Doch heute, heute würde Heras sein Trikot aller Voraussicht nach verlieren, denn die 62 Kilometer alleine gegen die Uhr gehörten nicht gerade zu seinen Zuckerdisziplinen. Die Chance für Jan Ullrich, den Konter zu setzen, oder für einen der anderen starken Zeitfahrer, das begehrte Trikot überstreifen zu können. Michael hatte sich vorgenommen, vorne reinzufahren, Markus wollte sich ebenfalls nicht unter Wert verkaufen. Doch die Strecke würde hart werden, 62 Kilometer war er selten zuvor alleine gefahren. Und bis zur ersten Zwischenzeit, etwa nach einem drittel der Distanz, müsste er rein nach Gefühl fahren, hätte keine Vergleiche zu anderen. Aber dann, anders als oft, wären viele Vergleiche da, nur Jan Ullrich kam noch als große Gefahr nach Markus, der gute Prolog machte sich bezahlt. Viele andere mussten also schon lange vor ihm das Hotel verlassen, Fabian würde als erster dran sein. Markus dagegen fuhr später zum Start, er hatte noch Zeit. Aber besser eine ruhige Vorbereitung als unnötiges Gehetze, lieber eine Viertelstunde zu früh als zu spät da sein.
Als er ankam, stieg langsam Nervosität in ihm auf, er begann mit dem Warmfahren. Auch Teamkollegen befanden sich in der Startvorbereitung, durch Musikhören und Reden wollte er sich beruhigen, dazu die leichte Anstrengung. Aber an sein Limit durfte er nicht gehen, er würde die Kraft brauchen und dürfte nicht von Anfang an Vollgas geben, die Reserven würde er nachher auf der Strecke benötigen, etwa anderthalb Stunden Fahrzeit wurden vorher geschätzt, die Zeiten momentan kündigten eher mehr an. Auch Favoriten nahmen das Rennen jetzt auf, doch er interessierte sich weniger für deren Fahrt als für seine Vorbereitung. Denn er hatte sich wieder großes vorgenommen, wollte seinen Gegner im Kampf um die Kapitänsrolle erneut Zeit abnehmen. Kein leichtes Unterfangen, Cadel und Jörg galten als exzellente Zeitfahrer, auch Georg war nicht zu unterschätzen, auch wenn seine Zeit eher im Gebirge kommen würde.
Weiter galt es, sich locker einzurollen, sich auf die bevorstehende Aufgabe vorzubereiten, sowohl körperlich als auch geistlich. Schon lange hatte er seine Taktik zurechtgelegt, er wollte sein eigenes Rennen machen, sich von nichts beeinflussen lassen, hinten raus zulegen können und nicht einbrechen. Auf dieser lange Distanz ein schweres Unterfangen, alles würde heute passen müssen. Nach Fabian und Peter musste auch Georg antreten, der Österreicher wollte viel erreichen heute Nachmittag. Näher und näher rückte Markus Start, die Nervosität steigerte sich langsam mit jedem Fahrer weiter, jetzt bekam er einige Informationen von der Strecke mit. Georg hatte sich auf den 21.Platz nach zwanzig Kilometern geschoben, schon beinahe anderthalb Minuten hinter Olaf Pollack zurück, der scheinbar schnell angegangen war. Aber immerhin war er nur eine Sekunde langsamer als Ivan Basso, der zwei Minuten vor ihm gestartet war, auf diese Leistung konnte er aufbauen. Frank ging ins Rennen, etwas später folgten Marcos und Cadel. Vor Jörg kam nur noch Vinokurov, dann war auch der Ansbacher dran. Ein starker Zeitfahrer nach dem anderen, aber Markus musste noch warten. Er zog sich seine Rennkleidung an, ging aus dem Teambus, nahm sich seine Rennmaschine. Endlich, sein Name wurde aufgerufen. Er rollte zum Start, unterzog sein Rad einer letzten Kontrolle, zurrte den Helmriemen fest. Aus seinem Ohr hörte er, dass Jörg bei der ersten Zwischenzeit vor Cadel führte, aber es würden ja noch einige kommen. Michael verschwand in der Ferne, Vladimir Karpets rollte von der Rampe, der Starter bat ihn herauf. Ein letztes Richten seiner Brille, ein letztes Einklicken in die Pedalen, der Mann neben ihm zählte die Sekunden herunter. Das Rennen hatte begonnnen, er fuhr mit kräftigen Tritten los, schaltete hoch, suchte seinen Rhythmus.
![Bild](http://img262.imageshack.us/img262/6356/fsscr0005ba.jpg)
Schnell fand er seinen Tritt, rund und gleichmäßig fuhr er die ersten Meter der Strecke. Aus seinem Ohr erfuhr Markus, das Christophe Moreau die Bestzeit nicht nur unterboten, sondern geradezu pulverisiert hatte, doch das interessierte ihn jetzt wenig. Wichtig war sein Rennen, um die anderen könnte er sich später kümmern. Schnell erreichte er die erste Steigung, aber sonderlich steil waren die drei Kilometer nicht, in der Spitze zwei Prozent. Ein leichtes Gefälle, doch Ausruhen konnte man sich nicht, das Tempo musste hoch bleiben. Da kam schon die erste Zwischenzeit, bald würde er wissen, ob sein gutes Gefühl bestätigt würde.
„Platz sieben, eins vierzehn auf Moreau, zwei Sekunden auf Jörg, drei auf Platz vier.“ Das hörte sich doch schon einmal gut an, Cadel befand sich dreizehn Sekunden hinter ihm. Moreau fuhr scheinbar in einer anderen Liga, vorne hatte er Jörg eingeholt. Aber der war nicht schlecht gefahren, dann hätte er nicht den Abstand zu Vinokurov aufholen können, der Franzose war offensichtlich bärenstark. Aber jetzt musste er sich auf sein Rennen konzentrieren, seinen Rhythmus beibehalten, sich nicht zu einem zu schnellen Tritt verleiten lassen, aber auch nicht bummeln.
Ein extrem schmaler Grat war es zwischen dem Überziehen und dem Verlieren von wertvoller Zeit, keine leichte Aufgabe. Und ob er scheitern würde, konnte man erst im Ziel sehen. Fast flach war es bis zur nächsten Zeitnahme, wenige störende Steigungen oder Abfahrten, selten ging es um Kurven. Kilometer um Kilometer schob er sich vorwärts, aber wie schnell war er? Die Zeitnahme kam, bald würde er es wissen.
„Das sieht gut aus, fünfter Platz, knapp hinter Jörg. 1:42 auf Moreau, hinter dir kommt nur noch Ullrich. Zehn Sekunden schneller als Cadel, jetzt leg noch mal zu wenn du kannst.“ Eine Verbesserung, aber jetzt würde es hart werden. Die letzten zwanzig Kilometer müssten über seinen Erfolg entscheiden, eine Top-Platzierung war zum Greifen nahe. Aber noch hatte er eine halbe Stunde Fahrt vor sich, noch musste er sich quälen, noch konnte er alles verlieren… Die Abstände würden heute groß werden, das war klar, ein Vorteil für einen starken Zeitfahrer, den er nutzen musste. Im Ziel hatte sich das Feld weit auseinandergefahren, Jörg hatte als zweiter fast zwei Minuten Rückstand, Levi Leipheimer als fünfter mehr als das Doppelte. Wo würde er sich einreihen? Die Chance auf eine tolle Ausgangsposition für die Berge war da, er musste noch diesen letzten Teil des Rennens dafür arbeiten. Die letzte kurze Steigung, steiler als die vorherigen, die letzten Reserven aus sich herausholen, alles tat weh, das Atmen wurde unerträglich schwer, aber bald würde es vorbei sein, bald würde er den Lohn ernten… Aus seinem Kopfhörer drangen Anfeuerungsrufe, er musste kämpfen, durfte nicht aufgeben, die letzten Kilometer.
Markus tauchte ins Ziel ein, schaute auf die Anzeigetafel und sah seinen Namen aufleuchten, daneben eine große, leuchtende vier. Platz vier, und auf dem letzten Abschnitt hatte er nichts verloren, abgesehen von vier Hundertstel-Sekunden. Eine grandiose Leistung, er war stolz auf sich. Doch jetzt musste er sich erst einmal wieder regenerieren, die erstbeste Steinmauer musste als Sitz herhalten, damit er nicht umfiel. Ein Betreuer kam, reichte im etwas zu Trinken und eine Decke, führte ihn in den Bus. Jetzt musste er sich umziehen, die übliche Prozedur, wie nach jedem anderen Rennen auch.
Langsam kam er wieder zu Kräften, trat aus dem Bus, das erste Kamerateam wartete auf ihn. Zum Glück hatte Holczer noch kurz zuvor mit ihm gesprochen, ihm zu seinem endgültigen fünften Platz gratuliert, ihm noch einige Interview-Tipps gegeben. Ob er diese Leistung erwartet hätte, fragte man ihn. Natürlich hatte er sich vorgenommen, sich stark zu präsentieren, aber mit einem solchen Erfolg hatte er nicht gerechnet. Über die Taktik im Rennen wollte der Reporter aufgeklärt werden, das war im Grunde einfach zu beantworten: Er war langsam gestartet und hatte sich permanent gesteigert. Die Frage nach seinen weiteren Ambitionen kam, das hatte er erwartet. Doch vorläufig stapelte er tief: „Ich habe zwei schöne Erfolge gefeiert, jetzt will ich weiter gute Leistungen bringen. Aber ein bestimmtes Ziel setze ich mir nicht, es ist ja noch nicht einmal die Kapitänsfrage geklärt. Dazu ist es noch zu früh.“ Ob er vielleicht mit dem weißen Trikot liebäugelte? „Jetzt habe ich es erst mal verloren, es waren schöne Tage in Grün und Weiß. Aber wozu es am Ende vielleicht reichen könnte, kann man erst im Verlauf der Tour sagen, vielleicht nach den Pyrenäen.“
Damit war auch das fertig, jetzt fuhr er mit den anderen ins Hotel, wo man die Etappe und die Gesamtwertung analysieren wollte. Ein starkes Ergebnis hatte die Mannschaft gebracht, vier Mann unter den besten Zehn, Christophe Moreau hatte mit dem Sieg auch Gelb übernommen. Große Abstände gab es, Georg hatte als 28. sechseinhalb Minuten verloren, auch andere Favoriten waren weit zurückgeblieben.
5.Etappe: Avranches – Saint-Malo:
1 Christophe Moreau AG2R Prévoyance 1h32'51
2 Jan Ullrich T-Mobile Team + 29
3 Floyd Landis Phonak Hearing Systems + 1'18
4 Vladimir Karpets Illes Balears + 1'32
5 Markus Fothen Gerolsteiner + 1'43
6 Jörg Jaksche Gerolsteiner + 1'52
7 Cadel Evans Gerolsteiner + 2'20
8 Denis Menchov Rabobank + 3'10
9 Michael Rich Gerolsteiner + 3'25
10 Victor Hugo Pena Phonak Hearing Systems + 3'26
13 Levi Leipheimer Phonak Hearing Systems + 4'38
14 Paolo Savoldelli Discovery Channel + 4'46
15 Yaroslav Popovych Discovery Channel + 5'08
16 Francisco Mancebo AG2R Prévoyance + 5'10
18 Alexandre Vinokourov Liberty Seguros + 5'21
25 Andrey Kashechkin Fassa Bortolo + 6'16
26 Alejandro Valverde Illes Balears + 6'22
28 Georg Totschnig Gerolsteiner + 6'34
30 Marcos Serrano Gerolsteiner + 6'52
47 Frank Schleck Gerolsteiner + 7'30
48 Andreas Klöden T-Mobile Team + 7'32
54 Ivan Basso Team CSC + 7'48
57 Roberto Heras Liberty Seguros + 7'54
63 José Azevedo Discovery Channel + 8'08
68 Damiano Cunego Lampre - Caffita + 8'30
69 Michael Rasmussen Rabobank + 8'36
72 José Rujano Colombia - Selle Italia + 8'51
104 Bobby Julich Team CSC + 9'40
117 Fabian Wegmann Gerolsteiner s.t.
Gesamtwertung:
1 Christophe Moreau AG2R Prévoyance 16h00'05
2 Jan Ullrich T-Mobile Team + 13
3 Floyd Landis Phonak Hearing Systems + 1'13
4 Vladimir Karpets Illes Balears + 1'22
5 Markus Fothen Gerolsteiner + 1'31
6 Jörg Jaksche Gerolsteiner + 1'52
7 Cadel Evans Gerolsteiner + 2'20
8 Denis Menchov Rabobank + 3'04
9 Michael Rich Gerolsteiner + 3'18
10 Victor Hugo Pena Phonak Hearing Systems + 3'22
13 Paolo Savoldelli Discovery Channel + 4'41
14 Levi Leipheimer Phonak Hearing Systems + 4'48
15 Yaroslav Popovych Discovery Channel + 5'07
16 Francisco Mancebo AG2R Prévoyance + 5'08
17 Alexandre Vinokourov Liberty Seguros + 5'21
25 Andrey Kashechkin Fassa Bortolo + 6'18
26 Roberto Heras Liberty Seguros + 6'25
27 Alejandro Valverde Illes Balears + 6'27
29 Georg Totschnig Gerolsteiner + 6'43
31 Marcos Serrano Gerolsteiner + 6'53
45 Frank Schleck Gerolsteiner + 7'33
53 Ivan Basso Team CSC + 7'57
55 José Azevedo Discovery Channel + 8'12
59 Damiano Cunego Lampre - Caffita + 8'42
61 Michael Rasmussen Rabobank s.t.
63 José Rujano Colombia - Selle Italia + 8'56
Viele Favoriten hatten schon riesige Abstände nach vorne, zwar standen die Berge noch bevor und das letzte Wort war noch lange nicht gesprochen, aber für viele würde es sehr schwer werden, und nicht wenige würden in den Pyrenäen unter Zugzwang stehen. Für den Rennverlauf konnte das ein günstiger Effekt sein, allerdings war es auch möglich, dass die Spannung völlig verpuffte. Denn die großen Rückstände würden Angriffe erfordern, die den Gesamtführenden in Schwierigkeiten bringen könnten, aber falls dessen Team stark genug war, würde es reichen, das Rennen zu kontrollieren. AG2R war das wohl nicht zuzutrauen, aber T-Mobile hatte natürlich viele starke Kletterer in seinen Reihen, aber ob sie die gesamte Kletterelite in Schach halten könnten? Man würde es sehen, es stand auf jeden Fall eine spannende Tour im Jahr eins nach Armstrong bevor…