9.2.2008 (Donoratico – Toskana) – Das erste Mal:
Gestern Abend saß ich in San Vincenzo, dem Startort des GP Costa degli Etruschi in meinem Hotel-Zimmer, schaute aus dem Fenster und träumte vor mich hin. Mario, mit dem ich mein Zimmer in dieser Woche in Italien teile, war noch mit den Anderen in der Stadt unterwegs, aber ich wollte allein sein. In meinem Kopf kreisten die Gedanken immer wieder um das, was heute anstehen sollte: Mein erstes Mal, das erste Rennen nach fast 16 Monaten Pause. Mein Gemütszustand wechselte minütlich von Angst zu Vorfreude und wieder zurück. Ich freute mich darauf, endlich wieder Rennen fahren zu können, aber ich fragte mich auch, was passieren würde, wenn ich mitten im Feld, Lenker an Lenker mit der Konkurrenz in eine enge Abfahrt gehen müsste. Was, wenn ich wieder stürzte? Was, wenn ich doch noch nicht fit genug wäre um im Renntempo mithalten zu können? Ehrlich gesagt überwogen die Ängste ein wenig. Aber ich war froh, dass es eben „nur“ ein Rennen der Continental-Tour war und nicht direkt ein Pro-Tour-Wettbewerb. Letztendlich machte ich mir klar, dass es keine Schande sein würde, mit einigen unbekannten Kollegen abgehängt zu werden und vielleicht mit großem Rückstand im Ziel anzukommen.
Als Mario von seiner Stadt-Tour zurück kam, war meine Stimmung schon wieder gelöster. Wir quatschten ein wenig über belanglose Dinge und gingen zeitig ins Bett. Schließlich hatte nicht nur ich morgen großes vor. Mario wollte in Italien auch den Tifosi zeigen, dass er im hohen Alter noch immer zu den besten Sprintern der Welt gehört. In den Jahren 1998 und 2000 hatte er den Großen Preis an der Etruskerküste bereits gewonnen, aber das war lange her. Sein Comeback bei der Tour Down Under hatte funktioniert, aber hier zählt das nicht. „In Italien zählt, was du in Italien erreichst“, erklärte Mario mir kurz bevor wir die Augen schlossen. Für mich heißt das, dass man mich in diesem Land kennen dürfte. Immerhin war ich vor knapp drei Jahren bereits dritter beim, für die Italiener, wichtigsten Radrennen der Welt: Dem Giro. Wieder kamen gemischte Gefühle in mir hoch. Einerseits freute ich mich darauf, vielleicht erkannt und angefeuert zu werden, auf der anderen Seite aber stand wieder die Angst vor dem abgehängt-werden. Wenn man mich unter den ganzen Underdogs im hinteren Feld als einzigen erkennt, dann ist die Schmach der schwachen Leistung um so größer, dachte ich. Dann schlief ich ein.
Heute Morgen veränderte sich meine Sichtweise schlagartig. Es lastete keinerlei Druck mehr auf meinen Schultern. Denn erstens nahm Mario in der Mannschaftsbesprechung sämtliche Verantwortung für das Abschneiden unseres Teams auf sich, zweitens begrüßten mich die Leute sehr herzlich und drittens spürte ich, dass die italienische Öffentlichkeit von mir überhaupt nichts erwartete. Viel mehr wäre es erwartungsgemäß, wenn ich als Langzeitverletzter die Ziellinie mit großem Rückstand überqueren würde, so schien es mir. Meine Leistung war egal, hauptsache ich war wieder an Bord.
Das Rennen führte uns über 177 weitgehend flache Kilometer von San Vincenzo nach Donoratico auf die Via Aurelia. „300 Meter vor dem Ziel erwartet uns eine enge Rechtskurve“, informierte uns Michael Ball vor dem Start. „Cipo sollte hier an einer der vordersten Positionen durch kommen, wenn er Siegchancen haben will, die Anderen aber sollten lieber weiter hinten fahren, wenn sie nicht zu viel Sturz-Risiko eingehen wollen.“ Mario wusste das natürlich, aber für alle Anderen war diese Information enorm wichtig. Unnötige Risiken wollten wir nämlich nicht eingehen. So lautete mein Motto dann schließlich den ganzen Tag über. Ich hielt mich weit hinten im Feld auf, genoss das tolle Wetter, unterhielt mich und strahlte über das ganze Gesicht, wenn ich mich umsah. Es war ein tolles Bild, das sich mir offenbarte: 150 Rad-Rennfahrer in bunten Trikots – live in Farbe und zum anfassen nah vor mir. Viel besser als im Fernsehen!
Mit dem Ausgang des Rennens hatte ich nichts zu tun, aber ich kam zeitgleich mit der Spitze im Hauptfeld als 105. ins Ziel und bin damit sehr zufrieden. Sportlich interessanter war aber das, was meine Teamkollegen leisteten. Rund 30 Kilometer vor Donoratico befand sich immer noch eine recht große Ausreißergruppe um Zeitfahrspezialist Sebastien Rosseler mit mehr als zweieinhalb Minuten Vorsprung an der Spitze. Wenn Mario um den Sieg fahren wollte, war es nun Zeit zu reagieren und prompt kam der Funkspruch von Mr. Ball: „Doug, Cesar und Sergio? Spannt euch bitte vor das Feld und fahrt volles Rohr! Wenn ihr diesen Rosseler und seine Kumpane eingeholt habt, könnt ihr Feierabend machen.“ Das war eine klare Ansage. Von mir erwartete er, Gott sei Dank, keine Beteiligung an der Nachführarbeit, aber Ollerenshaw, Grajales und Hernandez waren nun gefordert. Sie folgten den Anweisungen vom Chef, gaben alles und verkürzten den Abstand zur Spitze sehr schnell.
Genau wie angesagt, holten sie die Ausreißer unter Mithilfe einiger anderer Teams rechtzeitig zurück und ließen sich dann etwas ins Feld zurück fallen. Jetzt war Mario selbst gefragt. Wir hatten uns am Morgen darauf verständigt, dass es keinen Sinn machen würde, einen Zug aufzubauen, weil wir keinen echten „Sprint-Anfahrer“ dabei hatten. Mario sollte sich stattdessen an den Haupt-Konkurrenten orientieren – an Danilo Hondo, Filippo Pozzato und Matteo Tosatto. An der Flame Rouge hatte er dann sein Hinterrad gefunden. „Il leone“ biss sich am Hintern von Liquigas-Sprinter Pozzato fest und schoss auf der linken Straßenseite an der Konkurrenz vorbei. Vorn lancierte Quick Step den Sprint für Tosatto und als es in die letzte Kurve ging, war klar, dass der Sieg an einen Italiener gehen würde. Mario zog rechts neben Pozzato und flog an zweiter Stelle durch die Engstelle.
Nur Tosatto war jetzt noch vor ihm und der Quick Step-Mann verlor auf den letzten Metern deutlich an Geschwindigkeit. Er war zu früh im Wind gewesen und hatte nun keine Kraftreserven mehr. Cipo ging problemlos vorbei und feierte seinen vierten Saison-Sieg. Den ersten auf italienischem Boden und somit den ersten, „der wirklich zählt“. Unser Mannschaftskapitän ist endgültig angekommen – zurück im Profi-Radsport.
Ich habe bis dahin noch einen weiten Weg zu gehen, aber der heutige Tag hat mir Hoffnung gemacht. Ich konnte im Hauptfeld bleiben, hatte keine großen Probleme mit dem Tempo und bin gut aufgenommen worden. Das war ein weiterer großer Schritt in die richtige Richtung!
Ergebnis:
1 Mario Cipollini Rock Racing 4h03'10
2 Matteo Tosatto Quickstep s.t.
3 Filippo Pozzato Liquigas s.t.
4 Danilo Wyss BMC Racing Team s.t.
5 Luciano Pagliarini Scott - American Beef s.t.
6 Claudio Corioni Liquigas s.t.
7 Gorik Gardeyn Silence - Lotto s.t.
8 Gabriele Balducci Acqua e Sapone - Caffe Mokambo s.t.
9 Danilo Hondo Serramenti PVC Diquigiovanni s.t.
10 Alberto Loddo Tinkoff Credit Systems s.t.
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105 Rot Rigo Rock Racing s.t.