Die Schonzeit war vorüber. Es ging in die zweite Halbzeit. Nun würde die Entscheidung fallen. Fabians Kopf dröhnte. Ihm schwirrten so viele Gedanken darin herum, dass er unfähig war, einen klaren zu fassen. Er war aufgeregt, aber vor allem freute er sich auf die Chance. Jeder hatte ihm vor dem Start gute Ratschläge gegeben: Trainer, Verwandte, alte Radbekannte. Sogar einige alte Größen hatten ihn angerufen, wohlwissend, dass er von den dreien, die noch in die Entscheidung mit eingreifen konnten, nicht die schlechtesten Karten hatte. Eigentlich störte es ihn sogar, dass Evans noch mit Zeres und ihm genannt wurde. Aber es war eben eine Tatsache: Albertville war wirklich keine Heldentat gewesen und er hatte mit seinem schlechten Abschneiden dort die Tür für den Australier geöffnet, mit soliden Leistungen am Berg doch noch an ihm vorbeiziehen zu können.
Aber heute lag seine ganze Konzentration auf den einzigen Mann, der noch besser war als er: Jerdona Zeres. Und er ließ auf sich warten. Fabian lungerte schon auf seinem Rad herum, wieder einmal gelangweilt vom großen Warten auf den Start. Und Zeres war noch nicht da. Er kam üblicherweise sehr spät, manche munkelten um den Interviews zu entgehen. Schmidt hatte nicht so viel Glück: Waren es neun oder zehn? Er konnte es nicht mehr zählen. Jeder hielt ihm vor dem Start ein Mikro ins Gesicht und wollte wissen, wie er die Etappe heute sah. Es nervte. Aber er versuchte tunlichst, diese Einflüsse zu ignorieren. Letztlich war das alles irrelevant. Genauso wie die Verspätung von Zeres.
Da kam er! In einer Traube aus Bodyguards, Betreuern und Kameras bahnte sich das leuchtend gelbe Trikot seinen Weg zu der kleinen Tribüne. Mit leichten, federnden Schritte schnellte er die Treppe empor, drehte sich oben um und winkte der jubelnden Menge zu. Erst dann drehte er sich zu den zwei Offiziellen, die mit ausdrucksloser Mine am Pult auf ihn warteten, um und riss ihnen mit einem breiten Grinsen den Stift aus der Hand, nicht, ohne ihnen vorher die Hand geschüttelt zu haben. Ein paar kleine Sprüche später trat er seinen Weg hinab an.
Er war wie ein König inmitten seines Volkes. Er wusste um seine immense Beliebtheit und seinen Status. Aber die Verwandlung war… atemberaubend. Am Anfang der Tour, als der Druck noch ungeheuerlich schien, hatte er immer sehr unwirsch reagiert, Kameras und Mikros gemieden und müde um sich gewinkt. Jetzt, da sein Sieg für ihn nur noch eine Formalität war, ging er generös und weltmännisch mit seiner Umwelt um.
Nützen würde es ihm nichts. Jetzt, da er seinen Gegner direkt vor sich hatte, überfiel Fabian eine fast meditative Ruhe. Die nächsten Stunden würde er einfach nur dieses Hinterrad halten müssen. Eigentlich nicht all zu schwer.
Langsam setzte sich der Konvoi in Bewegung. Fast lustlos rollte das Feld zum richtigen Start. Dort setzte sich Kelme-Euskadi an die Spitze des Feldes, schlug aber ein sehr gemächliches Tempo an. Jerdona lungerte hinter seinen Teamkameraden herum, in einem Konvoi, der sich langsam, aber sicher, auf die Pyrenäen zubewegte.
Erst überwanden sie einige kleinere Hügel, mal entlang einer Autobahn, mal durch einen Tunnel, mal über einen kleinen Fluss. Die mächtigen Gipfel des Gebirgszugs, den sie sich zu besteigen anschickten, ragten immer höher vor ihnen auf. Schließlich fanden sie sich in einem mächtigen Tal wieder. Rechts von ihnen lag das Plateau de Beille, ebenfalls ein altbekannter Ort der Tour de France. Doch sie fuhren weiter, unbeirrt.
Einige Fahrer hatten sich nach vorne abgesetzt, ungeduldig, die Prüfung endlich auferlegt zu bekommen. Fabian nahm sie gar nicht war. Ebenso wenig existierten für ihn die weiteren Gipfel und Anstiege, die links und rechts des Weges lagen. Für Radsportliebhaber war es geheiligter Boden, für ihn nur die letzten Schritte zum Ort der Entscheidung. Rechts herum ging die Straße und führte sie hinein. Hinein in den Kanal, der sie zum Gipfel des Port de Envalira.
Geschlossen fuhr das Feld hinauf. Nun, da der Anstieg richtig begann, übernahmen andere Teams die Arbeit. Predictor-Lotto, Astana und vor allem Discovery Channel setzten sich an die Spitze der Gruppe und übernahmen das Kommando. Fabian merkte sofort, wie das Tempo anzog und sein Organismus aufwachte. Nicht, das er bisher sich nicht hätte anstrengen müssen. Aber nun zogen sie mit einer Geschwindigkeit den Berg hinauf, dass er jeden Knochen in seinem Körper spürte. Die Qualen, ein ständiger Begleiter in seinem Beruf, meldeten sich zu Wort. Er biss die Zähne zusammen und richtete seinen Blick nach vorn.
Es schien, als wollten die Tempomacher die fehlenden Berge, die auf der Etappe von den besten Kletterern schmerzlichst vermisst wurden, wettzumachen. Auch Jerdona konnte es jetzt fühlen. Die Tour war noch nicht gelaufen. Sie fing eigentlich erst richtig an. Langsam aber stetig kam der letzte, der entscheidende Abschnitt des Envalira näher. Hinter einer weiteren, seichten Biegung des Berges lag Pas de la Casa, ein Skiort. Da hinten lag die Grenze zu Andorra. Und über dem Skiort thronte majestätisch der letzte Teil des Anstiegs: Die letzten 4 Kilometer mit 8-9% Steigung hinauf zur Passhöhe.
Während sie langsam den Berg umrundeten und die kleine Enklave, durch welche die Grenze verlief, immer näher rückte, konnte Jerdona auch den Tunnel erkennen. Durch diesen würden die meisten seiner Gegner wohl gerne fahren. Aber nicht so er: Da hinauf musste er, wollte er.
Die anderen Teams schienen ihm aber nicht die Initiative überlassen zu wollen: Leipheimer ergriff die Initiative. Schnell bekam er Gesellschaft von Valverde und Rasmussen. Die anderen nahmen die Beine hoch: Auch wenn sie gerne das Loch schließen würden, hier fiel die Verantwortung eindeutig Jerdona Zeres zu, dem Titelverteidiger und Träger des Gelben Trikots.
Aber dieser tat nicht dergleichen. Der junge Baske schaute sich um. Wo waren seine Helfer? Sein Blick strahlte nicht Hilflosigkeit aus, es war ein Blick der kühlen Berechnung. Nicht sein Sieg war bedroht, der zweite Platz von Schmidt war in Gefahr. Fuhr er? Ließ er fahren? Zeres ließ sich einige Reihen zurück fallen. Dies war nicht der Test. Es war das erste Donnern eines Gewitters. Er würde nicht jetzt schon die Schlacht eröffnen.
Fabian schaute sich etwas verunsichert um. Was passierte? So war das nicht geplant. Seine Begleiter, sonst immer gute Ratgeber über den Kopfhörer, schwiegen. Er blickte in die ausdruckslosen Gesichter von Evans, Contador, Sastre. Sie alle pokerten. Der Einsatz war hoch. Und Zeres? Fabian schaute sich um. Da fuhr er!
Er blickte in ein frostiges Gesicht. Die feurigen Augen schienen ihn zu durchbohren. Der Deutsche hatte das Gefühl seine Gedanken offen zu legen. Ein wissendes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Mit einer Hand zog Jerdona die Sonnenbrille herunter und bedeckte sein Gesicht wieder. Er konnte warten. Er hatte die Situation unter Kontrolle. Leicht und elegant tänzelte er zurück zu Spitze der Gruppe, demonstrativ leicht an Fabian vorbei. Was sollte er tun?
Es war die erste echte kritische Situation in dieser Tour gewesen. Und er hatte gewonnen. Das Kim Kirchen schließlich nach vorne fuhr und seinen Triumph offensichtlich machte war eigentlich überflüssig. Sie hatten versucht, ihn nervös zu machen. Aber er hatte standgehalten. T-Mobile hatte nicht so starke Nerven wie er.
Der Vorsprung, der schnell auf rund eine Minute angewachsen war, stabilisierte sich. Und während die Gruppe die letzten Rampen vor dem Gipfel in Angriff nahm musste es auch dem letzten klar werden: Wer die Krone wollte, musste ihn direkt angreifen. Taktische Spielereien waren nicht sein Geschmack. Aber wer geglaubt hatte, dass die Schwäche seines Teams zu seiner eigenen werden würde, der hatte sich getäuscht. Auch ohne einen einzigen Fahrer im Kelme-Trikot in der Gruppe hatten seine Gegner es nicht vermocht, ihn aus der Reserve zu locken. Er hatte seine Trümpfe in der Hand und hielt sie.
Während er vor der Etappe gehofft hatte, bis zum Schlussanstieg in aller Ruhe rollen zu können, so gingen seine Hoffnungen nicht in Erfüllung: Noch ohne dass das eigentlich Duell eröffnet war hatte er schon den ersten Treffer einstecken müssen. Aber seine Gelegenheit würde kommen! Sein Ziel war ja ohnehin nur, heute ohne Zeitverlust das Ziel zu erreichen. Würde er es schaffen?
Bei Jerdona kehrte nun die pure Konzentration zurück. Die Strecke kannte er, die Stadt kannte er, den Anstieg kannte er. Es war nur noch eine Übung, die er abrufen und abspulen musste. Er schaute den Berg hinauf. Die kleine Straße verlief erst quer, dann längs zur Steigung. Durch das Dorf Encamp, welches den Anfangspunkt der Steigung bildete führte T-Mobile unterstützt von einigen anderen Teams. Nur Jerdona hatte keine Leute mehr, die er in die Führung schicken konnte. Auf der Abfahrt war dementsprechend der Vorsprung der Ausreißer auf fast zwei Minuten angewachsen. Sie hatten vorgelegt.
Da! Die letzte Kurve war erreicht, es ging in den Anstieg hinein. Jerdona hielt sich vorne in der Gruppe und beäugte seine Kontrahenten. Da keiner so recht führen wollte wurde aus der Kette an Fahrern eine breite Front, die den Berg hinauf walzte. Jerdona fuhr rechts am Rand und blickte unablässig zur Seite und nach hinten. Wann würde der Angriff kommen? Wer würde ihn starten?
Evans eröffnete den Reigen. Der Australier bewies wahren Heldenmut, in dem er angriff. Fabian sah zu, wie die gesamte Gruppe hinter ihm herstob. Er hingegen steigerte langsam sein Tempo. Er schaute auf seinen Tacho. Einen Kilometer gab er sich bevor er seine maximale Pulsfrequenz erreichen würde. Den Blick nach vorne. Abgehängte Fahrer die links und rechts an ihm vorbei rauschten. Den Blick nach unten. Schweißtropfen, hinab rinnend an seiner Nase.
Zeres hatte sein Hinterrad. Evans war ihm nicht entkommen. Aber es war wirklich nur der Auftakt gewesen. Noch bevor er in Führung gehen oder selber Angreifen konnte war ihm Contador schon zuvor gekommen. Der kleine Spanier raste förmlich nach vorne weg. Sogar er konnte nicht schnell genug reagieren. Schnaufend schloss Zeres die Lücke. Er schaute sich kurz um, nur um zu erkennen, dass er immer noch viel zu viele Begleiter hatte. Verfolger. Hinterradlutscher. Die große Selektion blieb heute aus.
Da hatte er Contador wieder eingeholt! Fast schon erleichtert ging er an ihm vorbei in die Führung. Keinen Gedanken verschwendete an einen Angriff. Froh, überhaupt für einen Moment Stabilität in die Situation gebracht zu haben beschränkte er sich darauf, weitere Attacken zu unterbinden. Es schien ihm, als habe er die Büchse der Pandora geöffnet: Eine hungrige Meute hinter ihm, eine blutrünstige voraus und eine tödliche in der Verfolgung. Er war umzingelt.
Tobias sank auf die Knie herunter. Um ihn herum schrieen und kreischten die anderen Reporter auf der Tribüne. Die riesen Leinwand an der Wand zeigte eben eine Großeinstellung von Jerdonas Gesicht. Der unbeteiligte Blick, den er noch am letzten Anstieg so erfolgreich gezeigt hatte, fehlte. Der Titelverteidiger schien angenockt! Während er in den Alpen das Feld noch nach Belieben dominiert hatte schien der Baske und ordentlich kämpfen zu müssen. Einen schlechten Tag konnte jeder einmal erwischen, aber konnte er sich ihn erlauben?
Nun war es eigentlich amtlich. Er machte Tempo. Für die anderen. Er griff nicht an. Seine Dominanz war fortgewischt, und das schon nach zwei Attacken, die er kontern musste. Würden sie Blut wittern? Heute war vielleicht die letzte Chance, ihm die Tour noch zu entreißen. Was sollte er tun?
Jerdona ließ sich zurückfallen. Aus der zweiten Reihe beschaute er sich die anderen Gesichter. Und er konnte ihnen die Überraschung anmerken. Diese Angewohnheit hatte er schon während anderer Rundfahrten praktiziert ebenso wie auf den ersten Bergetappen in den Alpen. Die Verwirrung war da. War er schwach? Wartete er? Forderte er sie heraus? Würde er gleich angreifen?
Wieder rollte er in die Führung und verlangsamte das Tempo ein wenig, wie als ob er die anderen einladen würde, es selber zu versuchen. Die Planlosigkeit war perfekt. Diese ganze Scharade kostete ihn zwar Zeit auf Schmidt, aber wenn er dadurch seinen schwachen Tag überbrücken konnte war es das Opfer wert. Ihnen standen noch zwei weitere Bergetappen bevor, genug, damit er den Sieg perfekt machen konnte.
Er konnte es nicht glauben. Wenn die Zeiten, die er über Funk übermittelt bekam, stimmten, dann war er nur noch 10 Sekunden hinter Zeres zurück. Unterbewusst versuchte er durch die Zuschauermengen etwas zu erahnen, vergebens. Er senkte seinen Kopf wieder, konzentrierte sich auf seine Pulsuhr und trat stur weiter.
Doch, es stimmte! Als er seinen Blick wieder hob konnte er eben noch einem Motorrad ausweichen, das er von hinten aufrollte. Augenblicklich richteten sich eine ganze Reihe an Objektiven und Kameras auf ihn. Heute schien sein Tag zu sein!
Wie von selbst fuhr er an der Gruppe vorbei. Und ging in die Führung. Als er sich umdrehte konnte er die Schmerzen auf den Gesichtern sehen. Auch Jerdona schien… ja, er schien tatsächlich zu leiden. Das Gelbe Trikot fuhr hinter ihm her und litt am Berg. Bei seinem Tempo!
Es war wie aus einem Alptraum. Er, der eigentlich mit Abstand stärkste Kletterer der Welt, litt hinter einem Zeitfahrer. Bergauf. Der moralische Schlag war enorm. Eben hatte Jerdona noch die Kraft und Motivation in sich gesammelt um einen Angriff zu wagen, nun musste er sich zusammen raufen um nicht abreißen lassen zu müssen. Er!
Als der Teufelslappen auftauchte, atmete er auf.
Wieder ein Blick zurück. Wieder das gleiche Bild. Sie alle fuhren hinter ihm, konnten oder wollten nicht schneller. Ihm war es einerlei. Sollte er versuchen, eine Lücke zu reißen? Nein, das war vermessen. Es genügte ihm, sie leiden zu sehen. Und leiden taten sie. Die letzten Kurven. Rasmussen hatte sich die Etappe geschnappt, hier gab es nichts zu holen. Trotzdem versuchte er, eine Art Sprint von vorne zu fahren. Dass es misslang und er in der Gruppe nur Dritter wurde störte ihn nicht weiter. Er hatte nicht nur keine Zeit verloren, er hatte diese Etappe mit bestimmt!
Hatte die Menge heute Morgen noch eine siegessicheren, euphorischen Zeres erlebt sah sie nun einen nachdenklichen. Er hatte keine wichtige Zeit liegen lassen, doch er hatte erfahren müssen, das zum einen die Tour noch nicht vorbei war und er zum anderen nicht unverwundbar war. Wenn er nur daran dachte, was hätte passiert können, wenn er die Attacke von Leipheimer mitgegangen wäre…
Er schüttelte es ab. Morgen würde er zurückschlagen und das ganze Feld würde seinen Zorn erleben!