Ein langer Weg

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Barnetta
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Beitrag: # 6734416Beitrag Barnetta
6.9.2008 - 10:02

In einem Stück durchgelesen und einfach nur klasse. Gefällt mir bisher sogar besser als Jerdona Zeres. Ich sehe praktisch die Bilder aus Eusébio's Leben vor mir, fühle richtig mit. Ein Radsport-Roman ... Werd Schriftsteller, Mensch! :)

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arkon
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Beitrag: # 6734429Beitrag arkon
6.9.2008 - 11:47

Der Fahrtwind pfiff ihm um die Nase. Den Mund weit geöffnet sog er Zug um Zug der ihm entgegenströmenden Luftmassen ein. Seine Zunge lag ausgedörrt in seinem Mund herum, die Zähne brannten, konfrontiert mit dieser plötzlichen Kälte. Seine Muskeln pochten weiter, angetrieben vom langsam verhallenden Puls seines Herzens, welches die kochenden Blutmassen durch seine Adern trieb.
Die Abfahrt nach einer längeren, anstrengenden Steigung war immer eine Abwechslung vom vorhergehenden, oft monotonen Rhythmus, ob willkommen oder nicht. Eusébio Pineda war gefangen, festgehalten in der Situation, in der Vielzahl der Sinneseindrücke, die auf ihn einströmten. Und doch war er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Er dachte nicht über sein Leben nach, nicht über die Situation, in der er sich befand. Er konzentrierte sich auf sich selbst. Beim Radfahren gelang ihm ab und an dieses schwierige Unterfangen: Was wollte er? Was dachte er?
Momentan pulsierte sein Geist, rastlos, im Verlangen nach der nächsten Steigung. Seine Muskeln, noch warm und pochend, schmerzten mehr da er ihnen nun die Belastung geraubt hatte als noch eben, da er sie Berg hinauf gezwungen hatte. Aber das war nur die eine, die offensichtliche Ebene.
Jetzt, da es außerhalb von ihm nichts gab, was nennenswert Einfluss auf ihn gehabt hätte, konnte er eine Ebene tiefer gehen, lauschen. Was trieb sein Unterbewusstsein? Was ging tief in ihm herinnen vor? Im Rest seines Lebens erlebte er sich als Impulsiven Menschen, als Sklaven seiner Triebe, Wünsche und Ziele. Er ging jedwedem Verlangen nach, das aus den tiefen seines Geistes geboren wurde. Doch um welche zentralen Gedanken, aus welcher Betrachtung der Welt wurden diese geboren?
Das Radfahren half, wenigstens für einen kleinen Teil seiner Zeit den Strom aus der Tiefe zu dämpfen und hinab zu lauschen. Was ging da in ihm vor?
Das, was er als erstes wahrnahm, war eine große Anspannung. Er erkannte diesen Gedanken wieder, seine Essenz. Woher, wann war er ihm aufgefallen? Es mussten seine Träume sein, dort hatte er diese Anspannung schon bemerkt. Oder beim Sex? Er konnte es nicht mehr genau einordnen. Aber diese drohende Zerrissenheit zwischen mehreren Punkten, sie kam ihm sehr bekannt vor.
Die Punkte, zwischen welchen sich die Spannung aufbaute, waren für ihn selbst sonnenklar. Radfahren, Bandenleben, sein Sexualtrieb und seine Mutter. Seine Mutter? Ja, auch seine Mutter gehörte in diese Aufzählung hinein. All das waren die Haken, zwischen denen er sein Leben befestigt hatte. Anfangs vielleicht noch stabil, lose. Nun aber, da die eben noch fixen Befestigungen auseinander drifteten wurde sein Leben zum Spielball zwischen seinen eigene Eckpunkten.
Er selbst hing im Leerraum, an diesen Haken befestigt, und doch alleine, nur entfernt mit ihnen im Kontakt. Und immer länger und dünner wurde er selber. Ausgemergelt. Er fühlte, dass ihm die Energie abhanden ging, um sich gleichmäßig in dieser Konstruktion bewegen zu können. Einige Punkte würde er kappen müssen. Wenigstens einen.
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arkon
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Beitrag: # 6734765Beitrag arkon
7.9.2008 - 18:46

Dead man walking. Es schossen ihm dutzende nutzlose Phrasen durch den Kopf, als er nach dem Sportunterricht zu Marc hinüber ging. Die ganze Stunde lang war er alles andere als konzentriert gewesen, hatte einige Male verträumt einen Pass auf ihn nicht bemerkt und hatte dem Ball nur noch hinterher schauen können als er ins Aus kullerte. Das war nicht er. Das sah ihm nicht ähnlich.
„He Marc!“ begrüßte er ihn. Sie tratschten hier und darüber, lange um den heißen Brei herum. Schließlich bemerkte der Lehrer, das der Schüler was im Sinn hatte.
„Was ist es? Frag. Jetzt und gleich!“
Seine massige Erscheinung stand dicht vor ihm, voller Energie, nicht bedrohlich, nicht beschützend. Unberechenbar und doch freundlich vielleicht.
„Ich hab ein Problem.“ Er riss kurz die Geschichte vom Wochenende an und schloss mit den Worten. „Ich habe keine Rennen mehr, um mich dort hinein zu tasten. Ich muss hart und unerbittlich trainieren. Daher wollte ich dich fragen, ob ich nicht für ein paar Wochen in dein Ferienhaus einziehen kann, wo es für mich dann nur den Radsport und sonst nichts gibt. Du weißt, ich würde die Zeit zum Training nutzen!“
Marc nickte langsam. Er wusste von der überraschend guten Trainingsmoral seines Schützlings.
„Ausgeschlossen. Du weißt, ich könnte es vor der Schule nie verantworten, dich so lange vom Unterricht fernzuhalten.“ Er fand tröstende Worte, in denen er die Bedeutung der Schule und die des Radfahrens abwiegelte. Dann drehte er sich um. Und erst hier begriff sein alkoholgetränktes Gehirn. Im weggehen blickte er zurück, seine trüben, graublauen Augen auf den kleinen, dunklen Jungen gerichtet.
„Das ist doch nicht alles?“
Eusébio ließ den Kopf hängen. Jetzt galt es!
„Es gibt da diese Gerüchte. Du weißt, ich bin nur in den Gangs, um nicht zu viel Ärger zu bekommen, um besser trainieren zu können“ Marc war blind genug, als das er sich diese Lüge auch selbst einredete und die Wahrheit, den Spaß, den Kick, den Eusébio aus diesen Geschichten zog, zu ignorieren. „Drogen. Das ist das ganze Geheimnis. Sie werden kommen, sie werden unser Viertel überschwemmen. Und ich will weg, bevor wir anfangen, uns echt blutige Kriege zu liefern.“
Er sah ihn an, verschüchtert und bittend. Lange hatte er vor dem Spiegel üben müssen für dieses Gesicht. Fast alles seiner Härte, seines Zynismus hatte er aus seinem Blick getilgt. Und er verfehlte seine Wirkung nicht. Marc seufzte.
„Du weißt, wie ungern ich von der Schulleitung Gefallen einfordere. Und wie ungern ich dich vor anderen verteidige. Ich will nicht der Grund sein, warum du an dieser Schule bleibst. Ich will deine sportlichen Ambitionen fördern.“ Eusébio nickte verstehend. Natürlich wusste er das und verstand seine Zerrissenheit. Aber am Ende zählte nur, das er ja sagte.
„Ja“
Er hatte ihn!
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arkon
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Beitrag: # 6735372Beitrag arkon
10.9.2008 - 21:37

Die Hinreise war ihm selber überlassen. Marc gab ihm den Schlüssel und sein Wort, sich um die Schulleitung zu kümmern. Nachdem er die Ersparnisse seiner Mutter geplündert hatte, nicht ohne enttäuscht feststellen zu müssen, das einige ihrer Bekanntschaften auch schon vor ihm auf diese Idee gekommen waren, blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, um an Geld zu kommen. Er hatte es schon getan, immer mit einem äußerst unguten Gefühl, hatte aber bislang Glück gehabt.
Er ging zu Carlito, um ihn um Hilfe zu bitten. Es war längst fällig, und er hatte sich davor gedrückt. Er musste seinem Bandenchef erzählen, was er plante. Wie ein Hund zum Schafott schlich er sich abends zu seinem Haus. Die Bude, in der seine Familie hauste, war noch um Welten verfallener als sein eigenes Heim. Nicht viele kannten seine Adresse, und ihn zu Hause ohne Einladung zu besuchen war nur den Wenigsten gestattet. Einer der Geschichten, die man sich erzählte, sah einen uneingeladenen Besucher mit gebrochenen Beinen am nächsten Morgen vor dem Schultor liegen. Um ihn herum eine Lache aus Blut, Erbrochenem und seinem eigenen Urin. Zahlreiche Schürfwunden am ganzen Körper warfen Fragen auf, die aber niemand zu stellen wagte. Aus solchen Erzählungen wuchs der Ruhm und die Autorität ihres Anführers, die sich auch auf andere Gangs erstreckte. In ihren Straßen war Carlito einer der ganz großen. Und er war dabei, in seinen Privatbereich einzudringen.
Er schob den Gedanken beiseite und versuchte, wieder das unbewegliche, gefährliche Gesicht aufzusetzen, das er sich im Gefängnis antrainiert hatte. Damals hatte es ihm viel Ärger erspart, hoffentlich würde es das heute auch tun.
Seine Mutter, eine ältere, gebückt gehende Frauen mit wirren, grau-weißen Haaren öffnete die Tür. Überraschend forsch fuhr sie ihn an, was er hier wolle. Er nannte den Namen ihres Sohnes und einen prüfenden Blick später gab sie den Weg ins Haus frei. Sie brüllte seinen Namen, während Eusébio die Treppe hinauf ging. Der Gerufene schwang seine Tür auf, die Stirn in Furchen und äußerst ungeduldig drein blickend. Als er seinen Vertrauten erblickte fielen seine Augen wieder in diesen nicht zu deutenden Blick zurück.
„Keine Überraschung“ stellte er klar, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Er bat ihn herein, wies ihm einen Stuhl und kam sofort zur Sache.
„Dass Lehrerzimmer ist einer der wenigen Räume in der Stadt, in der ich noch mehr als ein paar Ohren habe. Du willst fliehen? Warum bist du damit nicht zuerst zu mir gekommen?“
Weil ich Angst habe, drängte es ihn zu sagen.
„Ich wollte erst sicher sein, das diese Alternative überhaupt existiert. Ich will dich nicht belasten mit meiner Flucht.“ Glaubte er es? Unmöglich, es zu sagen.
„Und warum bist du hier? Brauchst du Geld?“ Eusébio nickte langsam. Er kam sich vor wie ein Bettler. Carlito lachte.
„Dir braucht das nicht peinlich zu sein. Sein Leben nicht für unsinnige Sachen riskieren zu wollen zeugt von Klugheit. Und das du meine Hilfe brauchst ist kein Geheimnis.“ Er hielt einen Moment inne. „Du sollst deine Gelegenheit erhalten, dir das Geld zu verdienen. Ich brauche noch ein letztes Mal deine Hilfe. Heute Nacht werden wir einen ersten Schritt unternehmen, um uns günstig am Drogenmarkt zu positionieren.“ Das Wort alleine jagte ihm einen kleinen Schauder über den Rücken.
„Wir werden uns mit einem anderen Händler treffen. Er hat sich bereit erklärt, uns seinem Kontaktmann vorzustellen. Das wird unsere Chance sein, unser Fuß in der Tür zum Ballett der Großen!“ Das leichte Funkeln, die Gier in seinen Augen war unübersehbar. Einer der wenigen Male, das Carlito durchschaubar war. Diese raren Augenblicke waren nur seinen engsten Freunden gegönnt.
„Morgen Abend werde ich dich abholen kommen. Wir fahren nach Norden. Auf Höhe der Ten Mile Road treffen wir den Mann. Er ist in dieser Gegend aktiv, also kein Konkurrent von uns. Er wird uns zu einem Motel lotsen, wo wir seinen Kontakt treffen. Ich werde genug Geld mitnehmen um ihm eine kleine Portion direkt da abkaufen zu können. Das wird dann der Test an uns sein, ob unser Netzwerk funktioniert. Wenn du mitkommst und mir Rückendeckung gibst werde ich dir das nicht vergessen.“
Eusébio nickte langsam. Ihm war klar, was das bedeutete. Finanziell und persönlich. Was ihm aber auch klar war waren die Maßstäbe, an die sie sich Morgen stellen würden. Berufskriminelle, das war eine Kategorie. Drogenhändler eine ganz andere.
Er streckte ihm die Hand hin und sie schlugen ein. Es war abgemacht.
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arkon
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Beitrag: # 6735712Beitrag arkon
13.9.2008 - 1:28

Am nächsten Abend stand Eusébio bereit. Er saß in seinem Zimmer, trug weite, dunkle Klamotten, eine warme Jacke und hatte alle Waffen, die er hatte, in seiner Kleidung versteckt. Das Licht war aus, so dass er durch die Scheibe hinaus in die Nacht blicken konnte. Wollte er das wirklich durchziehen? Eine Schießerei mit einigen anderen Jugendlichen war eine andere Kategorie. Das heute bedeutete seine erste Bekanntschaft mit organisierter Kriminalität. Wenigstens außerhalb von Gefängnismauern. Er schluckte. Das konnte nicht der Weg hinaus aus seiner Situation sein. Und doch... Er war es. Unten läutete es. Er hörte die Schritte seiner Mutter, die Stimme von Carlito. Es ging los.
Sie fuhren schweigend. Eusébio hatte sich aus dem Kofferraum zwei Pistolen genommen und trachtete danach, die Fahrt damit zuzubringen, an ihnen herumzuspielen. Immer wieder lud er sie durch, zielte durch die Windschutzscheibe auf die vorbei ziehenden Straßenlaternen, sicherte die Waffe und baute sie klickend auseinander. Kein Staubkorn, kein Krümel durfte daran sein. Immerhin ging es um sein Leben. Und um Carlitos.
Ihr Kontaktmann wartete an einer Tankstelle auf sie. Zusammengesunken saß er auf einer kleinen Betonmauer, die Hände in den Taschen um sich gegen die hereinbrechende Kälte zu schützen. Das Neonlicht der Zapfsäulen reichte nicht aus, um sein Gesicht zu erhellen. Eusébio erhaschte nur die kantigen Umrisse seiner Nase, seines Kinns.
„Ihr seid spät.“ Krähte er anklagend durch den Wagen, als er einstieg. Carlito drehte sich um und blickte ihn bohrend an. Sofort wurde es hinten still. Eusébio meinte, ein Schlucken zu vernehmen. Es war klar, wer von den beiden den Ton angab und warum sie überhaupt die Möglichkeit erhielten, seinen Händler kennen zulernen.
„Wohin geht es?“ sagte sein Anführer schließlich, Eis in seiner Stimme. Es war nicht der befehlsgewohnte Ton, es war ein nicht mehr nur unterschwellig drohender.
Statt einer Antwort drehte sich der Mann zu Eusébio um, gab ihm die Hand und stellte sich als Bill vor. Doch er tat es Carlito nach, sah den kleinen Straßendealer auf Rückbank abwertend an und ließ die ihm gebotene Hand in der Luft schweben. Schließlich, nach einer rhetorischen Pause, nannte auch er seinen Namen. Seufzend sank Bill in seinen Sitz zurück, wohl sein Schicksal akzeptierend, heute Abend keine Freunde gewinnen zu können.
Dementsprechend einsilbig wies er ihnen den Weg, hinaus aus der Stadt, weg von der neonbeleuchteten Wirklichkeit Detroits. Es ging über einige Highways, kleinere Sträßchen. Eusébio gewann den Eindruck, dass er sie absichtlich einen Umweg lotste um ihnen die Orientierung zu nehmen. Was ihn anbetraf wäre das gar nicht nötig gewesen, dachte er grimmig in sich hinein. Schließlich hielten sie vor einem großen, geschäftigen Motel, dessen verfallene Gebäude sich weithin verzweigten. Viele Laster standen auf den Parkplätzen herum. Zeugen und Fluchtwege, das mussten die Gründe für diesen Ort sein.
Als sie ausstiegen spürten sie schlagartig, wie kalt es doch noch war. Obwohl die Jahreszeit eigentlich höhere Temperaturen versprach kämpfte sich der Winter nachts doch immer wieder zurück. Sie mummelten sich tief in ihre Pullover ein und stapften über den schummrig gelb erleuchteten Parkplatz. Das klirren der Dampflampen begleitete sie.
Bill führte sie zu einem abseits stehenden Gebäude, das eingeschossig war und sich etwas hinter den anderen versteckte. Drei Wagen standen davor, alle neu und unansehnlich, unauffällig. Er klopfte.
Die Kälte biss jetzt richtig, während sie auf irgendeine Reaktion warteten. Was war auf der anderen Seite der Tür? Sein Geld, sein Untergang? Eusébios Herz schlug schneller. Bill klopfte noch einmal, diesmal energischer.
Schließlich hörten sie von innen Schritte.
„Wer ist da?“ polterte eine tiefe Stimme.
„Bill“ kam die Antwort, ein wenig zögernd.
Eine Weile passierte gar nichts, von drinnen hörte man leises Gerede. Dann wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Eine Hand gebot ihnen, einzutreten. Nacheinander schlüpften sie durch den engen Spalt, erst Bill, dann Carlito und schließlich Eusébio.
Innen wurde er sofort an die Wand gepresst. Ein bulliger Mann mit Glatze und mehreren Tätowierungen, eben noch vor ihm, glitt geschickt beiseite und drückte ihm eine Waffe an die Schläfe. Er fühlte den kühlen Stahl. Die Angst umklammerte ihn. Dennoch sah er sich aufmerksam um.
Der Raum war klein. Immerhin fünf Männer standen herum. Vier hatten ihre Waffen gezogen und auf sie gerichtet. Misstrauen und Anspannung stand in ihren Blicken. Nur einer, offenbar ihr Anführer, stand unbewaffnet in der Mitte des Raums. Er musterte sie eingehend. Carlito hatte sich als erster von ihnen wieder im Griff und drückte Bill, der eben erklärend vor schießen wollte, zurück an die Wand.
„Ich bin Carlito, das ist Eusébio“ stellte er sie vor, ging ohne zu zögern auf den Unbewaffneten zu und streckte ihm die Hand hin. Sechs Augenpaare hingen an ihnen. Einen Moment zögerte sein Gegenüber, dann schlug er ein.
„Ich bin Peter Edwards“ entgegnete er, offenbar amüsiert über den Mut des wesentlich jüngeren Mannes. Wie es sich offenbar für einen Drogenhändler gehörte trug er einen modischen Anzug, stand selbstbewusst und hoch aufgeschossen da und musterte sie mit einem Blick, der einem Polizisten Schweiß auf die Stirn getrieben hätte. Seine natürliche Autorität war beeindruckend.
Die beiden plauderten ein wenig, taktischer Smalltalk, während er und Bill immer noch an der Wand standen. Dann, als ob er es vergessen hätte, drehte Peter sich um und gab seinen Leuten mit einem Wink den Befehl, die Waffen zu senken. Wie auf Kommando traten die Wachen beiseite und verteilten sich im Raum. Es war nicht zufällig, es war einstudiert.
Carlito winkte ihn her und gemeinsam fingen sie an, mit Peter über Preise, Absatzmärkte, Gewinnmargen, Logistik und ähnliches zu diskutieren. Eusébio hörte die meiste Zeit zu, staunend darüber, das sich dieses Treffen kaum von einem Geschäftstreffen unterschied. Waren sie der organisierten Kriminalität so ähnlich? Nach und nach entspannte sich die Atmosphäre im Raum, einzig Bill stand daneben, ein wenig unsicher, was seine Rolle heute Abend war.
Schließlich holte Peter einen kleinen Beutel mit weißem Pulver hervor. Eusébio musste kurz daran denken, das in seiner Erwartung Drogenhändler nie high von ihrem eigenen Stoff wurden. Er schob seinen offensichtlichen Irrtum beiseite als ihr Gastgeber, augenscheinlich sehr geübt, drei kleine Linien auf dem Bettrahmen aufbaute. Peter beugte sich vor, sog mit seiner Nase eine von ihnen ein, schloss kurz die Augen und genoss den Moment für sich allein. Dann nickte er ihnen zu und machte eine einladende Handbewegung.
Carlito beugte sich als erster herab, während in Eusébios Gehirn die Neugierde in einem kurzen und heftigen Kampf die ohnehin geschwächte Opposition niedermetzelte. Aufmerksam verfolgte er die Bewegungen, die sein Freund ausführte und tat es ihm dann gleich.
Das Gefühl war unerwartet heftig. Anders als bei Alkohol und Grass kam der Effekt schnell und unerbittlich wie Lastwagen, der einen auf der Straße erwischte. Der erste Rausch war dem eines Orgasmus gar nicht so unähnlich. Er unterdrückte ein glückliches Grinsen und konzentrierte sich wieder, was ihm nicht leicht fiel.
Nach der ersten Überraschung fiel ihm auf, dass der Effekt nicht so stark war wie der einer stark durchzechten Nacht, aber wesentlich angenehmer. Sein Zeitgefühl setzte aus und er hätte nicht sagen können, wie lange sie nun weitere Einzelheiten diskutierten. Auch hätte er nicht sagen können, ob sich Peter und Carlito in irgendeiner Form komisch benahmen. Fest stand für ihn nun dass sich nun auch nach und nach die Wachen bedienten. Peter schien es nicht zu interessieren.
Mehr und mehr wurde auch sein Geist benebelt. Er sah sich suchend, rastlos um. Farben, so viele Farben. Ein kleiner Teil seines Gehirns beschwerte sich noch, dass dieser Effekt gar nicht so zu Koks zu passen schien. Aber es war nur ein kleiner Teil. Er ließ sich in eine Ecke fallen, dumpf spürte er den Aufprall auf eine Tischkante. Aber nur sehr diffus. Dann konnte er deutlich spüren, wie die anderen Teile seines Gehirns zur Invasion auf den einen, kleinen rüsteten. Lange Reihen aus Zinnsoldaten wurden bereitgestellt, sie marschierten die Nervenbahnen entlang. Dann wurde ihm klar, dass das nur irgendein Schwachsinn war. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, aber die Zinnsoldaten hatten schon zu weite Strecken seines Kopfes unter ihrer Kontrolle. Eben erhaschte er einen Blick auf sie, als sie sich anschickten, die Schlacht zu beginnen.
Ein Klopfen ertönte. Auf einen Ruck hin drehten sich all die kleinen Köpfe der kleinen Soldaten und blickten zur Türe hin. Sie wurde aufgerissen und ein blondes Mädchen kam herein gestolpert. Als er die erschrockenen Gesichter überall im Zimmer sah, hätte er am liebsten laut aufgelacht. Doch seine zinnenen Besatzer ließen ihn nicht.
Er realisierte, wie um ihn herum die Wachen zu dem Mädchen gingen. Einer sprang sogar. War sie... sie hatte so rote Kleidung an. Wie eine Uniform. Vielleicht war sie gekommen, um ihm im Kampf gegen seine Zinnsoldaten zu helfen?
Als sie zu Boden gerissen wurde fiel auch er vornüber. Sein Kopf klebte mit einem Male am Fußboden fest. Bleiern, unbeweglich. Er sah herüber. Ihre Augen blickten ihn an. Weit standen sie offen, kein Blinzeln. Er lächelte. Ihr Mund stand offen. Seine Augen, übernommen von den Zinnsoldaten, verweigerten ihm fast den Dienst. Nur schemenhaft konnte er Bewegungen erkennen. Klar sah er nur ihr Gesicht. Stumm rollte eine Träne über ihre Wange.
Ein heftiger, lauter Knall störte ihn in seiner Betrachtung. Nein, es war nicht einer, es waren viele. Lautes Getrampel war zu hören, das klirren von Glas. Eusébio versuchte, sich um zu sehen, aber er schaffte es nicht. Er konnte nur hören, dass etwas vor sich ging. Schreie. Schmerzensschreie. Und gebrüllte Befehle. Und Schüsse. Das laute Knallen waren eindeutig Schüsse. Jetzt konnte er eine ihm bekannte Stimme hören. „Schieß, Eusébio, schieß!“ Es klang schrill, verzweifelt. Was hatte es zu bedeuten?
Er hob den Kopf, auf einmal etwas klarer. Die Zinnsoldaten waren im Rückzug begriffen. Wie von alleine tastete sich seine Hand nach unten, umfühlte den Griff seiner Pistole. Langsam zog er sie heraus. Schwer war sie, und kalt, und hart. Mit einem kindlichen Grinsen umklammerte er sie.
Da bemerkte er eine Bewegung hinter der Badezimmertür. Ein Mann steckte seinen Kopf kurz heraus, rollte sich dann wieder in Deckung hinter der Wand. Wer war der Mann? Die dumme Wand war im Weg. Kurz entschlossen feuerte er auf die dünne Holzplatte. Ein schriller Schrei ertönte. Röchelnd sackte ein Körper in sich zusammen. Draußen konnte er eilige Schritte hören.
Dann wurde er klar.
Er sah sich im Zimmer um und begriff.
Es war eine Schießerei gewesen. Die Tür stand offen, überall lagen Patronenhülsen herum. Die Wachen lagen verstreut im Raum herum, ihre Körper zusammengesackt, Waffen daneben. Der Wind zog herein durch das zerbrochene Fenster. Carlito lag auf dem Bett, seine Waffe neben ihm. Sein Blut tränkte die Decke. Er raffte seinen Freund auf, sah in seine Augen. Tod stand darin geschrieben. Carlito starb.
Eusébio warf seine Waffe auf den Boden und schleppte den Körper zur Tür. Immer noch kauerte dort die Motelangestellte. Mit einigen strengen, knappen Wörtern scheuchte er sie auf, ihr beim tragen zu helfen. Sie zögerte zwar, gehorchte dann aber. Augenscheinlich stand sie unter Schock. Gemeinsam schleppten sie Carlito hinaus.
Er selbst durchsuchte ihn schnell nach den Schlüsseln, rannte über den Parkplatz und jagte mit dem Auto zurück. Immer noch stand dort wie angewurzelt die Frau und blickte lethargisch vor sich hin. Erneut herrschte er sie an ihm beim tragen behilflich zu sein. Erst als sie im Auto saßen und vom Parkplatz hinab rasten fiel ihm auf, das ihre Kleidung zerrissen war. Und da fiel es ihm wieder ein.
Wie die Wachen sie zu Boden geschlagen hatten. Wie die Anspannung der Erleichterung wich und wie sich die Männer, gelöst durch die Drogen, sich an ihr zu schaffen machten. Ihr die Hände aufs Gesicht, auf den Mund pressten und an ihren Kleidern herum zerrten. Und wie Bill plötzlich aus der Toilette gestürmt kam, die Waffe hoch erhoben und das Feuer eröffnete. Wie Peter aus dem Fenster hechtete, wie Carlito sich hinter dem Bett aufrichtete und von den Schüssen der Wachen zerfetzt wurde. Wie Bill sie alle nach und nach tötete. Und wie er selbst die ganze Zeit das Mädchen anstarrte, auf dem Boden kauernd und den Mund vor Begeisterung weit aufgerissen.
Er blickte sie an. Ihre Schönheit hatte sein Leben gerettet. Sie hatte blonde, kurze Haare, ein unschuldiges Gesicht, unberührt und fein geschnitten. Sie war alles, was er in Detroit vermisste. Sie strahlte Naivität aus, Optimismus, Positivität. Sie... Ein Hupen brachte ihn zurück in die Realität. Das Mädchen neben ihm hatte die Augen immer noch geradeaus gerichtet, auf irgendeinen Punkt fern von der ganzen Scheiße, in die sie hinein geraten war. Ihre Lippen bebten, ihre Augen waren trocken und weit aufgerissen.
„Weißt du, wo das nächste Krankenhaus ist?“ fragte er sie. Dann noch einmal. Erst beim dritten Mal, als er wieder in den Befehlston zurück wechselte, reagierte sie. Sie dirigierte ihn durch die Finsternis, ohne wirklich auf die Welt um sie herum zu achten.
Eusébio kannte keinen dieser Ärzte, die in den Filmen immer die Schusswunden der Verbrecher flickten, ohne Fragen zu stellen. Eine solche Adresse wäre jetzt für ihn ziemlich günstig, vor allem aber für Carlito. Denn wenn er überleben sollte so brauchte es ein Wunder, um dem Gefängnis zu entkommen. Oder einen Freund.
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Ullrich_gewinnt_2006
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Beitrag: # 6735742Beitrag Ullrich_gewinnt_2006
13.9.2008 - 12:55

Klasse, speziell der letzte Text, wie nach jedem Posting bleibt die Spannung erhalten und man wartet schon ungeduldig auf den nächsten Text.

Respekt und weiter so!


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arkon
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Beitrag: # 6736350Beitrag arkon
16.9.2008 - 13:32

Eusébio ließ den Wagen elegant vor dem Portal des Krankenhauses ausrollen. Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Tagen erlebte er diese Szene. Irgendetwas lief in seinem Leben falsch. Er zögerte eine Sekunde bevor er den Wagen verließ.
Mit Hilfe der jungen Frau schleppte er seinen Freund in Richtung Eingang. Die Eingangstür glitt beiseite, aber sonst passierte erst einmal nichts. Kein Sanitäter, der ihnen entgegenstürmte, keine Armada aus Ärzten, die ihnen die Verantwortung einstweilen abnahmen. Etwas verunsichert schaute Eusébio sich um, rannte dann, nachdem er Carlito vorsichtig auf dem Steinboden abgelegt hatte, zum Empfang und bellte der Frau, welche dort saß, die wichtigsten Informationen entgegen.
Erst jetzt brach die erwartete Geschäftigkeit los. Ein Bett wurde heran geschoben, zwei Pfleger hievten den schwer Verletzten hinauf und rannten los. Er selbst stand daneben und sah zu, hilflos. Erst dann fiel ihm das junge Mädchen ein, das neben ihm stand. Noch immer reagierte sie kaum auf das, was um sie herum geschah. Er schob sie vor sich her zum Empfang und musste dieses Mal kaum Wörter verlieren: Der leere Blick alleine reichte, um der Dame die Situation klarzumachen. Einige Augenblicke später war auch für sie ein Arzt zur Stelle, der sie durch die Trenntüre in die Innereien des Krankenhauses schob.
Jetzt hieß es warten. Alleine. Er setzte sich auf einen der grünlich-braunen Plastiksessel, die an der Wand standen. Außer ihm, und natürlich der Empfangsdame, war kein Mensch in diesem Raum. Die Hektik, der Stress, der Lärm, das alles fiel von ihm ab. Er blickte den leeren Korridor hinauf, hinab. Nichts. Der typische Krankenhausgeruch, Heizungswärme, der Zug von der schlecht isolierten Tür her, der trocknende Schweiß auf seiner Stirn, der sporadische, gelangweilte Blick der Empfangsdame hinüber zu ihm. Es gab keine Uhr, die tickte. Gut. Ab und zu eilte ein Arzt durch die Halle, wurde ein Krankenbett quietschend vorbei geschoben. Dann wieder Stille.
Schließlich wurde die Doppeltür, die hinein ins Heiligtum führte, aufgestoßen und ein Arzt kam hinaus, der ihn erkannte.
„Hallo ich bin Dr. Emmet Green. Darf ich sie erst einmal nach ihrem Namen Fragen?“
„Ich bin Eusébio“ Auch wenn der fragende Blick von Dr. Green ihn dazu animierte, den Nachnamen preiszugeben so tat er es nicht. Nach einer unangenehm langen Pause gab der Doktor nach.
„Ihrem Freund geht es sehr schlecht. Er lebt. Das ist die gute Nachricht. Aber das ist auch schon alles. Wir haben ihn operiert und zwei Kugeln aus ihm entfernt. Er hat eine Menge Blut verloren. Hin und wieder gelangt er zu Bewusstsein, das ist gut. Wir hatten vor, ihn in ein nahes Krankenhaus zu verlegen, welches auf solche Fälle spezialisiert ist. Aber es scheint für den Augenblick nicht mehr notwendig zu sein. Seine Chancen sind gut, aber gut heißt nicht, dass er schon durch ist.“
Er überlegte. Was hieß das? Wann würde er ihn hier herausholen können?
„Wann wissen sie mehr?“
„Es wird schon noch einige Zeit dauern. Wenn er stabil ist, vielleicht schon in ein paar Stunden, vielleicht erst in ein paar Wochen. Und falls es sich nicht positiv entwickeln sollte dann können wir ihnen überhaupt keine Zeit nennen.“
Er nickte verstehend. Er hatte keine Ahnung.
„Ich werde hier bleiben. Sagen sie mir bescheid, wenn sie mehr wissen.“
Jetzt nickte der Arzt verständnisvoll, gab ihm zum Abschied kurz die Hand und verschwand dann wieder in sein Reich hinter der lange nachschwingenden, grünbräunlichen Holztür mit rundem Guckloch. Er seufzte. Es hieß wieder warten. Fast kam es ihm vor, als gäbe es ein eigenes Echo in seinem Kopf. Kurz dachte er an verschiedene Dinge, ließ sie in seinem Hirn vor und zurück kreisen und musste feststellen, das offenbar noch ein wenig von dem Koks in ihm herum schwamm. Und sich offenbar wohl fühlte.
Er musste an das Mädchen denken. Schon alleine der Gedanke ließ sein Herz schneller schlagen. Er hatte sich verliebt. Innerhalb eines Drogentrips und einer Schießerei. Und einer Sekunde. Ohne wirklich ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Er schallt sich einen Dummkopf und mied den Gedanken an sie. Vergeblich. Immer wieder verlangte sie mit Gewalt Platz in seinem Kopf. Verdammt.
So ging es sehr lange. Was machte sie eigentlich? Warum kam keiner und informierte ihn über sie? Seufzen. Vorlehnen. Ihr süßer Mund fiel ihm ein, bebend vor Erregung. Das einzige Zeichen, wie erregt sie wirklich war. Der matt-rote Lipgloss, glänzend im Schein der Straßenlaternen. Seufzen. Zurücklehnen. Ihre Augen, erst weit vor Schreck, dann vor Schock. Sie hatte offenbar dergleichen noch nie gesehen. Das war wenig überraschend, überstieg es doch auch bei weitem alles, was ihm bislang untergekommen war. Aber die tiefe, blaue Brillanz, die sie ausgestrahlt hatten. Das ruhige Funkeln, das ihn durch den gesamten Raum hinweg magisch angezogen hatte. Seufzen. Vorlehnen. Er dachte noch einmal an die Schießerei, was er eigentlich getan hatte, wie er bemerkt hatte...
Warum war Peter zum Fenster hinaus gesprungen? Warum war er nicht aus der Tür geflohen? Warum war überhaupt keiner zur Tür hinaus? Er versuchte nachzudenken. Hatte sie offen gestanden? War nicht sogar eine Leiche...
Er erstarrte. Bill war nicht allein gewesen. Jemand hatte ihm geholfen. Es war also geplant gewesen. Er hatte nicht um sich geschossen, um das Mädchen zu schützen. Vielleicht hatte er sie auch kühl in seinen Plan mit einkalkuliert, bewusst mit ihrem Tod gerechnet. Das Motiv war klar. Wie lange hatte er es geplant? Wie lange hatte er von dem Treffen gewusst? Wie lange hatte er Zeit gehabt, seinen Komplizen mit Details zu versorgen?
Er richtete sich auf, begann, nervös auf und ab zu gehen. Carlito wusste sicher mehr. Er konnte ihm einige Fragen beantworten. Aber das war nicht alles: Wer auch immer der andere Schütze vor der Tür gewesen war, er kannte ihn vielleicht. Und das hieß dass es nun noch einen weiteren Menschen gab, der hinter seinem Leben her war. Und diesmal war es offenbar jemand, der ans Töten gewöhnt war.
Er sah auf die Uhr. Wann waren sie hergekommen? Es war drei Uhr Morgens. Er war sicher schon einige Stunden hier. Was trieb das Mädchen? War sie schon gegangen, an ihm vorbei? Wenn der zweite Schütze hinter ihm her war, dann musste auch sie um ihr Leben fürchten. Wie lange würde sie hier bleiben? Schätzungsweise würden sie einen Verwandten oder Bekannten anrufen der sie nach Hause bringen würde. Oder sie würde vielleicht die Nacht hier verbringen?
Er stürmte vor zur Empfangsdame und begann sein Verhör. Das er mit einer Freundin hergekommen sei und sich nun um sie sorge. Er bekam Auskunft, dass er keine Auskunft bekommen könne. Er legte nach und führte seine Geschichte größer aus. Erfand Details, schmückte aus, hoffte auf die Mitleidskomponente. Aber Eusébio war zwar ein routinierter Lügner, aber sein Charme war nicht auf dem Niveau, das er sich für diese Situation erhofft hatte. So zog er unverrichteter Dinge zurück zu seinem Stuhl.
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arkon
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Beitrag: # 6736782Beitrag arkon
19.9.2008 - 1:39

Es dauerte wiederum eine ganze Weile ehe der Arzt, Dr. Emmet Green, das nächste Mal seinen Kopf zur Tür heraus streckte. Schon am ersten Lächeln erkannte Eusébio, dass er gute Nachrichten brachte. Entsprechend entspannte er sich schon bevor er sie ihm auch mündlich überlieferte.
„Er hat außerordentlich großes Glück. Wir haben nochmals operiert, diesmal mit weit größerem Erfolg. Er überlebt.“
Nun lächelte er auch selbst.
„Was heißt das? Wann kann er gehen? Und kann ich mit ihm reden, ist er bei Bewusstsein?“
Der Arzt lachte trocken auf.
„Er ist noch in Narkose. In einigen Stunden können sie mit ihm sprechen. Aber entlassen wird er wohl erst in einigen Wochen. Er hat viel Blut verloren, davon muss er sich erst einmal erholen. Und die Nähte müssen verheilen. Wenn er sich zuviel bewegt könnten seine Wunden, auch die im innern, wieder aufreißen, er könnte verbluten.“
Der Grossteil der Information tröpfelte an Eusébio vorbei. Fest stand für ihn, dass er Carlito so schnell wie irgend möglich aus dieser Klinik schaffen musste. Auch auf die Gefahr hin, das er verblutete.
„Ich bleibe hier, ich muss mit ihm sprechen. Sagen sie mir Bescheid, wenn er aufwacht!“
„Leider unmöglich. Ich gehe jetzt nach Hause. Meine Schicht ist zu Ende. Aber wenn sie wünschen sage ich der Schwester Bescheid.“
„Tun Sie das!“
Der Arzt nickte und ging mit einem Grußwort den Weg zurück, den er gekommen war. Mit einem Gähnen setzte sich der Radfahrer auf seinen angestammten Stuhl. Nun endlich traf in die Müdigkeit. Viel zu lange war er schon wach, viel zu viel hatte er erlebt. Jetzt, da die Spannung wenigstens teilweise verpufft war rüttelte der Schlaf an ihm und forderte seinen Tribut. Kaum hatte er sich gesetzt fielen ihm schon die Augen zu, ohne das er nur das Geringste daran hätte ändern können.
Er träumte wirr und heftig, von weißen Linien, krachenden Schüssen, klirrenden Fenster, tiefblauen Augen und der Reflektion von Straßenlichtern auf dünnen, zarten, glänzenden Lippen. Als er diese küssen wollte schrak er auf.
Die Schwester hielt inne, ihn zu rütteln.
„Sind sie Eusébio?“ verlangte sie zu wissen. Dieser nickte, sich den Schlaf aus den Augen reibend.
„Ihr Freund, Carlito Hernandez, ist bei Bewusstsein. Er ist zwar noch sehr schwach, doch können sie jetzt mit ihm reden“
Und mit einem Schlag kehrte die Situation, aus der er eben noch so sanft entflohen war, zurück. Carlito! Er war wach. Nun galt es.
Er folgte der Schwester, geradewegs durch die grünbraune Tür, die er nun schon seit etlichen Stunden bewachte. Kurz musste er an das unbekannte Mädchen denken, verwarf den Gedanken aber wieder. Es gab wichtigeres zu tun.
Sie führte ihn in ein großes Mehrbettzimmer. Aus irgendeinem Grund überraschte das Eusébio, er hatte etwas anderes erwartet. Nun, da er darüber nachdachte, kam ihm die Vorstellung eines Einzelzimmers für einen angeschossenen, dahergelaufenen Straßengangster lächerlich vor. Hinter einem weißen Vorhang, durch zwei andere ebensolche von den Nachbarbetten abgetrennt, kam Carlito zum Vorschein. Sein Anführer. Sein Freund. Nun, da er ihn sah, wirkte wieder die Aura auf Eusébio, die ihn trotz seiner Schwäche umgab. Der Kolumbianer traute sich nicht, ihn zur Begrüßung zu Umarmen oder auf die Schulter zu klopfen. So blieb er unsicher stehen und es blieb bei einem Lächeln und einem Kopfnicken. Der Kranke winkte ihn näher heran.
„He Eusébio“ raunte er matt und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Froh, nun nicht mehr alleine die Verantwortung zu haben legte er ihm in leisen, schnellen Worten die Situation dar: Das er hier weg musste, das die Ärzte derlei nicht empfahlen, das es vermutlich noch einen zweiten Schützen gegeben hatte. Carlito nickte.
„Ich habe ihn sogar kurz gesehen. Die Kugel, die ich ihm verpassen werde, hat mich durch die Operation gebracht.“ Sein Kompanion empfand es für überflüssig, ihn davon zu erzählen, dass er derer gleich zwei durchlaufen hatte.
„Hast du ihn erkannt?“ fragte er ihn stattdessen. Der andere nickte nur schwach. Wie ein Blitz durchzuckte ihn diese Erkenntnis. Wenn sie hier heraus kamen konnten sie Rache nehmen. Oder zumindest die drohende Gefahr für ihr beider Leben eliminieren.
„Ich muss dich hier raus schaffen. Am besten sofort!“ Entgegen seiner Erwartungen fiel ihnen die Flucht sehr leicht. Krankenhäuser gleichen in diesem Punkt keineswegs Gefängnissen. Carlito stöhnte zwar vor Schmerzen auf, als er sich in den Rollstuhl hinab wälzte, den Eusébio in einer Zimmerecke gefunden hatte, aber ansonsten lief alles glatt. Keiner stellte unnötige Fragen und im Vorraum herrschte zuviel Betrieb, als das sie jemand wieder erkannt hätte. Die Empfangsdame sah auch er nicht im Trubel, der herein gebrochen war. Das Auto stand immer noch sehr prominent vor dem Eingang, so war der Weg auch nicht weit.
Eusébio atmete tief durch, als der weiße, schlichte Bau hinter ihnen langsam verschwand. Er hatte kurz überlegt, ob er sich nach der Unbekannten erkundigen sollte. Nur kurz. Nun dagegen hatte er reichlich Zeit, seine Gedanken streifen zu lassen. Und wenn sein Begleiter doch versuchte, ihn auf die Ereignisse der Nacht zurück zu bringen, so blieb sein Fokus doch an der jungen, blonden Motelangestellten hängen.
Der Weg zurück fand sich leicht, jedoch standen sie nun vor einem ganz anderen Problem: Carlito ging es zwar für den Moment gut, jedoch brauchte er unbedingt ärztliche Hilfe, ob früher oder später. Gemeinsam überlegten sie, ob sie jemanden kannten, der jemanden kannte, der... Es sah schlecht aus. Bisher waren sie noch nicht in einer solchen Situation gewesen. In Detroit selbst war es nie ein Problem gewesen. Die polizeilichen Ermittlungen verliefen sich in der Regel schnell, es gab einfach zu viele hoffnungslose Fälle und zu wenig Zeugen, die bereit waren, zu reden. Aber hier verhielt es sich anders. Keiner von ihnen konnte abschätzen, wie energisch die Polizei den Fall verfolgen würde. Hinzu kam, das es sich nicht um einen angeschossenen handelte, sondern um einen ganzen Raum, gespickt mit Leichen, Waffen und Drogen. Die Ermittlungen würden weite Kreise ziehen. Das FBI war für gewöhnlich Teil solcher Unternehmungen. Alles nichts Gutes.
Er diskutierte mit sich selbst hin und her und fand keine Lösung. Er musste fliehen, heraus aus der Stadt. Soviel war klar. Wenn die Ermittlung erst einmal ins Laufen geriet, würde man sie dann identifizieren können? Er musste raus aus Detroit. Das Haus von Marc war die logische Folgerung. Aber wie lange würde er sich da verkriechen können? Wenn man seine Identität heraus bekam, dann würde man auch auf das Ferienhaus stoßen. Er würde dort keine Sicherheit finden.
Weiter weg. Erst jetzt fiel Eusébio siedend heiß ein, dass er das Geld im Motel zurück gelassen hatte. Kein Geld, kein Ziel, keinen Arzt. Es war keine angenehme Situation.
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Megamen 1
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Beitrag: # 6737606Beitrag Megamen 1
25.9.2008 - 20:36

Arkon, gehts noch weiter, wäre nämlich seeehr schade, falss nicht...

Ullrich_gewinnt_2006
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Beitrag: # 6737615Beitrag Ullrich_gewinnt_2006
25.9.2008 - 21:27

@Megaman,

bin zwar nicht Arkon, aber logisch geht es noch weiter, wer so ein Projekt anfängt der hört nicht plötzlich mitten drin auf, außerdem wer Arkon kennt, der weiß das er durchaus mal öfters längere Pausen hat, aber das stört bei seinen Qualitativ hochwertigen Texten eher weniger - oder sage ich was falsches?

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arkon
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Beitrag: # 6737802Beitrag arkon
27.9.2008 - 7:56

Nein, angenehm war es nicht. Ein Blutbad. Fünf Leichen, eine Menge Blut. Das alles zusammen in einem kleinen Zimmer, einige Stunden lang bei überraschend kraftvoller Frühlingssonne. Das gesamte Team der Spurensicherung trug Atemmasken. Sie wechselten sich ab, ein Teil der Beamten in schwarzen Westen mit der gelben Aufschrift FBI standen immer draußen, verschnauften und sogen gierig die frische Luft ein.
Roderick van Sleeken grüßte in die Runde. Auch wenn er keinen von ihnen kannte so würde er doch in den nun beginnenden Ermittlungen mit einigen von ihnen näher zusammen arbeiten und da konnte ein freundliches Arbeitsklima nicht schaden. Er ging zur Tür und blickte in das innere. Einen Moment blieb er stehen, gewöhnte sich an den Gestank, der ihm entgegenschlug und seine Augen an das Dunkel, das dort immer noch herrschte. Widerwillig zog er ein Taschentuch aus seiner Anzughose, der Geruch war einfach zu intensiv. Fast war es ihm peinlich, dass er als leitender Ermittlungsbeamter wie jeder andere im Raum seine Nase abdeckte, aber er ließ sich für den Moment leider nicht ändern.
Roderick war ein Mensch, dem so etwas nicht egal war. Vielmehr war es ihm schrecklich peinlich, seinen Ruf derart in Gefahr zu bringen. Sein akkurater Scheitel, mit Gel und Wasser jeden Morgen exakt gleichermaßen angefertigt, zeugte davon. Auch seine preiswerten, jedoch nicht billigen Anzüge. Seine präzise gebügelten und gestärkten Hemden. Seine Lederschuhe, selbstverständlich geputzt und gepflegt, mehr als es sich für ein Produkt dieser Preisklasse gehörte. Jemand, der ihm zum ersten Mal begegnete, konnte unmöglich schätzen, wie viel van Sleeken mit seiner Arbeit beim FBI verdiente, geschweige denn in welcher Position er tätig war. Generell war es ihm überhaupt nicht anzusehen, welchen Beruf er ausführte. Bis auf vielleicht Automechaniker und Präsident hätte er alles sein können mit seiner Kleidung. Sein glattrasiertes Gesicht, seine streng umherblickenden Augen und die vollkommen durchschnittlichen Züge hinterließen... keinen Eindruck. Er sah gut aus, aber bei weitem nicht überdurchschnittlich. Er war ein angenehmer Mensch vom Aussehen her, aber keiner, der einem auch nur irgendwie im Gedächtnis bleibt. Der Ausdruck „Allerweltsgesicht“ beschreibt diesen Umstand nur unzureichend und viel zu allgemein. Und van Sleeken war stolz auf diesen Umstand.
Er tappte ein wenig herum, sah sich dieses und jenes Detail an und verharrte dann mehr oder weniger in der Mitte des Raumes, unbewegt. Sein Hirn ratterte, aber nur ein wenig. Der Fall war relativ klar. Er sah seinen Untergebenen, seinen Zuarbeiter Lleyton Noland auf sich zukommen. Er rieb sich das Kinn.
„Zwei Schützen, keine Frage. Der eine liegt tot im Badezimmer, der andere wurde gut unter Beschuss genommen, aber hatte Glück.“ Er weiß auf die Einschläge um die Tür herum. „Drogen, Geld – eindeutig ein Dealer mit seinen Kunden. Von der Menge her eher ein hohes Tier. Er versucht hier, einen Deal zu machen, wird aber von zwei Profis überrascht und niedergemäht.“
Er selbst nickte. „Schon nicht schlecht. Aber was ist mit dem Fenster? Es ist zerbrochen, klar, aber wie? In der Mitte ein großes Loch, kaum Risse in den Rand hinein. Das ist eher untypisch für Schüsse. Wenn man eine Scheibe zerschießt wird ein kleines Stück heraus gebrochen und es entstehen, aufgrund der gigantischen Aufschlagsenergie, viele kleine Risse. Wenn das Fenster also wirklich von so vielen Schüssen getroffen worden wäre als das es hierdurch zersplitterte, dann wären sämtliche Glasstücke, die noch im Rahmen steckten, klein und von zahlreichen Rissen durchzogen. Weiterhin...“ er ging hinüber zum Fenster und deutete nach draußen. „Weiterhin liegen die Glasstücke ein gutes Stück entfernt, aber auch wieder nicht überraschend weit. Bei Schüssen wären die großen Stücke direkt hinter der Wand, die kleinen Stücke weit zerstreut. Jemand ist durch dieses Fenster gesprungen.“
„Dann“ er wies auf das Chaos der Tüten mit dem feinen, weißen Pulver und das Geld, das die Beamten in einer zurückgelassenen Tasche gefunden hatten. „Wenn du eine Schießerei vom Zaun brichst und die Typen tötest, weil du am Geld und den Drogen interessiert bist, warum lässt du sie zurück? Also entweder ging es um etwas anderes, oder die beiden Schützen haben gar nicht gewonnen. Der eine wurde erschossen, der andere ist geflüchtet.“
Er hielt kurz inne, blickte sich um.
„Eine andere Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet: Wie konnten die zwei Typen eine so große Zahl an Wachen, und das sind die meisten Leichen, niederstrecken? Zum einen haben sie sich sehr unklug verteilt: Alle in einem Raum. Aber woher kam der Überraschungseffekt, woher der taktische Vorteil?“ Er sah sich wieder um. „Ich will, dass ihr jedes Einschlagsloch, jede Patronenhülse und jedes Projektil, das ihr hier findet, auflistet. Es haben definitiv Leute überlebt, und bisher bin ich mir nicht so sicher, dass es sich nur um einen handeln soll“
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arkon
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Beitrag: # 6738491Beitrag arkon
2.10.2008 - 13:51

Die beiden Überlebenden waren derweil Detroit angekommen. Eusébio wusste nicht so recht, wohin er fahren solle. Instinktiv nahm er die Abfahrt zu seinem Haus. Es dauerte nicht lange, eine kurze Fahrt durch die vertraute Gegend.
Als Eusébio anhielt, setzte er an, die Frage, die ihn während der Stille, die im Auto schon länger herrschte, beschäftigt hatte zu stellen. „Was hast du jetzt vor?“
Der Angesprochene sah ihn an. Wieder beeindruckte die Brillianz seiner Augen, dieser ruhige Ausdruck, diese Überlegenheit. Und er lächelte. Noch vor wenigen Stunden hatte er um sein Leben gekämpft, und jetzt war Carlito schon wieder soweit, das Geschehen zu diktieren. Mehr und mehr erkämpfte sich der Mexikaner einen Platz der Bewunderung im Herzen des Kolumbianers.
„Wir werden uns trennen. Die Polizei wird wahrscheinlich bald zur Jagd blasen, und wenn einer von uns geschnappt wird dann ist wenigstens der andere in Sicherheit.“
Wieder ein Moment der Stille.
„Wirst du alleine durchhalten? Musst du nicht noch mal zum Arzt?“
Ein Lächeln.
„Sicher muss ich zum Arzt. Daher ist es eben für dich umso besser, auf Abstand zu gehen. Ich bin ein Risiko für dich.“
Was verband sie? Warum hatte er einen so großen Kredit bei ihm? Ein wenig traurig suchte er in seinen Augen. Es roch nach Abschied. Für längere Zeit. Vielleicht. Vielleicht aber auch für immer. Und obwohl es keiner der beiden ansprach stand diese Tatsache doch relativ deutlich zwischen ihnen.
Eusébio reichte dem Mexikaner die Hand. Dieser ergriff sie. Ein fester Händedruck, ein wissender Blick.
Er drehte sich um, öffnete die Tür, stiefelte los zu seinem Haus. Auf halbem Weg drehte er sich um, gerade noch rechtzeitig um Carlito mit quietschenden Reifen anfahren und hinter der nächsten Ecke verschwinden zu sehen.
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Beitrag: # 6738972Beitrag arkon
6.10.2008 - 10:07

Erst jetzt stellte er sich die logische nächste Frage: Was sollte er jetzt tun? Nun, da er sich wieder um sich selber zu kümmern hatte kam ihm die Antwort doch gar nicht so einfach vor. Er wollte zu Marcs Haus. Kein perfekter Unterschlupf, aber doch gut genug. Nur: Wie sollte er dahin kommen? Züge gab es, aber keinen, der nah genug an sein Ziel heran fuhr. Das Auto seiner Mutter? Sie würde es brauchen. Konnte er sich von Marc fahren lassen? Ausgeschlossen.
In Gedanken versunken öffnete er die Tür, ging in die Küche und machte sich etwas zu Essen. Mit wahrem, wiedererwachtem Heißhunger stürzte er sich auf die Toasts, die er sich machte. Die langen und dramatischen Ereignisse der Nacht hatten ihn davon abgehalten, Hunger zu bekommen, aber trotzdem jede Menge Energie verzehrt. Diese tankte er nun in einer langen und auf der Gegenseite verlustreichen Schlacht gegen diverse Schränke und ihre Inhalte nach.
Ein Räuspern unterbrach ihn. Seine Mutter stand im Türrahmen. Er hatte sie nicht bemerkt.
„Hi“ schmatzte er mit vollem Mund. Wider Erwarten lächelte sie ihn an.
„Ich bin froh, das du wieder da bist“ Einen Moment zögerte sie und es schien, als denke sie darüber nach, ihn zu umarmen. „Es war nicht das erste Mal, das du über Nacht weg warst, aber ich hatte heute Nacht ein ungutes Gefühl“
Eusébio war ein wenig überrascht über diesen Ausbruch mütterlicher Gefühle ihrerseits. Ein wenig verunsichert stand er herum. Schon länger war es sich unsicher, was sie von ihm wollte, was in ihrem Leben vorging. Die Besuche von Männern hatten abgenommen, das Interesse an ihm zugenommen. Ihr Besuch bei seinem Rennen war schon etwas länger her. Damals hatte er ihre Geste noch als Zufall abgetan, als Ausrede ihm gegenüber um ein Wochenende bei einem ihrer Stecher zu rechtfertigen. Aber mittlerweile musste er sich eingestehen, dass er ihr vielleicht Unrecht getan hatte.
Dann durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Ihr neuer Job! Sie musste nicht fahren, sie lief jeden Morgen. Keine kleine Distanz, aber sie lief. Um sich fit zu halten? Egal. Der Wagen war nun einmal schon seit längerer Zeit in seiner Obhut.
„Mum sag mal, du kennst doch Marc“ Sie nickte.
„Er leiht mir sein Haus, für ein paar Wochen, zum Trainieren. Echt cool, nur ich und mein Rad.“
Sie lächelte. Freute sie sich für ihn oder wollte sie nur höflich sein?
„Ich brauch dein Auto, um dahin zu kommen.“ Jetzt hatte sie den Braten gerochen.
„Und du weißt natürlich nicht, wann du zurück kommst und würdest das Auto gerne die gesamte Zeit dort behalten“ Er nickte, ein wenig betreten, bei seiner Bitte ertappt.
Sie musste lächeln. Gerührt? Peinlich berührt? Schwer zu sagen.
„Ich fahr dich“ Das war dann doch eine Überraschung.
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Beitrag: # 6739262Beitrag arkon
7.10.2008 - 21:20

Er starrte sein Sandwich an. Das geröstete, mit Parmesan bestreute Brot. Die Salatblätter, weiß und grün, die zwischen den beiden Scheiben hervor lugten. Die Tomatenscheiben, rot und saftig, an denen einige Tropfen Wasser, oder vielleicht Tomatensaft, herab rannen. Die Käsescheiben, die verlaufen und goldbraun gebacken am Brot hinab liefen. Die vereinzelten Zwiebelschnitze, saftig und knackig, zufällig verstreut. Und natürlich die kleinen, grünlich schrumpeligen Scheiben eingelegter Gurken. Er meinte, die Bläschen des Essigs noch erkennen zu können. Der Gestank erfüllte seine Nase, überlagerte alles andere. Er rückte näher an das Sandwich heran, bis er mit der Nasenspitze fast dagegen stieß, sein Auge fixiert auf eine dieser ekelhaften, grünen, labberigen Dinger.
Wer um Gottes Willen sollte das essen? Wer nannte so etwas überhaupt essbar? Eingelegte Gurken. Nichts erregte seinen Ekel so schnell und so sicher wie diese warzenbesetzten Kolben, die in Gläsern, hoffentlich gut verschraubt, herum schwammen und sich im Essig suhlten wie Schweine im Dreck.
Er hätte das Sandwich gerne auf seinen Schreibtisch geschmissen, aber dann wären vielleicht einige Teile heraus gefallen und hätten seine Schreibunterlage verdreckt. So blieb er eine Weile grollend sitzen, starrte auf sein Mittagessen, oder besser gesagt das, was er sonst gerne sein Mittagessen genannt hätte, und fühlte sinnlose Aggression durch seine Muskeln wandern.
Er schreckte auf als an seine Tür geklopft wurde. Als er „Herein“ sagte, oder eher in seinen nicht vorhandenen Bart grummelte, steckte ein übereifriger Lleyton Noland seinen Kopf in sein Büro herein.
„Mister van Sleeken!“ Er war der einzige in dieser Abteilung, den alle mit dem Nachnamen anredeten. Und er war stolz darauf.
„Wir haben einen Durchbruch! Im Fall des Motelmords gab es einen Durchbruch!“ Noland war noch nicht sehr lange in diesem Job tätig. Daher gab es für ihn immer Durchbrüche, Rückschläge und ähnlich epische Dinge. Nur halt leider keine harte Arbeit. Ebenso wie für den Praktikanten, der ihm sein Sandwich geholt hatte, fügte er in Gedanken hinzu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder seinem aufgeregt vor ihm herum wibbelnden Assistenten widmete.
„Was ist denn passiert?“ fragte er betont gleichgültig.
„Erinnern Sie sich noch an die Anweisung von ihnen, alle Krankenhäuser in der Umgebung abzusuchen, ob es Patienten mit Schussverletzungen gegeben hat?“
Natürlich erinnerte er sich. Es war zwar eher ein Schuss ins Blaue, aber gerade in einer Gegend, wo nur ein kleiner Teil der Verbrechen wirklich professionell durchgeführt wurden konnte man damit durchaus Erfolg haben. Er nickte, ein wenig gelangweilt, ziemlich genervt.
„Nun, es gab eine Einlieferung. Ein Mexikaner wurde noch in der gleichen Nacht mehrfach operiert, nachdem er von mehreren Projektilen getroffen wurde. Wir haben es schon überprüft: Die Patronen kamen an unserem Tatort vor. Und es wird noch besser: Er ist offenbar noch in der selben Nacht verschwunden. Das Krankenhaus ist natürlich sauer, weil sie quasi umsonst operiert haben. Aber sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben, an ihr Geld zu kommen.“ Noland machte eine Kunstpause. Roderick van Sleeken fühlte den Zorn wieder in sich aufwallen. „Sie haben ihm sein Portmonee aus der Hose genommen, als er noch bewusstlos war. Eher aus Zufall denn aus Absicht, aber jetzt haben wir eine Spur!“
Van Sleeken hätte schwören können, das Noland am liebsten auf und abgesprungen wäre.
„Wer war noch im Krankenhaus? Ist er etwa alleine gekommen?“
Er musste einen Moment innehalten, offensichtlich wurde er sich bewusst, dass er wichtige Dinge vergessen hatte.
„Oh, stimmt, ja! Woher wissen Sie das?“ Eine rhetorische Frage, eine dumme Frage. Wie sollte ein angeschossener und lebensgefährlich verletzter Mensch quer durch die Nacht zum nächsten Krankenhaus gelangen? Fliegen kam zumindest nicht in Frage.
„Es war auf jeden Fall ein anderer Mexikaner dabei und eine Frau, die unter Schock stand und eingeliefert wurde. Ihre Eltern haben sie später abgeholt.“
„Waren die beiden Ausländer oder ist das nur eine Unzulänglichkeit in ihrer Sprache?“ Ein bohrender Blick und er hatte seine Antwort. Noland musste noch einiges lernen.
„War schon jemand bei dem US-Amerikaner mutmaßlich mexikanischer Herkunft?“ Er schüttelte den Kopf. „Oder bei der mutmaßlich US-amerikanischen Frau?“ Wieder verneinte er.
„Gut. Dann holen sie sich ein SWAT-Team und lassen sie den wieder genesenen her holen. Und sie selbst brechen auf und spielen Chauffeur führ die Frau.“ Noland dachte kurz nach bevor er sich traute zu fragen.
„Und sie?“
„Ich werde mir etwas zu Mittag holen lassen.“ Er winkte seinen Assistenten aus dem Zimmer raus und drückte dann den Knopf für die Sprechanlage zu seiner Sekretärin.
„Schicken sie mir diesen Praktikanten rein. Der, der mir dieses Sandwich geholt hat. Und zwar schnell“
Er ließ den Knopf los. Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. Es war ein ganz verschissener Tag. Hoffentlich würde wenigstens einer der beiden Verdächtigen etwas Nützliches ausspucken. Und bis dahin hatte er wenigstens den Praktikanten.
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Beitrag: # 6739541Beitrag arkon
9.10.2008 - 19:38

Der Tag ging nicht so schlecht weiter, wie er begonnen hatte. Jedenfalls nicht für van Sleeken. Erst wurde Carlito Hernandez hergebracht. Nach einem kurzen Einstiegsverhör ließ Roderick ihn erstmal schmoren. Er wusste nicht, ob er ihn sogar schon jetzt gebrochen hatte. Es interessierte ihn auch nicht. Er würde ihn noch weiter brechen. Bevor er ihn richtig verhören würde.
Als nächstes wurde Lisa Freeman ins Revier gebracht, eskortiert von ihren Eltern. Ausser ihrer umwerfenden Erscheinung konnte die junge Frau auch nicht wirklich viel zur Erhellung der Ereignisse beitragen. Ihre Eltern hingegen schon: Sie war noch in der gleichen Nacht in das nahe Hospital eingeliefert worden, eben von jenem Unbekannten und Hernandez. Sie stand unter Schock, ihre Kleidung war ramponiert gewesen. Sie hatten einen dicken Ordner dabei, in dem zahlreiche Notizen, Fotografien und Berichte des Krankenhauses einsortiert waren. Die gesamte Krankenakte. Und obwohl das meiste aus medizinischem Fachgefasel bestand gab es einige interessante Details:
Sie war offensichtlich unter Schock gestanden, daher rührten wahrscheinlich auch ihre Erinnerungslücken. Ihre Eltern waren wohlhabend und hatten, voller Sorge, ihre Tochter sofort zu einem Psychiater geschleppt. Dieser hatte nun eine besonders erhellende Meinung zu dem Fall: Die Amnesie rührte aus einer Schutzfunktion des Gehirns. Und während die verdrängten Ereignisse erst langsam zum Vorschein gebracht werden sollten so war er sich doch relativ sicher, worin diese bestanden: Lisa Freeman war fast vergewaltigt worden, bevor sie in die Schießerei hinein geriet.
So nahe liegend dieser Schluss war, so bedeutend war er. Eine Vergewaltigung. Drogen. Vor van Sleekens innerem Auge entstand die Situation wie von alleine. Es gab zwar noch offene Fragen, aber der grundsätzliche Hergang war damit geklärt. Denn: Wenn es einen zweiten Schützen gab, der draußen stand, so war es offensichtlich geplant gewesen. Mittlerweile war auch die Laborprobe vom weißen Pulver da: Koks, aber sehr verunreinigtes. Das war keine Überraschung. Es war Heroin enthalten. Das war eine Überraschung. Also hatte offensichtlich einer die Drogen versetzt. Und hatte das Zimmermädchen bestellt, um die Party weiter anzukurbeln. Eine Nachfrage bei der Motelleitung hatte ergeben, dass Lisa Freeman explizit herzitiert worden war, angeblich wegen ihrer freundlichen und korrekten Art. Elegant. Der zweite Schütze draußen. Der erste... wer war der Insider gewesen? Der Typ, der aus dem Fenster geflüchtet war? Der Typ im Badezimmer? Oder vielleicht sogar der Unbekannte, zusammen mit Hernandez? Ein Drogentest würde einen ersten Anhaltspunkt bieten: Der Insider hätte sich niemals bedient. Aber vielleicht ein paar Tage vorher... Also nur ein erster Anhaltspunkt. Was noch?
Der Praktikant kam herein, stolperte vielmehr. Mit einem scheuen Blick überreichte er Roderick van Sleeken das neue Sandwich.
„Hier, Sir.“ Roderick wartete einen Moment, vielleicht kam er noch auf die gute Idee, sich entschuldigen zu wollen. Oder auch nicht.
„Raus hier. Und nächstes Mal gleich so, wenn’s geht!“
Wie hieß er noch gleich? Er schob den Gedanken beiseite und biss genüsslich in das Sandwich. Diesmal stimmte alles. Langsam kaute er, gab dem Geschmack Zeit, sich zu entfalten. Er lehnte sich zurück und grinste zufrieden. Der Tag wurde besser und besser.
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Beitrag: # 6739547Beitrag Fabian
9.10.2008 - 19:49

Wow. Es gibt ja viele gute AAR's, aber du stellst momentan meiner Meinung nach alle in den Schatten. Natürlich (noch) nicht bezüglich Rennberichte und dergleichen, aber bezüglich der Spannung, der Detailtiefe und der schrifstellerischen und grammatikalischen Qualität. Die geht nun mal vor Quantität, auch wenn ich von dir gerne öfter was lesen würde ;)

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Beitrag: # 6739933Beitrag arkon
12.10.2008 - 16:34

Ein wenig verloren stand er vor dem Haus. Was hieß hier Haus? Es war eine Hütte! Ein kleiner Holzverschlag, der an einem Waldrand, unter dem Überhang der Bäume, kauerte. Die Holzschindeln auf dem Dach kündeten mit munterem, dichtem, grünem Moosbewuchs von der Vorherrschaft der Natur in dieser Nische. Der dünne Weg, der die Schritte von der kleinen Betonpiste herauf führte, wurde auf beiden Seiten von Gras gesäumt. Die Halme hingen soweit über, dass vom Weg nur noch ein dünnes, braunes Schimmern übrig blieb.
Eusébio blickte zurück auf den Kombi seiner Mutter. Sie saß am Steuer und lächelte, ein wenig unsicher, ein wenig aufmunternd herrüber. Neben ihm lagen zwei Taschen voller Sachen, seine einzige Habe, abgesehen natürlich von seinem Fahrrad, dessen Sattel er hielt. Fast kam es ihm vor als stütze er sich ab. Das sollte also seine Oase sein? Seine Rettung vor dem bösen, finsteren Detroit? Er schaute wieder hinauf zum Haus, auf die Läden, welche die Fenster bedeckten, auf die gedrungene, massive Tür. Und auf den Schlüssel in seiner Hand, der von ähnlicher Machart schien.
„He Eusébio, kommst du klar?“ tönte es hinter ihm. Er riss sich los. Er war doch keine fünf mehr!
„Klar doch, wird schon gehen!“ rief er zurück ohne sich um zu drehen. Eine kleine Pause entstand.
„Wann soll ich dich wieder abholen?“
„Ich ruf dich an“ antwortete er. Wenn er ein Telefon finden würde, fügte er in Gedanken hinzu. Aber das sollte nicht ihr Problem sein.
Sie wartete noch einen Moment, offenbar unschlüssig, wie sie sich verabschieden sollte. Er nahm ihr die Entscheidung ab. Sanft legte er sein Fahrrad neben sich ins Gras und ging zurück zum Auto. Das Fenster war herunter gekurbelt und er beugte sich in den Innenraum.
„Danke fürs Bringen!“ Er lächelte sie an. Deutlich konnte er spüren, was für einen Stich er ihr damit versetzte. Wie lange hatte er sie schon nicht mehr angelächelt? Er verharrte kurz, dann riss er sich los, winkte ihr noch einmal kurz zu, und stapfte dann den Weg zum Haus empor. Als er aufgeschlossen hatte drehte er sich noch mal kurz um, sah sie im Auto sitzen und immer noch herüber schauen. Dann, als er gerade noch einmal herunter zu ihr gehen wollte, fuhr sie davon.
Eine Weile stand er da, dachte über die Fahrt nach, über seine Mutter. Dann schloß er die Augen und lauschte. Er hörte nichts. Er wartete ein wenig. Nach und nach gewöhnte sich sein Ohr an die Geräuschkulisse. Das Rauschen der Bäume, das Knacken der Äste im Wind, der Gesang der Vögel.
Er ging in die Hütte hinein. Er war überrascht: Von außen sah Marcs Ferienhaus aus wie eine von tausenden Bruchbuden, innen jedoch hatte er sie gut eingerichtet. Zweckmäßig und spartanisch, aber nicht vorsintflutlich. Ein kleines, bequemes Bett, eine enge Küche, die trotzdem einen Kühlschrank und eine Mikrowelle besaß, Schränke, einen kleinen, aufgeräumten Schreibtisch. Es gab keinen Fernseher, kein Telefon, keine Badewanne. Nach kurzem Suchen entdeckte er eine Waschmaschine. Auf der Rückseite der Hütte fand sich die Toilette, mit fließend Wasser. Offenbar hatte er sich Strom und Wasser hierher legen lassen. Was auch immer er dafür getan hatte, Eusébio war ihm dankbar. Die Dusche fand sich ebenfalls auf der Rückseite der Hütte, allerdings unter freiem Himmel. Ein wenig zweifelnd beäugte er den verkalkten, algenbewachsenen Duschkopf.
Nach dieser ersten Tour fühlte er sich schon deutlich wohler hier. Es würde keine Ablenkung geben, trotzdem musste er nicht auf das kleine bisschen Luxus verzichten, das man gemeinhin als zivilisiert betrachtete. Nachdem er sich eingerichtet hatte zog er sich seine Trainingsklamotten an und drehte eine kleine Runde, zur Orientierung.

edit: danke ;)
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Beitrag: # 6740779Beitrag arkon
16.10.2008 - 23:16

Er hatte sich zuerst Lisa Freeman vorgenommen. Quasi zum warm werden. Aber als Roderick van Sleeken den Verhörraum verließ musste er feststellen, dass er noch unausgeglichener war als zuvor. Er hatte nichts Neues erfahren, aber das war eigentlich bei einem Verhör keine Überraschung. Viel schlimmer war die Art und Weise, wie es abgelaufen war: Ein Stahltisch, wie gewöhnlich, auf der einen Seite er, auf der andere Seite Miss Freeman. Aber, und das hatte ihn schier zum Wahnsinn getrieben: Neben ihm saß ein psychologischer Ratgeber, ein Aufpasser. Und immer wenn van Sleeken das Gefühl hatte, auf einer Fährte zu sein, wenn er neue Erkenntnisse spüren konnte, immer genau in diesen Momenten hatte sich sein Nebenmann eingeklinkt und ihn zurück gehalten. Zum Schutz der Befragten. Scheiß auf die Befragte!
Lohn der sehr widrigen Stunde war also nur ein Zettel, vollgekritzelt mit Dingen, die sie ohnehin schon wussten. Sicher, sie aus einer anderen Perspektive zu hören war wichtig und so. Sagte zumindest das Dienstprotokoll. Er konnte getrost auf so eine Kinderscheiße verzichten. Es drehte sich weiter um diesen einen Unbekannten. Sie hatten keine Beschreibung, noch nicht einmal eine grobe. Es lag zwar nahe, ihn auf „südamerikanisch“ zu schätzen, aber weder würde das helfen noch war es in irgendeiner Form gesichert. Die Angestellten des Krankenhauses, darauf hoffte er. Aber sie hatten ihn nun einmal nicht sehr lange gesehen. Scheiße!
Und nun lag der eigentliche, dicke Brocken vor ihm: Carlito Hernandez. Er hätte gerne darauf verzichtet. Carlito saß tief in der Scheiße, denn auch ohne die Schießerei war es ziemlich offensichtlich, dass er im Drogengeschäft mittendrin hing. Das war zwar vielleicht eine frohe Botschaft für die Staatsanwaltschaft, aber für ihn nicht. Carlito war verängstigt, würde versuchen sich selbst zu beschützen, vielleicht auch den Unbekannten... Ein Deal für ihn war die einzige Chance, hieraus Profit zu ziehen. Und so gerne er das auch getan hätte, die Staatsanwaltschaft hatte es ihm strikt untersagt. Keine Deals für Hernandez, solange bis nicht klar war, was eigentlich gelaufen war. Und weg war sein letzter Strohhalm. Verdammte Scheiße!
Er stellte sich vor die Scheibe, die Spiegelscheibe, durch die man in den Verhörraum blicken konnte. Carlito Hernandez saß dort am Tisch, die Hände ruhig ausgestreckt. Van Sleeken beobachtete ihn wie ein Tiger, der seine Beute beäugt bevor er sie reißt. 17 Jahre war er alt, bald 18. Ein Kind. Und sie hatten genug Material zusammen um ihn einfahren zu lassen, wenigstens für ein, zwei Jahre. Und trotzdem... die Art und Weise, wie er da saß, gefasst, den Hals weit aufgerichtet, ruhig, stolz, undurchdringlich. Er war nicht in die Enge getrieben. Dieser Raum, dieses Gebäude, all das war für ihn nur die logische Konsequenz aus seinem Verhalten. Er hatte damit gerechnet, hier zu landen. Und er rechnete schon damit, dass er noch öfter herkommen würde. Ein Berufsverbrecher, unverbesserlich. An Menschen wie ihm ging das Land zugrunde.
Doch da war noch etwas anderes. Seine Gesichtsfarbe – blass. Er schaute genauer hin. Und jetzt erkannte er unter dem T-Shirt die Verbände, die er trug. Hatte er Schmerzen? Auf jeden Fall brauchte er einen Arzt. Das konnte sogar er sehen. Der psychologische Berater hatte auch auf ihn einen Blick geworfen: Carlito Hernandez musste zurück ins Krankenhaus, so schnell wie möglich. Und er solle sich gefälligst mit seinem Verhör beeilen und nicht unnötigerweise das Leben des jungen Mannes riskieren. Scheiße.
Er ging in den Raum hinein. Carlito wandte seinen Kopf nur halb nach hinten, reflexartig, bevor er wieder gerade aus schaute. Van Sleeken ging langsam um ihn herum, seine Akte in den Händen mit der er demonstrativ herum spielte. Er ließ sich Zeit, wanderte um den Tisch herum, blieb neben dem Stuhl sitzen und ließ sich erst nach einer weiteren Kunstpause darauf nieder.
„Carlito Hernandez“ sagte er, lang gezogen. Er spielte ein wenig mit der Akte herum, den Blick wie beiläufig gesenkt. Ihm ging vor allem eine weitere Sache herum, die der Psychologe gesagt hatte. Er hob den Blick.
„Ich bin Roderick van Sleeken“ Und plötzlich war sein Ton bestimmend. Sie schauten sich an, und sofort war klar, dass dieses Verhör ein Kampf werden würde. „Der Verdächtige“ hallte es in seinem Kopf wieder „hat große Schmerzen. Er weiß, dass er stirbt, er fühlt es.“ Und zum ersten Mal an diesem Tag konnte van Sleeken lächeln.
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Beitrag: # 6741300Beitrag arkon
22.10.2008 - 11:25

Es zog sich in die Länge. Er hatte es nicht eilig. Stück für Stück quälte er ihn durch die Befragung, ließ sich Stück für Stück alles bestätigen, was er bislang wusste. Und, je länger er hier im Raum mit ihm verbrachte, desto deutlicher wurde der Eindruck, dass Carlito Hernandez schon aufgegeben hatte. Das Feuer, was in ihm brannte, war nicht etwa aus. Aber sein Widerstand, der natürliche Reflex eines Verbrechers, alles zu leugnen, er war nicht da. Van Sleeken übertrieb es nicht, Stück für Stück tastete er sich vorwärts. Bill, das war sein Kontaktman gewesen. Und sie waren zusammen zu dem Treffen gefahren. Dort hatten sie Peter Edwards getroffen, offenbar der Drogenhändler. Sie hatte die Drogen probiert, das Mädchen war herein gekommen, die Leibwachen von Edwards waren über sie hergefallen. Dann hatte Bill das Feuer eröffnet. Edwards flüchtete durch das Fenster, einer der Leibwachen wurde auf dem Weg durch die Tür niedergemäht. Die anderen hielten ihn offenbar für Bills Komplizen und durchlöcherten ihn, als er sich hinter dem Bett aufrichten wollte. Danach hatte er das Bewusstsein verloren und war erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Und nach Hause war er alleine geflohen.
Eine Weile herrschte Stille, van Sleeken ließ die erste Version der Erzählung einsinken.
„Sie lügen mich an.“ Stellte er fest, kühl und sachlich. Wieder hob er den Blick, wieder trafen sich ihre Augen. Und während van Sleeken noch überlegener, noch ruhiger war als noch am Anfang, so schlich sich in Carlitos Blick ein Hauch von Sorge. War es der Schmerz, den er spürte? War es die Realisierung, dass sie hier noch sehr lange sitzen bleiben würden, dass er seinen unbekannten Freund noch lange würde schützen müssen.
„Wir haben hier eine Aussage,“ begann van Sleeken von neuem „ die nahe legt, das Sie nicht alleine ins Krankenhaus kamen.“ Er fummelte ein Blatt hervor. Carlito setzte an, etwas zu sagen, doch sein Gegenüber unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Er holte ein Foto von Lisa Freeman hervor, eines, auf dem sie lächelte, froher Dinge. Die Reaktion war subtil, aber dennoch vorhanden. Van Sleeken hatte schon zu viele Verhöre geführt als das ihm die plötzliche Weitung der Pupillen, die unwillkürliche, kleine Bewegung der Hand verborgen geblieben wäre. Er machte eine einladende Handbewegung.
„Sie war bei mir. Ich konnte sie nicht zurück lassen.“
„Sie konnten sie nicht zurück lassen? Sie? Und nicht etwa ihr Freund?“
Diesmal war die Reaktion nicht mehr so subtil. Carlito schluckte, richtete sich auf und stützte sich dann erneut auf dem Tisch ab. Der Schweiß, der seinen Schmerz deutlich sichtbar machte, mischte sich mit Schweiß der Angst. Sie kamen langsam in die Nähe des Punktes, an den er wollte.
„Mr. Hernandez, ich will ehrlich zu ihnen sein“ Ein kleiner Moment der Stille, taktisch perfekt gesetzt. „Wir wissen fast alles. Wir haben die Drogen, das Geld, die Leichen, die Waffen und einen ganze Raum voller Spuren. Das alles, ergänzt mit einem hübschen Strauß an Zeugenaussagen, vor allem von einer Frau, die direkt dabei war, und wir können jeden verknacken, der in dem Zimmer war. Der Grund, warum sie hier sitzen und nicht im Knast mit einer Gerichtsvorladung und einem Pflichtverteidiger, der mit ihnen eine zusammengeschusterte Erklärung einübt, mit denen sie dem Stuhl zu entkommen hoffen ist folgender: Wir wissen nicht, wer der Unbekannte ist, der sie zum Krankenhaus gefahren hat, der sie am nächsten Morgen nach Detroit gebracht hat.“ Er hatte richtig geraten. Der kleine verzog kaum eine Miene, doch trotzdem war für van Sleeken klar, dass er mit seinen kleinen Ergänzungen richtig lag.
„Für sie ergibt sich dadurch die einmalige Gelegenheit, beim Richter einen Bonus zu bekommen, noch bevor sie den guten Mann überhaupt getroffen haben.“ Wieder schweigen. Er ließ die Worte einsinken.
„Ich will es so sagen: Sie kommen vor Gericht. Sie werden verurteilt. Sie sitzen fünf Jahre im Gefängnis. Aber dann, was kommt dann?“ Er streckte eine Hand aus. „Entweder sie kommen frei, beginnen ein neues Leben und kriegen eine zweite Chance. Oder“ er streckte die andere Hand aus „sie kommen auf den Stuhl. Sie werden gegrillt.“ Lange hatte er für den Blick geübt, den er jetzt aufsetzte. Und er hatte noch nie seine Wirkung verfehlt. Er nannte ihn den Green-Mile-Look.
„Sie entscheiden.“ Er wog demonstrativ die beiden Hände ab.
Eine Weile saßen sie sich gegenüber, blickten sich an. Es war wieder das Kräftemessen, nur diesmal mit deutlich anderer Ausgangslage. Van Sleeken schmeckte Triumph auf seiner Zunge. Carlito setzte langsam an, etwas zu sagen, brach ab, setzte erneut an. Jetzt würde es kommen.
„Leck mich am Arsch du Wichser“ keine Aggression, ein ruhiger, gefasster Tonfall. Roderick spürte, wie in ihm die Wut hochkochte. Ein Wirbelsturm, der sich aufbaute. Am liebsten hätte er dem kleinen Pisser den Tisch ins Gesicht geschmissen und mit seinem Stuhl auf ihn eingeprügelt bis mit eine wohligen, krachenden Geräusch sein Rückgrat brach. Er atmete ein, schloß die Augen, hielt den Atem, dachte an die Schmerzen, die sein Gegenüber verspüren musste, lächelte, öffnete die Augen und atmete wieder aus.
Er ließ ein kleines Lachen ertönen. „Reizend, ganz reizend.“ Wieder Stille.
„Was glauben Sie, wie lange wir hier sitzen bleiben können? Eine Stunde, zwei Stunden? Ich will es Ihnen sagen: Bis Sie reden. Vorher verlassen wir beide diesen Raum nicht.“ Er schwieg wieder, schaute seinem Gegenüber direkt in die Augen, genoss ein wenig die sich aufbauende Spannung, lächelte dann und erhob sich. Gerade als er damit beginnen wollte, langsam um den Tisch herum zu gehen, wurde er von einem Klopfen unterbrochen. Er zwinkerte seinem Gegenüber zu und ging zur Tür.
„Was gibt’s?“ fragte er, als er draußen stand, die Tür natürlich geschlossen. Der psychologische Berater stand vor ihm, ein wenig nervös aber dennoch gefasst.
„Der Junge stirbt. Er schwebt in Lebensgefahr“
„Und? Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren!“
Der Berater sah ihn etwas geschockt an, riss sich dann aber sichtlich zusammen.
„Er wird nicht reden. Sie sind schon viel zu lange da drin, und sie haben nichts erreicht. Ich werde das nicht länger Verantworten!“
„Wer redet denn von ihnen? Ich verantworte das. Ich bin leitender Ermittlungsbeamte. Geben Sie mir irgendeinen dummen Wisch, der sie entlastet und ich unterschreibe ihn. Ich übernehme volle Verantwortung.“ Er trat näher an seinen Gegenüber heran, umfasste seine Schultern und schüttelte ihn. „Ich bin kurz davor. Er wird sich noch ein wenig zieren, aber er weiß, dass er irgendwann hier raus und ins Krankenhaus muss. Und dann wird er reden!“
„Das sehe ich anders.“
„Ich bin der Chef, ich verhöre ihn. Was immer auch ihre Meinung ist interessiert mich nicht.“ Er wurde jetzt etwas lauter. Der Berater nahm all seinen Mut zusammen bevor er weitersprach.
„Ich habe ihren Vorgesetzten verständigt. Es ist meine Aufgabe als Arzt, diesen Mann zu einem Arzt zu bringen.“ Er stockte kurz „Er hat sie angewiesen ihn in ein Gefängniskrankenhaus zu bringen. Sofort“
Van Sleeken atmete schwer. Es dauerte einen Moment bis er losfluchte.
„Ich war so kurz davor.“ Fuhr er ihn an. „So kurz davor. Und jetzt holen sie ihn raus. Er wird nie reden. Und wir werden den letzten Unbekannten nie schnappen. Das ist ihre Schuld“ Er streckte seinen Zeigefinger aus und bohrte ihn in die ihm dargebotene Brust.
„Wir sehen uns noch“ fauchte er und stapfte davon.
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Beitrag: # 6745742Beitrag arkon
17.11.2008 - 13:36

ich hoffe das es eurer aufmerksamkeit nicht entgangen ist das ich jetzt schon seit über drei wochen nichts mehr gepostet habe. die wahrheit ist das die letzten posts allesamt auf vorrat geschrieben waren und meine letzte wirkliche arbeit an diesem projekt schon länger zurück liegt.
da ich nicht vorhabe diese geschichte auf die digitale müllkippe zu werfen werde ich mich nun wieder darum kümmern. am samstag habe ich meinen toefl-test (daumendrücken) und er markiert das ende einer langen reihe an vorbereitungen auf einen austausch in die usa. ob ich den platz habe steht noch nicht fest.
ich würde mich nun über einige "reviews" von eurer seite freuen. was denkt ihr über die geschichte, über die charaktere? was wird passieren, wen findet ihr sympathisch und wer sollte schnellstens aus dem plot gestrichen werden?
mein letzter aufruf dieser art in "jerdona zeres" war nicht sonderlich erfolgreich, ich hoffe diese statistik wird nun ein bisschen aufgehellt. ihr müsst nicht sonderlich viel begründen oder systematisch vorgehen, besser wenig feedback als gar keines. ach ja, und bitte das ganze als pn. verbindlichen dank!
im gegenzug verspreche ich mich wieder in die story hinein zu denken und spätestens ab dem nächsten we wieder daran zu schreiben. deal?
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