Beitrag: # 401776Beitrag
arkon
19.12.2006 - 22:33
20. September
Salzburg, Österreich
Sonniges, warmes, aber nicht zu heißes Wetter empfing die Fahrer auf der Strecke. Der Himmel war nahezu Wolkenlos und die vereinzelten weißen Fetzen erhöhten eher den Ferien-Faktor der blauen Halbkugel, die sich über Salzburg wölbte. Das perfekte Wetter also, um den neuen Träger des Regenbogentrikots der Zeitfahrer zu suchen. In dem Start-/Zielbereich tummelten sich allerlei Pressevertreter, Betreuer, Techniker, Fans, Fotografen, Offizielle, Kabeljungen und viele mehr. In ihrer Mitte die Hauptpersonen des heutigen Tages: Die versammelte Weltelite der Zeitfahrer. Die Meister in der oft verhassten Disziplin des Kampfes Mann gegen Uhr. Hier waren die Fahrer beieinander, die wie keine sonst sich alleine motivieren konnten, die nach außen hin das Pokerface trugen und innerlich einen heißen, einen erbitterten Kampf gegen den eigenen Schweinehund führen konnten. Und mitten unter dieser speziellen Spezies von Radprofis saß einer, der das Trikot trug, welches alle begehrten.
Fabian Schmidt fühlte sich gut. Er war bereit. Nachdem er gestern noch starke Zweifel am Projekt Titelverteidigung gehegt hatte sah die Welt heute schon ganz anders aus. Er wollte fahren. Er brannte darauf, sein Karbonrad die Straßen Österreichs entlang zu treiben, die Uhr ticken und seine Konkurrenten verzweifeln zu sehen. So, wie er es im Sommer bei der Tour vorexerziert hatte. Dort ließ er die Bemühungen der Konkurrenz wie hilfloses Strampeln aussehen. Und es hatte sich wunderbar angefühlt.
Voller Tatendrang sprang er auf das Signal seiner Armbanduhr von seiner Rad, auf dem er sich eingestrampelt hatte, und schnappte sich sein richtiges Zeitfahrrad, welches an dem Wohnwagen neben ihm lehnte. Fast schon war er unterwegs in den Startbereich, als ihm einfiel, das er ja immer noch das Weltmeistertrikot trug. Er hatte es während des Einrollens noch ein letztes Mal tragen wollen, bevor er es sich zurückerobern musste. Er verschwand kurz in dem Wagen und trat im roten Dress der deutschen Nationalmannschaft wieder heraus.
Diesmal konnte es wirklich losgehen. Er war wirklich froh, das er nur das Trikot austauschen musste und nicht etwa sein Zeitfahrrad. Er liebte die Time Machine 01, die ihm von Phonak zur Verfügung gestellt wurde. Auf diesem Rad hatte er fast alle seine Siege eingefahren, insbesondere natürlich den Titel im letzten Jahr. Es war quasi ein weiterer Talisman.
Als er das Starterhäuschen betrat wurde er mit einem fast euphorischen Applaus empfangen. Viele Deutsche waren hergereist, um den Titelkämpfen beizuwohnen, und er war ihr Star. Fast schon schüchtern grinste er unter seinem Helm und der Sonnenbrille hervor, dann fiel er in seine Konzentration zurück. Die Sprechchöre, die sich spontan formierten, konnte er schon nicht mehr hören. Die leere Straße vor ihm, das Piepen der Starteruhr, dann der Start. Er trat schon in die Pedale, bevor das Rad das Ende der Rampe erreicht hatte. Das Kopfsteinpflaster, die erste Kurve, bremsen, wieder herausbeschleunigen. Er fuhr erst gar nicht in einem kleinen Gang ein, um sich an das Rennen zu gewöhnen. Er gab sofort Vollgas. Noch in der Stadt musste er an einigen Kurven stärker bremsen, als er es aus den zahlreichen Streckenbesichtigungen gewohnt war.
Oben, auf dem Berg, wo die erste Zwischenzeitnahme stand, brach gerade Fabian Cancellara den Rekord, und zwar ganz ordentlich. Der junge Schweizer aus dem CSC-Team wurde damit augenblicklich zum Favoriten des Rennens. Hinter ihm kamen nur noch Rogers und Schmidt. Der Australier enttäuschte aber schon an diesem ersten echten Prüfstein, blieb also noch Schmidt.
Und der hatte sich wirklich etwas vorgenommen. In den letzten Tagen war er diese Steigung etliche Male hochgefahren, um sich im Rennen ja nicht zu verschalten. Und nun kam ihm diese Erfahrung zu gute. Wie von selbst spulten seine Beine das Programm. Leicht und flüssig kurbelten sie die Steigung empor. Auch als er sich kurz aus dem Sattel erhob um etwas Schwung in eine Rampe mit zu nehmen ging ein anerkennendes Raunen durch das Auditorium, in dem die Pressevertreter das Rennen auf Leinwand verfolgten. Fabian hatte seine Hausaufgaben gemacht und ging das Unternehmen Titelverteidigung ernsthaft an. Erwartungsgemäß unterbot er die Zeit Cancellara nochmals. Nun hieß es also Fabian gegen Fabian.
Und während der Schweizer vorne weiterhin stilistisch astrein dem Ziel entgegenbrummte setzte der Deutsche alles daran, seinen Vorsprung zu verteidigen. Die zweite Zwischenzeit war noch weit entfernt. Er musste nun seinen Rhythmus finden und durchstehen. Tempohärte. Sein Lieblingsthema.
Aber irgendwie lief es heute nicht ganz so. Kaum hatte er sich für einen Gang entschieden drückten seine Beine etwas zu sehr, oder die Kurbel drehte zu leicht, oder der Wind drehte ungünstig, oder eine Unebenheit raubte ihm den Vortrieb, oder ein Rampe bremste ihn aus. Er schaltete generell zwar sehr viel, aber heute schien die Strecke einfach nicht zu den Gängen zu passen. Er wusste natürlich, dass das Schwachsinn war: Er war mit genau den gleichen Blättern und Ritzeln diese Strecke schon mehrmals gefahren, und auch heute Morgen noch hatte er sich ohne Probleme zu recht gefunden. Aber der übliche Fluss, der sich im Laufe eines Rennens bei ihm eigentlich ziemlich schnell einstellte, kam überhaupt nicht auf. Statt wie von selber schaltete er ziemlich schwerfällig. Noch konnte er seinen runden Tritt wahren, noch war der Kampf nicht verloren. Aber sein Gehirn war nicht aus-, sondern eingeschaltet, und er musste sich selber überreden, nichts an seiner Haltung zu verändern.
„Ruhig, nur die Ruhe. Du liegst immer noch super im Rennen. Jetzt behalt nur die Nerven.“ Dröhnte es durch den Kopfhörer. Ja, verdammt, er wusste ja selber noch nicht einmal, was schief lief. Aber als er voraus blickte und oben auf einer lang gezogenen Steigung die zweite Zwischenzeit erblickte, wusste er, das es ein langer Weg hinauf werden würde. Diese Perspektive war einfach dazu gemacht, den Fahrern einen harten Prüfstein für ihre Motivation entgegen zu legen. Man hatte einfach den Eindruck, nicht voran zu kommen. Und das war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Er wurde langsamer und langsamer. Schließlich stand er auf, um wieder Schwung zu bekommen, merkte aber sofort, dass die Steigung viel zu flach dafür war. Panisch schaltete er herunter und kurbelte, was er konnte. Er musste einfach oben ankommen.
Der Weg hinunter ins Ziel wurde der längste seines Lebens. Das Rennen war schon verloren, aber er konnte es nicht aufgeben. Nicht vor allen Kameras. Und mit jedem Meter verlor er mehr und mehr an Boden. Er fühlte sich, als ob er rückwärts in eine Schlucht fallen würde. Nichts gab ihm mehr halt. Nur mühsam konnte er die Fassung wahren. Wenigstens solange er live im Fernsehen gezeigt wurde musste er sein Pokerface wahren. Als er nach der Abfahrt wieder selber treten musste wurde es noch schlimmer. Die Schmerzen in seinen Beinen kamen fast schon als Erlösung: Er war nun wirklich über seinen Leistungsmäßigen Zenit. Von hier an konnte er gegen seine Muskeln kämpfen, nicht mehr nur gegen seinen Geist. Wie Feuer durchzuckte die Erschöpfung seinen Körper. Er wollte keinen einzigen Meter mehr treten. Noch einmal schoss der Gedanke des Aufgebens durch seinen Kopf. Einfach absteigen. Aber er konnte noch nicht einmal die Entscheidung dafür treffen. Es gab nur noch den Modus vorwärts.
Noch vor der Ziellinie richtete er sich auf. Wenigstens war er als letzter gestartet, keiner hatte ihn überholt. Aber das war auch schon sein einziger Trost. Er hatte es gründlich verkackt. Erst als eine salzige Träne über seine Lippen kullerte, realisierte er, dass er doch angefangen hatte, zu weinen. Kommentarlos fuhr er durch die Reihen der Reporter. Durch den schwarzen Schleier, der sich über ihn zu legen drohte, suchte er verzweifelt seinen Mannschaftsbus. Mühsam kämpfte er die Tränen zurück, lehnte das Rad an eine Absperrung und verschwand so schnell es ging im Bus.
Drinnen setzte er sich auf ein Bett, vergrub sein Gesicht zwischen seinen Knien und war endlich alleine.
wer keine ahnung hat - einfach mal die fresse halten