20.2.2008 (San Jose) – Alles auf Angriff:
„Heute könnte die Vorentscheidung fallen!“ Mit diesem Satz eröffnete Michael Ball heute morgen die Team-Besprechung im Mannschaftsbus. „Wenn wir in den beiden schweren Anstiegen mit voller Kraft von vorn fahren und das Feld zerreißen, dann verringert sich der Favoriten-Kreis fast automatisch und dann müssen Tyler und Santiago am Ende nur noch selbst attackieren um das Gelbe zu festigen.“, erklärte er uns seine Vorstellungen von einem idealen Renn-Verlauf zwischen Modesto und San Jose. Dass es, auch am Berg, verdammt schwer ist, Leute wie Fabian Cancellara abzuhängen, hatte unser Big Boss wohl geschickt verdrängt. So oder so, unsere Aufgabe war nun klar: Am Mont Hamilton sollten wir uns die Lungen aus dem Leib fahren um das Feld zu verkleinern und den finalen Schlag des Kapitäns-Duos auf der Sierra Road vorzubereiten. Ich war bezüglich der Strategie eher skeptisch, hielt aber brav meinen Mund und beteiligte mich schließlich dann auch an der brutalen Tempo-Jagd zum und schließlich auch am Mont Hamilton.
Was ich an der Spitze des Feldes zunächst nicht mitbekam: Die Idee von Ball funktionierte tatsächlich. Nicht einmal die Hälfte des Anstiegs zu Tylers Namensvetter war absolviert, als unser Chef per Funk vermeldete, dass sowohl Cancellara, als auch Sastre in Problemen waren. Ich traute meinen Ohren nicht, legte aber trotzdem noch einen Zahn zu. Erst kurz vor dem Gipfel nahm ich ein paar Tritte raus und schaute mich etwas intensiver um, als noch in den letzten Minuten, als ich höchstens die drei, vier Fahrer direkt um mich herum wahr genommen hatte. Was ich sah verblüffte mich total: Höchstens 15 Mann waren noch an meiner Seite – darunter natürlich Tyler und Santiago, aber auch Victor, der die meiste Zeit mit mir zusammen das Tempo bestimmt hatte. Es ist kaum zu glauben, aber meine Form ist tatsächlich schon gut genug um an einem schweren Anstieg das Feld auseinander zu fahren!
Da sich sonst niemand dafür zu interessieren schien, konnte ich mir die Punkte an der Bergwertung holen, ohne darum sprinten zu müssen und dann ließ ich mich um ein paar Positionen zurück fallen um die Gruppe in der Abfahrt nicht aufzuhalten. Wenn ich jemandem hinterher fahren kann, dann traue ich mir zwar auch bergab schon wieder sehr hohe Geschwindigkeiten zu, aber wenn ich selbst das Tempo vorgeben muss, dann siegt die Angst noch immer über den Siegeswille.
Nach der Abfahrt und einem kurzen Flachstück stand dann der entscheidende Anstieg auf der Sierra Road an. Wir wollten die Vorstellungen unseres Arbeitgebers erfüllen und deshalb gaben Hugo und ich auch jetzt wieder ununterbrochen das Tempo vor. Zwar konnte auch die Astana-Mannschaft neben ihrer Doppelspitze aus Gusev und Titelverteidiger Leipheimer noch zwei weitere Fahrer aufbieten, doch die Jungs schienen kein großes Interesse an einem höheren Tempo zu haben. Dass es ein taktischer Fehler war, sich in dieser Situation voll aufzuopfern, lernten wir einige Minuten später, als Vladimir Gusev attackierte und wir bereits einige Körner verschossen hatten, die uns in der Verfolgung nun eine große Hilfe gewesen wären.
Wir konnten dem Russen zunächst nichts entgegensetzen und mussten hoffen, dass er sein hohes Tempo nicht bis zum Ende würde halten können, da Gusev in der Gesamtwertung nur 9 Sekunden hinter Tyler zurück lag. Als sich dann auch noch Levi Leipheimer anschickte, uns alle stehen zu lassen, übernahm Tyler höchst persönlich die Verfolgung. Er spannte sich an die Spitze der Gruppe, erhöhte das Tempo und entledigte sich sofort aller Begleiter, die kein Rock-Racing-Trikot trugen. Chris Horner, Janez Brajkovic, Kim Kirchen, George Hincapie, Joost Posthuma, Wim Van Huffel, Paolo Bettini, Jens Voigt und leider auch Victor Hugo Pena mussten reißen lassen, aber sowohl Santiago Botero, als auch ich konnten gerade noch den Kontakt halten.
Santiago und Tyler wechselten sich jetzt mit der Führungsarbeit ab, während ich einfach nur mit aller Kraft versuchte ihre Hinterräder zu halten. Ich wollte mit ihnen über den Gipfel fahren um erstens im flachen Finale nochmal helfen zu können und zweitens für mich selbst noch ein paar Bergpunkte zu sammeln. Meinen Berechnungen zufolge war ich dank des Mont Hamiltons inzwischen nämlich auf bestem Weg ins Bergtrikot.
Nach einiger Zeit hatte ich mich ein wenig erholt und so gelang es mir tatsächlich bei meinen Kapitänen zu bleiben. Kurzzeitig konnte ich sogar etwas Führungsarbeit verrichten und glücklicherweise schafften wir es gemeinsam, Leipheimer und Gusev noch im Anstieg zurück zu holen. Die Belohnung für meinen enormen Kraftaufwand bestand aus 12 weiteren Punkten und vor allem einer bedeutend ruhigeren Abfahrtsweise meiner Mitstreiter. Im Tal angekommen betrug der Vorsprung zur ersten großen Verfolgergruppe knapp 90 Sekunden und so waren die Aussichten auf Vollendung des „Ball-Plans“ gar nicht mal so schlecht. Wir teilten uns die Führungsarbeit zu fünft gleichmäßig auf und so war bereits 10 Kilometer vor dem Ziel klar, dass es reichen würde.
Jetzt ging das Taktik-Geplänkel los. Weil wir zu dritt waren und die Astana-Jungs nur zu zweit, opferte ich mich für den Großteil der Führungsarbeit auf den folgenden Kilometern auf und die anderen konnten sich hinter mir ein wenig ausruhen. Doch etwa 1500 Meter vor dem Ziel hatte Vladimir Gusev scheinbar gar keine Lust mehr, sich auszuruhen. Er überraschte uns nach einer leichten Linkskurve und kam aus der Lauerstellung von ganz hinten mit gehörigem Tempo an uns vorbei geschossen.
Natürlich ging Leipheimer nun überhaupt nicht mehr in den Wind, aber auch ohne ihn hätten wir es zu dritt eigentlich schaffen müssen, Gusev auf den verbleibenden 1400 Metern zurück zu holen. Doch der Russe war zu stark! Er zog unwiderstehlich dem Ziel entgegen baute seinen Vorsprung zunächst sogar noch ein wenig aus und brach erst auf den letzten 300 Metern ein. Tyler kam sprintender Weise zwar noch verdammt nah an den Etappensieger heran, doch für unseren Leader blieb nur Rang zwei vor Levi Leipheimer.
Ich rollte hinter Santiago auf den fünften Platz und strahlte im Ziel über das ganze Gesicht. Meine Leistung an diesem ersten richtig harten Tag der Saison hat mich total überrascht. Beim Prolog-Zeitfahren scheine ich tatsächlich nur einen „schlechten Tag“ erwischt zu haben. Jetzt jedenfalls befinde ich mich fast schon wieder auf der Siegesstraße. Immerhin durfte ich vorhin zum ersten Mal seit meinem Comeback an einer Siegerehrung teilnehmen – als Träger des Bergtrikots. Ich weiß nun, was ich während meiner Auszeit vom Rennsport besonders vermisst habe: Das Gewinnen!
Tour of California - 4. Etappe:
1 Vladimir Gusev Astana Cycling Team 4h14'26
2 Tyler Hamilton Rock Racing s.t.
3 Levi Leipheimer Astana Cycling Team s.t.
4 Santiago Botero Rock Racing s.t.
5 Rot Rigo Rock Racing s.t.
6 Chris Horner Astana Cycling Team + 43
7 Pierrick Fédrigo Bouygues Télécom s.t.
8 Carlos Sastre Team CSC - Saxo Bank s.t.
9 George Hincapie Team Columbia s.t.
10 Jérôme Pineau Bouygues Télécom s.t.
Tour of California - Gesamtwertung:
1 Tyler Hamilton Rock Racing 13h01'25
2 Vladimir Gusev Astana Cycling Team + 1
3 Levi Leipheimer Astana Cycling Team + 13
4 Santiago Botero Rock Racing + 25
5 Kurt-Asle Arvesen Team CSC - Saxo Bank + 59
6 Joost Posthuma Rabobank + 1'01
7 Rory Sutherland Health Net presented by Maxxis + 1'07
8 Johan Van Summeren Silence - Lotto s.t.
9 Stuart O'Grady Team CSC - Saxo Bank + 1'09
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58 Rot Rigo Rock Racing + 8'43
Tour of California - Bergwertung:
1 Rot Rigo Rock Racing 32
2 Tyler Hamilton Rock Racing 22
3 Vladimir Gusev Astana Cycling Team 21
4 Santiago Botero Rock Racing 16
5 Benjamin Day Toyota - United Cycling 15