Nr. 287 | Dienstag, 16. Dezember 2003
Erwartet – wie fast immer eine abwechslungsreiche Radsport-Saison 2004:
Hein Verbruggen, Präsident des Radsportweltverbandes. Foto: Gunter
Interview mit UCI-Präsident Hein Verbruggen
„Die letzten Plätze werden
erst kurz vor dem Start vergeben“
(hoff)
Die Radsportsaison 2004 steht direkt vor der Haustür – am 20. Januar startet mit der Tour Down Under das erste größere Rennen. Doch die Profiteams mussten schon bis zum vorgestrigen Sonntag ihre offiziellen Unterlagen, die hauptsächlich den finanziellen Stand beinhalten, beim Radsportweltverband (UCI) einreichen – zu früh, wie Hein Verbruggen meint, denn bei vielen Mannschaften wirken sich die kommenden zwei, drei Wochen noch stark auf die komplette Saison aus.
WZ: Seit zwei Tagen ist die UCI im Besitz aller Unterlagen der in der Saison 2004 fahrenden Profiteams. Gibt es bisher schon neue, überraschende Erkenntnisse?
Hein Verbruggen: Bei ein paar Teams sieht es in Sachen Finanzen äußerst schlecht aus, ein Startplatz in der GS-I steht deshalb auf extrem wackligen Füßen, doch dies sind einzig die Mannschaften, die bereits in der abgelaufenen Saison vorhersehbar waren. Unter den Teams gibt es daher keine Überraschung.
WZ: Steht daher auch schon ein fast komplettes Bild, was die Teilnahme in der ersten Division angeht?
Verbruggen: Nein, dieses Bild ist derzeit alles andere als komplett. Erst wenn konsolidiert ist, wie der Dopingskandal um Crédit Agricole und Jean Delatour, in Zukunft R.A.G.T Semences, endet. Außerdem erwarte ich noch einen Regen Betrieb auf dem Transfermarkt. Vor allem die neuen, teils finanzstarken Teams werden noch einmal ordentlich zuschlagen. Meine Blicke bleiben in diesem Punkt hauptsächlich bei dem Team GBC hängen.
WZ: Warum? Haben Sie sich von dieser Mannschaft bisher mehr erwartet?
Verbruggen: Ja, definitiv. Nach ersten Begutachtungen ihrer finanziellen Situation sind sie zu mehr in der Lage, als "nur" Fahrer wie Mayo, Hushovd und Flecha als Stars in ihrem Kader zu haben. Auch Telefonate mit Teamchef Eusebio Unzué testieren GBC deutlich mehr Potenzial. Die Verpflichtung von mindestens drei, vier, fünf Topfahrern, die bei gut besetzten Rennen zu den Besten gehören, sollte für sie noch drin sein.
WZ: Wo sehen Sie die Mannschaft momentan?
Verbruggen: Derzeit würde es mit einem GS-I-Startplatz eng werden, daher plädiere ich für Hinauszögerung der Vergabe. Und damit bin ich bei Gesprächen mit weiteren Protagonisten der UCI bisher auf ein positives Echo gestoßen. Wir sind uns einig mindestens, aber auch maximal bis Neujahr mit der Vergabe zu warten.
„Mein Tipp: Honchar holt den Giro, Armstrong die Tour, Heras die Vuelta“
WZ: Sie sagten, dass auch der Ausgang des Dopingskandals um Crédit Agricole und Jean Delatour eine entscheidende Rolle spielen wird – wie stehen Sie bisher zu den Onditen sowie bereits bewiesenen Tatsachen und in welcher Form wird das Ende Einfluss auf die Startplatz-Vergabe nehmen?
Verbruggen: Kann man beiden Teams Unschuld testieren, gehören sie beide in die erste Division – Crédit Agricole, da sie nicht abgestiegen sind, und R.A.G.T Semences, da sie bisher mindestens zehn Fahrer von Delatour übernommen haben. Dies würde ihnen automatisch einen Platz in der GS-I sichern. Um meine eigene Meinung notorisch preiszugeben, bin ich jedoch zu wenig in den Sachstand eingearbeitet – dafür haben wir bei der UCI unsere Spezialisten. Einzig kann ich sagen, dass allein schon aufgrund der teils bestätigten Gerüchte eine gewisse Diffidierung vorhanden ist.
WZ: Sie sind bekannt als jemand, der gern etwas Abwechslung in den Radsport bringen möchte. Was erwarten daher von der vor uns stehenden Saison?
Verbruggen: Meine Erwartungen sind wie immer: Der Radsport, so auch diese Saison, sollte so spannend und – wie sind bereits erwähnt – abwechslungsreich wie möglich sein. Speziell im Blick habe ich jedoch auch ein paar Mannschaften, die ich als Interessant ansehe – so zum Beispiel das Team CSC oder T-Mobile. Oder vor der Saison und dann unter Umständen auch während der Rennen, das Team GBC.
WZ: Zum Schluss noch ein Tipp vom Radsport-"Boss". Wer triumphiert im Gesamtweltcup, wer sind die Sieger der drei Grand Tours, und welches Team sowie welcher Fahrer wird die UCI-Weltranglistenwertung ganz oben beenden.
Verbruggen: Generell bin ich zwar ein schlechter Tipper, aber nun gut, ich versuche es mal. Den Gesamtweltcup holt entweder Bettini oder van Petegem aufgrund ihrer Erfahrung und Klasse. Den Giro gewinnt Honchar, da er noch dem Zeitfahren Rosa trägt, und ihm dies Flügel in den Dolomiten wachsen lässt; die Tour holt erneut Armstrong, da er einfach der Professionellste ist, und Ullrich erneut in Eskapaden hineingeraten ist; die Vuelta gewinnt erneut Heras, weil er der beste spanische Kletterer ist. Ein Tipp in Sachen Weltranglisten ist zwar noch schwerer, aber ich tippe mal auf Zabel in der Einzel- und Fassa Bortolo aufgrund von Petacchi in der Teamwertung.
WZ
Nr. 288 | 17. Dezember 2003
Transfermarkt
+++ Der gerade erst volljährig gewordene Neo-Profi
Valero Agnoli (19) hat als vierter Italiener einen Kontrakt beim Team GBC unterzeichnet. Im Kader der neugegründeten Mannschaft fehlt nach Sella, Marzoli, Agnoli und Bucciero (Altersschnitt: 20,5 Jahre) nun nur noch ein Fünfter ihrer Landsleute, um die von Sponsoren geforderten Handvoll Italiener unter Vertrag zu haben – die Teamleitung dementiert jedoch, dass Agnoli einzig aufgrund dieser Verpflichtung geholt wurde. "Er ist ein junger Mann mit Perspektive – das passt zu unserem Team", sagt Sportdirektor Fabian Rolff. Und auch Agnoli selbst fühlt sich nicht als Mittel zum Zweck: "Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass ich deswegen hier unterschreiben sollte." +++
"Wittgenstein pondered what time it could be on the sun (it was a nonsensical question, he concluded)." - The Economist