Die erste ProTour-Saison geht zu Ende

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Die erste ProTour-Saison geht zu Ende

Beitrag: # 314712Beitrag Escartin
19.10.2005 - 18:18

Die erste ProTour-Saison geht zu Ende

Ein Rück- und Ausblick

Lange war gestritten worden, bis zuletzt stand der Start auf der Kippe, doch nach einem ziemlich faulen Kompromiss zwischen UCI und den Organisatoren der drei großen Landesrundfahrten, begann am 06.03. mit dem Prolog zu Paris-Nizza die ProTour, großes Projekt des scheidenden UCI-Präsidenten Verbruggen, für ihre Gegner aber der erste Nagel im Sarg des Weltradsports. Seit diesem sechsten März lautet eine der meistgestellten Fragen aber auch: "Welche Zukunft wird der ProTour beschieden sein?"

Will man diese Frage einigermaßen fundiert beantworten, gilt es zu analysieren, welche Veränderungen die Einführung der ProTour bewirkt hat. Für Rennen, für Fahrer, für Teams. Unabhängig davon, ob es eine Zukunft gibt, stellt sich außerdem die Frage, ob eine solche Zukunft wünschenswert wäre, oder ob es nicht bessere Alternativen gibt. Vor die Bewertung gehört aber die Analyse:

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Schöpfer der ProTour: Hein Verbruggen

Die Rennen:

"ProTour oder nicht ProTour", das sei hier die Frage, die schnell zu "sein oder nicht sein" werden würde, so prophezeiten es viele Direktoren kleinerer Rennen vor einem Jahr. Und tatsächlich lässt sich bereits nach einer ProTour-Saison feststellen, dass das Renngefüge sich verändert hat. Bis zu diesem Jahr waren die UCI-Klassifizierungen der Rennen hauptsächlich von ranglistenmathematischer Bedeutung, sportlich waren die Grenzen fließend, dass verschieden klassierte Rennen eine sportlich gleichwertige Besetzung hatten, war mehr die Regel als die Ausnahme. Zugleich konnte fast jedes Rennen zumindest ein paar GS1-Teams verpflichten, zumeist die einheimischen Teams, ergänzt um eine von Prestige und Budget des Rennens abhängige Zahl ausländischer Teams. Bei tendenziell zurückgehender Zahl an Renntagen, zumindest bei den Spitzenfahrern, bedeutete diese Situation aber auch, dass viele Teams zugunsten ihrer kleineren Heimrennen auf große Rennen verzichteten, darunter litten nicht nur Giro und Vuelta, sondern auch Rundfahrten wie die Tour de Romandie oder die Dauphine, an der im Vorjahr ganze zwölf Teams teilnahmen.
Der Kalender der letzten Jahre war also prall gefüllt mit guten Rennen, wirklich herausragende Veranstaltungen gab es dagegen kaum, nur bei der Tour standen alle Spitzenteams am Start. Dies war der Preis für einen Kalender, der garantierte, das von Februar bis Oktober an jedem Tag irgendwo in Europa attraktiver Radsport geboten wurde.

Der Eingriff, den die Einführung der ProTour an dieser Stelle bedeutete, ist in seinem Ausmaß kaum zu überbieten. Er ergibt sich aber völlig logisch aus den zahlenmäßigen Notwendigkeiten. Die meisten Spitzenteams bestritten bis 2004 nur zwei große Landesrundfahrten, die Tour und eine weitere. Allein die Teilnahme an einer dritten großen Rundfahrt bedeutet aber 9x21, also 189 zusätzliche Rennfahrertage. Eine kleinere Rundfahrt von fünf Tagen, die mit einem acht Fahrer starken Team bestritten wird, kostet dagegen nur 40 Rennfahrertage, bei gleichbleibender Anzahl von Renntagen pro Fahrer kann ein Team also an 4-5 kleinen Rundfahrten weniger teilnehmen, sofern es seinen Kader nicht spürbar vergrößert, was nach ProTour-Reglement nicht möglich ist. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass sich die durchschnittliche Anzahl von Renntagen pro Fahrer erhöht haben dürfte, muss ein Team zumindest drei kleinere Rundfahrten streichen. Und die weiteren zusätzlichen ProTour-Renntage, vor allem durch die zehn einwöchigen Rundfahrten sind dabei noch gar nicht in die Rechnung aufgenommen. Dass die spanischen Teams jetzt Fahrer für die Klassiker des Nordens abstellen müssen, fällt da fast gar nicht mehr ins Gewicht. Allein für das ohnehin schon bei vielen Rennen vertretene T-Mobile-Team gerechnet, bedeutete die ProTour im Vergleich zum Vorjahr 56 Renntage bzw. 467 Renneinsätze mehr, bei den kleinen Rennställen sind diese Auswirkungen noch gravierender.

Was bedeuten diese Zahlen jetzt? Offenbar basiert auf ihnen der sich öffnende Graben zwischen Rennen inner- und außerhalb der ProTour. Bis zu dieser Saison gab es, was die Teilnahme der zehn stärksten Teams anging, alle Arten von Rennen, solche, mit allen TopTeams am Start, Rennen mit neun dieser Teams bis hinunter zu Rennen mit einem oder ganz ohne Spitzenteams. In diesem Jahr erhöhte sich die Zahl der erstgenannten Rennen logischerweise drastisch.
Hinter den auf dem Papier glänzend besetzten ProTour-Rennen klaffte schon in dieser Saison eine große Lücke, und tendenziell dürfte dieser Abstand in den nächsten Jahren noch wachsen. Die Rennen zu Beginn der Saison konnten sich noch über hervorragende Starterfelder freuen. So starteten bei der Valencia-Rundfahrt 11 ProTour-Teams, ebenso bei Het Volk und dem GP von Harelbeke. Mit 14 ProTour-Teams konnten das Criterium International und die drei Tage von De Panne die nominell besten Starterfelder der Saison präsentieren. Doch bereits im April bekamen die Rennen außerhalb der ProTour zunehmend Probleme, ProTour-Teams an den Start zu locken. So nahmen bereits am Scheldepreis ganze fünf ProTourTeams teil. Auch der früher einmal große Henninger Turm konnte nur sechs Teams der ProTour an den Start ziehen, der andauernde Abstieg des ehemaligen Weltcuprennens setzte sich damit fort. Auch in Spanien zeigten sich die Auswirkungen der ProTour. Konnte die im April ausgetragene Aragon-Rundfahrt noch sieben ProTour-Teams anziehen, musste die am Monatesende gefahrene Castilla y Leon ohne ein einziges solches Team auskommen. Wohlgemerkt: Nicht einmal die einheimischen Teams nahmen an diesem ja durchaus prestigeträchtigen Rennen teil.
  • Siegerliste Castilla y Leon:

    2004 Koldo Gil (Spa)
    2003 Francisco Mancebo Pérez (Spa)
    2002 Juan Miguel Mercado Martín (Spa)
    2001 Marcos A. Serrano (Spa)
    2000 Francesco Mancebo (Spa)
    1999 Leonardo Piepoli (Ita)
    1998 Aitor Garmendia (Spa)
    1997 Angel-Luis Casero (Spa)
    1996 Andrea Peron (Ita)
    1995 Santiago Blanco (Spa)
    1994 Melchor Mauri (Spa)
    1993 Miguel Indurain (Spa)
Um so ernüchternder das Ergebnis der diesjährigen Austragung:
  • 1 Carlos Garcia (Spa) Comunidad Valenciana 17.03.31
    2 Francisco Perez (Spa) Milaneza-Maia 0.50
    3 David Blanco (Spa) Comunidad Valenciana 1.08
    4 Eladio Jimenez (Spa) Comunidad Valenciana 1.21
    5 Javier Pascual Rodriguez (Spa) Comunidad Valenciana 1.56
Eine derartige Dominanz eines einzigen Teams hat man seit den deutschen Meisterschaften der neunziger Jahre nicht mehr gesehen. Und die erdrückende Überlegenheit des Kelmenachfolgers bei den spanischen Rundfahrten setzte sich fort. Bei der Euskal Bizikleta, die sich in den letzten Jahren zur wichtigsten spanischen Vorbereitungsrundfahrt auf die Tour gemausert hatte, traten ganze drei ProTour-Teams an, sogar Illes Balears verzichtete auf die Teilnahme. Im Vorjahr hatten noch acht heutige ProTour-Teams an der Rundfahrt teilgenommen. Dementsprechend auch der Bruch in der Siegerliste:
  • Podien:

    2005:

    1 Eladio Jimenez (Spa)
    2 Adrian Palomares (Spa)
    3 Aketza Peña (Spa)

    2004:

    Roberto Heras (Spa)
    Roberto Laiseka (Spa)
    Samuel Sanchez (Spa)

    2003:

    Jose Antonio Pecharroman (Spa)
    Joseba Beloki (Spa)
    Francesco Casagrande (Ita)

    2002:

    Mikel Zarrabeitia (Spa)
    Raimondas Rumas (Lit)
    José Azevedo (Por)
Nach einigen der besten Rundfahrer der Welt in diesem Jahr also allenfalls Insidern bekannte Spanier. Vielleicht das Rennen, dem die ProTour in diesem Jahr am meisten geschadet hat.

Auch die Rennen nach der Tour mussten um attraktive Starterfelder kämpfen. Vier Protour-Teams bei der Burgosrundfahrt, darunter kein ausländisches, drei bei der von CSC nach Belieben dominierten Rundfahrt in Dänemark. Auch die italienischen Sommerklassiker litten unter dem vollen Kalender der ProTour: die Tre Valli Varesine und der Giro del Veneto mussten ganz ohne ausländische ProTour-Teams auskommen, am Giro del Lazio nahm neben den italienischen Teams nur Quickstep teil. Ein Team wie Gerolsteiner, das in den letzten Jahren mit seinen Fahrern eine bestimmende Rolle bei diesen Rennen gespielt hatte, verzichtete in diesem Jahr auf eine Teilnahme. Auch die Herbstklassiker in anderen Ländern standen nicht viel besser da, Paris-Brüssel etwa musste mit vier ProTour-Teams vorlieb nehmen. Erst für die Rennen ganz am Ende des Jahres besserte sich die Lage, wovon neun ProTour-Teams beim Giro dell’ Emilia und sogar elf dieser Teams bei der Piemontrundfahrt zeugen. Der in das Frühjahr verlegte Halbklassiker Mailand-Turin musste dagegen mit sieben ProTour-Teams auskommen und kann ebenfalls als Verlierer gelten, auch wegen der unverständlichen Terminverschiebung.

Will man aus diesen Zahlen zu einem aussagekräftigen Fazit kommen, so muss man feststellen, dass die Beteiligung der ProTour-Teams an Rennen außerhalb der Serie grafisch dargestellt einem U oder V gleicht. Bei den Rennen zu Beginn der Saison ist sie hoch, da die Konkurrenz durch ProTour-Rennen noch nicht oder kaum vorhanden ist, die Fahrer der Teams noch frisch und mit neuen Kräften aus der Winterpause kommen und Rennteilnahmen zum Formaufbau benötigen. Die Rennen vor Paris-Nizza müssen sich also wenig Sorgen machen. Als Formaufbau wird ebenfalls der Reigen der belgischen Frühjahrsrennen genutzt, mit denen sich die Spezialisten auf Flandern und Roubaix vorbereiten, auch diese Rennen werden ihre Position langfristig halten können. Schwierigkeiten haben dagegen die kleineren Rundfahrten, die bislang zur Vorbereitung auf die großen Rundfahrten genutzt wurden, neben den bereits genannten spanischen Rennen trifft dies auf den Giro del Trentino oder die Route du Sud zu. Die Favoriten für Giro und Tour sind in diesem Jahr wieder stärker den Weg über die jetzt der ProTour zugehörigen Rundfahrten gegangen, wovon Tour de Romandie und Katalonien-Rundfahrt profitiert haben, was aber stark auf Kosten der parallel stattfindenden Rennen ging. Bei den Rennen in der zweiten Jahreshälfte dürfte der Grund für die spärliche Teilnahme der ProTour-Teams vor allem der zunehmende Kräfteverschleiß der Fahrer sein. Zudem ist der Rennkalender durch die Aufnahme der drei Retortenrundfahrten in Deutschland, Polen und den BeNeLux-Staaten inzwischen auch in den Wochen nach der Tour extrem voll. Wenn man bedenkt, dass einige Fahrer ihre Saison bereits im August beenden, andere verletzt sind, wird klar, dass die Personaldecke der Teams zum Saisonende hin immer dünner wird. Erst ganz am Schluss der Saison können alle bis dahin geschonten Kräfte eingesetzt werden, die Besetzung einiger Teams bei den letzten ProTour-Rennen lässt aber darauf schließen, dass dies nicht sehr viele sind.

Besonders betroffen also die Rennen um die Saisonmitte herum. Wie können diese ihre Attraktivität und damit ihre Zukunft sichern? Terminverschiebungen an den Rand der Saison scheiden in Mitteleuropa wetterbedingt aus. Aber es ist klar, dass Rennen wie die Rheinland-Pfalz-Rundfahrt, an der ausschließlich Gerolsteiner als ProTour-Team teilnahm, sich Gedanken machen müssen. Natürlich muss das Management dieser Rennen selbst aktiv werden, aber sie bleiben abhängig von der Linie der UCI. Und diese sollte im Interesse der kleineren Rennen die ProTour etwas verkleinern. Dies gilt sowohl für den Kalender als auch für die Zahl der ProTour-Teams. Dies würde jedoch verlangen, dass die UCI einen wichtigen Punkt ihrer Reform zurücknimmt: Das künstliche Aufpäppeln von Retortenrennen. Denn selbstverständlich müsste eine Ausdünnung des Kalenders bei der übertriebenen Anzahl einwöchiger Rundfahrten beginnen. Die ProTour krankt nicht an der Anzahl der Veranstaltungen, sondern an zu vielen Renntagen. Eine sinnvolle Veränderung muss also dort ansetzen, wo es (zu) viele Renntage gibt: bei den kleinen Rundfahrten. Die aus der Retorte entstandene BeNeLux-Rundfahrt könnte problemlos abgeschafft und durch Eintagesrennen in den beteiligten Ländern ersetzt werden. Belgische Eintagesrennen drängen sich dabei geradezu auf. Gleichzeitig könnte die ProTour zwei oder drei Eintagesrennen wesentlich besser verkraften als diese Rundfahrt. An einer starken Präsenz in Deutschland führt ob der Bedeutung des hiesigen Marktes wohl kaum ein Weg vorbei, die Polenrundfahrt dagegen sollte kein Muss sein. Eine ProTour-Pause parallel zur der Vuelta würde vielen Rennen die Möglichkeit geben, sich dort zu positionieren und heimisches Medienecho zu erhalten. Im September sind überall in Europa Radrennen möglich, zudem würde eine Konzentration in diesem Monat den Kalender der anderen Monate etwas entzerren.

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Das Logo des Anstoßes

Fahrer und Teams:

Zu den wenigen, die die ProTour bereits von Anfang an begrüßten, gehörte die Mehrzahl der Teams. Die Garantie, an denen ihnen wichtigen Rennen, insbesondere der Tour, teilnehmen zu können, erklärt diese positive Grundeinstellung. Verständlich, nach den Einladungseskapaden der Tour in den vergangenen Jahren. Zugleich stellten sich den Teams aber eine ganze Reihe Herausforderungen. Diese reichten von den spanischen Teams in Flandern, über die Not der kleinen Teams, Kader für alle großen Landrundfahrten aufzustellen bis hin zu der Vorgabe, die notwendige Anzahl Neoprofis zu beschäftigen. Auch galt es bei all dem die Heimrennen nicht zu vergessen, was nicht immer gelang. Darunter litten die Kader von aus dem Ausland stammenden Teams bei vielen ProTour-Rennen. Unter dem Druck, ihre Heimrennen mit starken Aufstellungen zu bestücken, schickten viele Teams Kader aus der Abteilung "learning by doing" zu ausländischen Rennen.

Daher auch hier die Forderung, die Anzahl der ProTour-Teams auf 18 zu reduzieren. Der ebenfalls ins Spiel gebrachte Vorschlag, den Teams die Teilnahme an einigen Rennen freizustellen oder nur an einem bestimmten Anteil der Rennen teilnehmen zu müssen, weist dagegen in die falsche Richtung.
Innerhalb der momentan 20 Teams innerhalb der ProTour herrscht ein enormes Leistungsgefälle. So reicht das Spektrum von Weltklasseteams auf jedem Terrain bis zu besseren Professional-Teams, die es nur aufgrund von künstlichen Länderquoten oder auf Druck der Tour de France-Organisation in die ProTour geschafft haben. Eine Reduzierung würde dieses Leistungsgefälle verringern, zudem könnten sich die Fahrer der ProTour – in der Theorie ja die 500 besten der Welt – auf weniger Teams verteilen, die Qualität der Teams würde damit steigen.
Zudem wäre eine Reduzierung für die Teams außerhalb der ProTour für die kleineren Teams von elementarer Bedeutung und würde ein Wegbrechen der Sponsoren der kontinentalen Teams verhindern. Denn zwei Teams weniger in der ProTour bedeuten zwei Wildcards mehr bei jedem Rennen. Damit könnten französische Teams weiter an der Tour teilnehmen, ohne beim Giro zu starten und damit ambitionierten italienischen Teams ihren Jahreshöhepunkt wegzunehmen. Wenn man den Teams aus dem Unterbau nicht mehr Möglichkeiten gibt, sich auf der großen Bühne zu präsentieren, wird dies zu einem Sterben kleinerer Teams führen. Denn die für Sponsoren wichtige TV-Präsenz gibt es hauptsächlich bei den großen Rennen. Zudem wird so der Aufbau von Talenten erschwert, denn zu diesem gehört, sich auch mit den Besten messen zu können.

Den Teams dagegen die Möglichkeit zu geben, Rennen auszulassen, die Teilnahmepflicht auf vielleicht 80% zu begrenzen, sodass jedes Team selbst ausgewählte 20% der Rennen auslassen könnte, würde die Idee der ProTour ad absurdum führen. Der Tauschhandel "Planungssicherheit gegen Teilnahme an bestimmten Rennen" würde dann nicht mehr funktionieren, Verlierer wären die Rennen der ProTour, deren Attraktivität ohnehin nur sehr gering ist. Eine Polenrundfahrt mit sieben ProTour-Teams würde zur Farce. Auch Giro und Vuelta würden unter einer solchen Regelung leiden. Da es möglich scheint, auf behutsamerem Weg zu einer Verbesserung zu kommen, sollte eine solche faktische Aufhebung des Grundprinzips vermieden werden.

Sinnbildlich für die Auswirkungen der ProTour auf die einzelnen Fahrer steht Giovanni Lombardi. Als erster Fahrer seit Jon Odriozola 2001 beendete der Italiener in diesem Jahr alle drei großen Landesrundfahrten und es gehört wenig Mut dazu, vorherzusagen, dass solche "Grand Slams" in den nächsten Jahren wieder häufiger vorkommen werden. Denn da jedes Team einige Stars, die sich nur auf wenige Saisonhöhepunkte konzentrieren, unter Vertrag hat, ebenso wie Jungprofis, denen nur ein eingeschränktes Rennprogramm zugemutet werden soll und kann, bleibt nur ein Teil des Teams, um die verschiedenen Rennen der ProTour zu bestücken. Gestandene Fahrer, die nicht gezielt für bestimmte Rennen trainieren, müssen die Hauptlast des voller gewordenen Rennkalenders tragen. Die Aufgabe des sportlichen Leiters gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung, es gilt, Fahrer nicht unter dem Druck des Rennkalenders zu verheizen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie lange ein Fahrer wie Jan Ullrich seine Haltung, nur an vier oder fünf ProTour-Rennen im Jahr teilzunehmen, unter dieser Umständen wird aufrecht erhalten können. Zwei bis vier Fahrer mit Tourfixierung mag sich ein ProTour-Team leisten können, die Saison von neun Fahrern komplett auf die Tour auszurichten, wird dagegen nicht möglich sein. Ein positiver Effekt der ProTour wird damit über den Umweg des vollen Kalenders erreicht, was natürlich eine Gefahr in sich birgt: Teams könnten trotz der skizzierten Belastungen den Weg der vollen Konzentration auf die Tour einschlagen, um zu den Rennen ab August eine Mannschaft der Fußkranken zu schicken. Unmotivierte Tourfahrer, welche nach spätestens einer Woche aus der Vuelta ausstiegen wären die Folge. Schaden nähmen nicht nur die betroffenen Rennen, sondern die gesamte Pro Tour.

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Erster Sieger der ProTour: Danilo di Luca

Fazit:

Ein wohl unstrittig positiver Punkt der ProTour ist das Trikot des Gesamtführenden. Anders als im zerrissenen Weltcup gibt es jetzt ein Trikot, das über die gesamte Saison präsent ist, ähnlich dem des Weltcupführenden in den Wintersportarten. Dass die Führenden der ProTour sich dabei nur selten auf Augenhöhe in den Rennen begegnen, ein mögliches Duell um den Sieg daher oft nur statistisch stattfinden kann, muss dabei kein Fehler sein, auch ein Duell zwischen Luc Alphand und Alberto Tomba fand auf der Strecke nicht einmal statt.
Viel und zurecht kritisiert wurde das System, nach dem der Träger dieses Trikots ermittelt wird. Die eklatante Unterbewertung von Etappen steht einer Überbewertung der Gesamtwertung kleinerer Rundfahrten gegenüber. Die leidtragenden sind in besonderem Maße die Sprinter. Zu den großen Fehlern zählt auch die Höherbewertung der Tour gegenüber Giro und Vuelta. Nicht, weil diese sportlich nicht gerechtfertigt wäre, sondern weil das Punktesystem auch eine Möglichkeit ist, Politik zu machen. Und diese Politik sollte zugunsten von Giro und Vuelta gestaltet werden.

Politik ist das Stichwort, denn eine wichtige Auswirkung und möglicherweise auch die Intention der ProTour ist ein Machtgewinn der UCI gegenüber den Rennveranstaltern. Mit der Entscheidung über die Zugehörigkeit zur ProTour hat die UCI ein gewaltiges Druckmittel gegenüber den Rennveranstaltern in der Hand, das es vorher nicht gab. Dies gilt sicher nicht für die Rennen der ASO, auch die beiden anderen Veranstalter der großen Rundfahrten mögen der UCI einigermaßen Paroli bieten können, die Position der kleineren Rennen hängt dagegen sehr stark von der Zugehörigkeit zur ProTour ab. Wird das Rennen aus Hamburg nach Frankfurt verlegt, reisen die Teams eben dorthin, da ist der Weg dann auch nicht so weit. Die Rennen, die am stärksten durch die ProTour profitieren, sind am abhängigsten von ihr. Wie praktisch: Damit schafft sich die UCI eine ganze Riege von Rennveranstaltern, die sich entschieden für den Erfolg der ProTour einsetzen werden. Auch so sorgt man für Zustimmung.

Dennoch wäre es falsch, die ProTour deshalb abzutun, denn in ihr sind richtige und wichtige Ansätze enthalten. Die Frage „viele gute oder wenige hervorragende Rennen?“ wurde von der UCI mit der Entscheidung für die zweite Möglichkeit beantwortet. Zurecht! Zwar sollte es wie oben skizziert kleine Korrekturen zugunsten der kleineren Rennen geben, aber die große Linie ist richtig. Will man gegen die Übermacht der Tour vorgehen, muss man über das ganze Jahr verteilt Rennen haben, bei denen Spitzenradsport geboten wird, bei denen Fahrer starten, mit denen sich auch der Gelegenheitszuschauer identifizieren kann. Dass dies nicht bei allen Rennen möglich ist, muss nicht weiter erläutert werden. Eine Auswahl bestimmter Rennen zu treffen, die dann gezielt gestärkt werden, ist die einzige realistische Variante. Über diese Auswahl kann gestritten werden, für viele Rennen mag sie bitter sein, dennoch ist sie notwendig um einer weiteren Zerfaserung des Kalenders entgegenzuwirken. In den letzten Jahren konnte nicht einmal mehr die WM für ein absolutes Spitzenfeld garantieren. Zudem bietet die ProTour eine wesentlich bessere Klammer für die Radsaison, als dies der alte Weltcup war, weil sie das ganze Jahr hindurch ausgetragen wird und jeder Fahrertyp hier Siegchancen hat. Der Einwand, Rundfahrten und Eintagesrennen passten nicht in ein System, ist rein akademisch, alles andere ist unzeitgemäß und nicht praktikabel, wie das offensichtliche Scheitern des Weltcups zeigt, der als Nebensystem zur Weltrangliste eine Nischenwertung war.

In den nächsten Jahren gilt es also, die ProTour zu etablieren, insbesondere, indem man ihren Gesamtsieg zu einem attraktiven Ziel für die Fahrer macht, ein entsprechend hoher finanzieller Anreiz kann vielleicht dabei helfen. Denn eine Haltung wie die Jan Ullrichs, die Saison trotz Siegchancen bei der ProTour zu beenden, zeigt, dass dieser Sieg, in diesem Jahr sogar mit historischer Komponente, offenbar kein begehrtes Ziel ist. In diesem Zuge muss ein gerechteres Punktesystem gefunden werden, insbesondere in der Teamwertung.
Außerdem muss die UCI auf die Veranstalter der Rennen außerhalb der ProTour zugehen, ihnen durch eine Modifizierung des Kalenders wieder Luft zum Atmen geben. Ein Schlüssel liegt aber eben auch in einer Reduzierung auf 18 Teams. Ob ein Auf- und Abstiegssystem eingeführt werden sollte, bleibt strittig. Sicherlich würde es dafür sorgen, dass die Teams die ProTour-Rennen ausreichend ernst nehmen. Andererseits wird ein solches System albern, wenn jedes Jahr Teams aus der ProTour ausscheiden, dafür neue Teams entstehen. Es sollte für Sponsoren jederzeit möglich sein, in die ProTour einzusteigen, sportliche Qualifikation wird dann nicht durch die Leistung des Vorjahres, sondern durch dein Einkauf starker Fahrer erworben. Radsportteams sind keine Fußballvereine. Und vielleicht ist gerade dies die Erkenntnis, die man aus einem Jahr ProTour mitnehmen kann:

Das Konzept, eine Meisterschaft im Stile der amerikanischen Ligen zu schaffen hat mit den Realitäten des Radsports nichts zu tun. Aber die Schritte, die man unter diesem Banner unternimmt, können dennoch richtig sein. Ein Jahr ProTour bedeutete nicht den Untergang des Radsports, weitere Jahre werden dies auch nicht tun. Aber es gilt, Rücksicht auf die Interessen aller Beteiligten zu nehmen. Dann kann die ProTour mehr sein als eine Episode.
"Wittgenstein pondered what time it could be on the sun (it was a nonsensical question, he concluded)." - The Economist

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