Wieder schaute ich mir während der neutralen Zone den Tour-Guide an.
Das Profil war nicht sehr schwer. Doch die kleinen Anstiege sollten Ausreißern eine Chance zum Attackieren geben. Aber am Ende wird es wohl den ersten „richtigen“ Massensprint geben. Der Himmel war bedeckt. Möglicherweise wird es heute noch regnen. Das könnte spannend werden. Die Straßen würden sehr glatt sein, denn Regen und der vom Meer hingeflogene Sand würden die Straßen rutschig machen. Dann wären Stürze vorprogrammiert.
Dann ging es los. Sofort nach dem Start gab es keine Attacken, sondern Sprinterzüge. In nur wenigen Kilometern gab es bereits die erste Sprintwertung. Alberto gab dem Team sofort durch, sich zurückzuhalten, aber aufzupassen, dass kein Sprinter in eine Ausreißergruppe gerät. Eine große Masse an Fahrern setzte sich ab. Auch der Mann im Gelben Trikot, Stuart O’Grady, war dabei. Doch ganz vorne waren nicht die absoluten Sprinter und somit gingen die Punkte an Gaztanga, de Jongh und Arvesen.
Apropos Gelbes Trikot- Enrico ging heute in Grün an den Start. Zwar ist er in der Punktewertung nur Zweiter, aber O’Grady kann ja nicht zwei Trikots tragen.
Wenige Kilometer nach der Sprintwertung waren alle Fahrer wieder ein und das Rennen konnte von neuem beginnen.
Gibt es jetzt die ersten Attacken? Ich fragte Alberto, ob jemand von uns mitgehen würde, und wieder sagte er, dass man sich noch zurückhalten wolle. Ich war erneut verwundert, denn immerhin ist man nicht das größte Team bei dieser Tour und da sollte man doch über Ausreißversuche an Etappenerfolge kommen.
„You don`t trust me?“
„Yeah. Do you really think that we can win the stage without a runaway?“
„Yes. We have Robert, Enrico and Baden. They all have the chance to win the stage in sprint.“
„Okay. You are the boss.“
„Ehm yes. You said –we-.“
„Yes. We.“
„So you are in the team?“
„I think so.“
„Okay then tell the team what they have to do. Her is the microphone!“
Er nahm das Mikrophon und drückte es mir in die Hand. Was? Wie? Ich? Warum sollte ich denen nun sagen, was sie machen sollen. Ich habe doch gar keine Ahnung, wie man sich in einem solchen Rennen verhalten soll. Doch trotzdem bewegte ich das Mikrophon zu meinem Mund und drückte auf den roten Knopf.
„Have fun out there. Wait and sprint!“
Danach legte ich es zurück in die Halterung.
„No more to say? No order what to do?“
„Eh I’m not experienced. You should do it.“
Alberto nickte mir zustimmend zu und nahm erneut das Mikrophon:
„Have you heard? The boy said the truth. Calm down and have fun in sprint.“
Von hinten klopfte mir Carlo auf die Schultern. Er lobte mich und redete italienisch mit Alberto. Ich verstand nur „Bambino“. Mein Italienisch ist mieser als mein Fußballspielen. Und das hat einiges zu bedeuten.
Dann ging es rund im Feld. An dem ersten kleinen Anstieg attackierten drei Fahrer. Radio-Tour sagte, es seien Ignatiev, Engoulvent und Elmiger.
Das Feld reagierte allerdings nicht und ließ die Drei ziehen. Eine kleine Gruppe, doch alles starke Ausreißer. Ignatiev ist einer der wohl stärksten Russen und kann richtig Tempo drücken, Engoulvent ist ein Kämpfer, ähnlich wie Voigt nur schwächer und der letzte der Ausreißer war Arrieta, nicht Elmiger wie Radio-Tour kurze Zeit später korrigierte.
Die Gruppe fand sich und vergrößerte kontinuierlich den Vorsprung. An der ersten Bergwertung waren sie schon 3 Minuten entfernt. Ignatiev holte sich dort die Punkte vor Arrieta und Engoulvent.
An der zweiten Bergwertung hatten sie schon 6 Minuten Vorsprung und sicherten sich in gleicher Reihenfolge die Bergpunkte.
Das Rennen wurde zu diesem Zeitpunkt dann etwas langweilig. Die Situation war klar. Im Feld attackierte keiner und die Ausreißer werden irgendwann schon noch eingeholt werden. Ich lehnte mich also etwas zurück und unterhielt mich mit Carlo etwas über Rennräder. Ich fragte ihn, wo der Unterschied zwischen preiswerten und teuren Rädern liegt. Er erklärte mir einige wichtige Dinge und ich erfuhr viel über die verschiedenen Vorlieben der einzelnen Fahrer.
Inzwischen kam Felix Cardenas ans Fahrzeug und orderte achtzehn Flaschen an. Ich war überrascht, wie viele Flaschen er mitnehmen konnte. Doch trotzdem musste er zweimal fahren. Das Tempo war auch sehr gering und so hatte er keine Probleme nach vorne zu seinen Teamkollegen zu fahren. Zu meiner Überraschung holte er auch Flaschen für Robert, Enrico, Chris und Baden. Sind sie im Rennen doch EIN Team?
Die drei Ausreißer kamen in der Zwischenzeit zum zweiten Sprint. Arrieta gewann vor Ignatiev und Engoulvent. Der Abstand betrug zu diesem Zeitpunkt nur noch 5 Minuten, denn das Team CSC nahm das Tempo im Hauptfeld auf. Somit streckte ich mich einmal und schaute dann gespannt wieder nach vorne. Doch plötzlich erfüllte meine Brust ein starker Schmerz. Ich bekam kaum noch Luft. Meine Brust schmerzte stark.
„What’s going on? Are you okay?“
„Äeh… It hurts. I can’t get air.“
„Drive to Gerard. It can be a injury of his fall.“
Sofort verlangsamte Alberto das Tempo und ließ sich zurück ans Ende der Teamwagen fallen. Von rechts fuhr dann der Tour-Arzt Gerard Porte ran und Alberto fuhr das Fenster auf meiner Seite herunter und der Arzt lehnte sich zu mir ins Auto rüber.
„You felt down?“
„Ye… My chest hurts suddenly.“
Ich schob mein T-Shirt hoch und der Arzt schaute sich meine Brust an. Er erkannte eine leichte Schwellung und sagte, dass man das röntgen und kontrollieren sollte. Alberto allerdings war sich sicher, dass man jetzt nicht anhalten könne und mich alleine ins Krankenhaus schicken wollte er auch nicht. Also gab der Arzt mir eine schmerzbetäubende Spritze und sagte abschließend, dass wir nach der Etappe sofort ein Krankenhaus aufsuchen sollten.
Wir fuhren wieder an unsere Position im Feld der Teamwagen. Die Schmerzen ließen langsam nach. Puh. Ich hatte wirklich Angst, dass ich jetzt ins Krankenhaus muss und ich alleine bin. Ich hoffte, dass ich es jetzt bis zum Ende des Rennens durchhalten werde.
Das Rennen ging derweil weiter. Die Spitze war bereits an der letzten Bergwertung. Engoulvent konnte dem hohen Tempo von Ignatiev nicht folgen und auch Arrieta musste reißen lassen und so holte sich der Russe die Punkte und übernahm das Bergtrikot von Jalabert.
Das Feld hatte den Rückstand bereits auf 2 Minuten verkürzt. An der Sprintwertung war Ignatiev noch vor Arrieta, doch auf Platz drei lag bereits Oscar Freire. Wieder ging keiner unserer, also der Barloworld Fahrer mit.
Als die Sprinter wieder im Feld waren, gab Radio-Tour den Abstand nach vorne durch. Arrieta sollte 3 Minuten vor dem Feld und Ignatiev eine weitere Minute vorne liegen. Das musste eine Fehlmeldung sein, denn es waren nur noch 35km zu fahren. Falls das stimmt, wird es jetzt ganz knapp.
Cardenas holte das letzte Mal Flaschen und die Sprinterteams High Road, Liquigas und auch CSC versuchten den Abstand nach vorne zu verringern. Das Tempo war so hoch, dass die geschwächten Ausreißer 12km vor dem Ziel eingeholt wurden. Nun konnten die Sprintvorbereitungen beginnen.
„You know what to do.“, sagte Alberto bestimmend ins Mikro.
Auf den letzten Kilometern fuhr Fabian Cancellara dann von vorne. Er machte so hohes Tempo, dass sich keine Sprinterzüge formieren konnten. Robert setzte sich an die Spitze und viele andere Sprinter waren einige Meter weiter hinten. Albasini war es, der den Sprint eröffnete, doch er ging früh raus und so war Robert im Wind. „To early“, sagte Alberto, doch Robert versuchte den Sprint von vorne durchzuziehen. Ich glaubte nicht, dass er es schaffen würde. Doch komischerweise machte niemand Anstalten, an ihm vorbeizugehen. Napolitano und Ciolek fuhren hinter ihm. Dann kam O’Grady von der anderen Seite und auch Napolitano kam aus dem Windschatten von Robert hervor. Doch der legte nochmals zu. Er legte seine letzten Kräfte rein und gewann.
„Unbelievable. Incredibly. Amazing.“
Alberto freute sich wie ein kleines Kind. Er schlug mit Carlo ein und umarmte mich.
„You see what you can stir. You are the man!“
Ich sollte also für diesen Sieg zuständig gewesen sein? Nur durch meine sechs aufmunternde Worte? Nein, das war Robert allein. Ohne jegliche Hilfe hat er von vorne den Sprint gewonnen.
Zweiter wurde Napolitano vor O’Grady, der somit das Gelbe Trikot behalten wird. Baden kam auf einen starken sechsten Platz und Enrico wurde Vierzehnter vor Pfanni. Der Rest des Teams verlor keine Zeit und kam mit dem Hauptfeld ins Ziel.
Etappenstand
1 Robert Hunter Barloworld 3h50'40
2 Danilo Napolitano Lampre s.t.
3 Stuart O'Grady Team CSC - Saxo Bank s.t.
4 Gerald Ciolek Team High Road s.t.
5 Koldo Fernández de Larrea Euskaltel - Euskadi s.t.
6 Baden Cooke Barloworld s.t.
7 Daniele Bennati Liquigas s.t.
8 Óscar Freire Rabobank s.t.
9 Thor Hushovd Crédit Agricole s.t.
10 Gert Steegmans Quick•Step s.t.
Gesamtwerung
1 Stuart O'Grady Team CSC - Saxo Bank 8h14'38
2 Robert Hunter Barloworld + 8
3 Danilo Napolitano Lampre + 16
4 Enrico Gasparotto Barloworld s.t.
5 Daniele Bennati Liquigas + 20
6 Niki Terpstra Team Milram + 22
7 Mikel Gaztañaga Agritubel s.t.
8 Steven De Jongh Quick•Step + 24
9 Óscar Freire Rabobank + 26
10 Kurt-Asle Arvesen Team CSC - Saxo Bank s.t.
Punktewertung
1 Stuart O'Grady Team CSC - Saxo Bank 61
2 Robert Hunter Barloworld 55
3 Daniele Bennati Liquigas 45
4 Óscar Freire Rabobank 44
5 Enrico Gasparotto Barloworld 42
6 Gerald Ciolek Team High Road 40
7 Thor Hushovd Crédit Agricole 36
8 Koldo Fernández de Larrea Euskaltel - Euskadi 35
9 Danilo Napolitano Lampre 30
10 Gert Steegmans Quick•Step 28
Bergwertung
1 Mikhail Ignatiev Tinkoff Credit Systems 20
2 Nicolas Jalabert Agritubel 13
3 José Luis Arrieta AG2R La Mondiale 13
4 Jimmy Engoulvent Crédit Agricole 7
5 Karsten Kroon Team CSC - Saxo Bank 5
6 Anthony Geslin Bouygues Télécom 4
7 José Joaquín Rojas Caisse d'Epargne 3
8 David De la Fuente Saunier Duval - Scott 3
9 Alexandre Usov AG2R La Mondiale 1
10 Thomas Voeckler Bouygues Télécom 1
Auf den Fernsehbildern sah ich kurz nachdem wir vor dem Teambus einparkten, dass sich einer unserer Fahrer beim Überqueren der Ziellinie freute. Ich konnte es nicht fassen, aber es war Cheula. War er nicht auf der Seite von Soler und den anderen?
Ex-Profi Cédric Vasseur via Twitter: "Der Radsport wurde wieder einmal vor der ganzen Welt lächerlich gemacht...Bravo!!!"