunego, dann Morris, dann Ghisalberti, dann Rujano und Vincenzo, und dann Julien mit Schleck und Pellizotti. So kamen sie über die Passhöhe des Agnelo, die übrigens Lorenzo vor Andreas gewann.
Linus ging in der Abfahrt volles Risiko, denn Cunego war bereits auf eine Minute an ihm dran. So ging es in den alles entscheidenden Schlussanstieg. Nicht ganz, denn der Tagessieg war bereits entschieden. Andreas oder Lorenzo hatten noch 6 Minuten Vorsprung. Ich gab ihnen über Funk durch, dass sie machen können was sie wollen, Hauptsache gewinnen!
Vincenzo löste sich gleich mal von Rujano und spurtete zu Ghisalberti vor, während eine Gruppe weiter hinten, Julien wieder eine klasse Vorstellung bot und Schleck und Pellizotti stehen lies.
Rujano würde seinen Platz unter den Top 5 verlieren, so viel stand auch schon fest, denn Gerdemann lag immer noch vor Cunego, mein Linus gab wirklich alles, um das Podium zu komplettieren. Doch auch Morris konnte noch an Vincenzo vorbeiziehen. Teaminterne Auseinandersetzungen, aber die beiden würden sicherlich damit leben können. Doch irgendwie wollte der Abstand zwischen den beiden Gruppen nicht wirklich größer werden. Während Cunego zu Linus aufschloss, attackierte Andreas gegen Lorenzo.
Anscheinend hatten die beiden „freien“ Kampf ausgemacht und die Attacke saß. Andreas gewinnt wie schon 2006 in Namur eine Giroetappe und das als Bergkönig auf der schwierigsten Etappe!
Doch wer wurde Dritter? Cunego zog den Sprint an und Linus versuchte noch zu folgen, doch heute hatte er schon zu viele Kräfte gelassen und auch die Form reichte noch nicht aus. Dennoch, mit einem vierten Platz und einem Platz Verbesserung in der Gesamtwertung konnte er wirklich zufrieden sein.
Ich wartete bereits im Zielbereich auf ihn, so groß war der Vorsprung seiner beiden Teamkollegen noch gewesen – ich hatte mich tatsächlich etwas verschätzt, aber so ein Sieg ist eines der schönsten Sachen auf der Welt!
„Morgen, Linus! Morgen, Linus, machen wir noch mal das Selbe! Und dann klappt’s für dich und den Sergio überholst du auch noch!“
Er lachte kurz, mehr brachte er vor Erschöpfung nicht hervor.
Die Schlagzeile der Gazetto dello Sport am nächsten Morgen: „Magenta ist noch am Leben – und wie!“
Tageswertung:
1.Klöden 6h41’25“
2.Bernucci + 13“
3.Cunego + 3’34“
4.Gerdemann + 3’34”
5.Possoni + 6’07”
6.Nibali + 6’51”
7.Ghisalberti + 6’51”
8.Rujano + 7’41”
9.Loubet + 10’07”
10.Pellizotti + 10’15”
Gesamtwertung:
1.Cunego 80h10’23”
2.Nibali + 15’50”
3.Possoni + 17’35”
4.Ghisalberti + 23’09”
5.Gerdemann + 25’04”
6.Rujano + 25’40“
7.Loubet + 36’19”
8.Pellizotti + 37’40”
9.Plaza + 39’32”
10.Schleck + 39’37“
Übrigens: Lorenzo und Andreas verbesserten sich auf Rank 16 und 19 – ungefähr um 5-7 Plätze.
Punktewertung:
1.Cunego 183
2.Davis 158
3.Steegmans 152
Bergwertung:
1.Klöden 175
2.Cunego 97
3.Ghisalberti 70
Nachwuchswertung:
1.Nibali
2.Possoni +1’45“
Teamwertung:
1.T-Mobile
2.Rabobank + 2h06’42“