Kurzgeschichten

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

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Grabba
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Kurzgeschichten

Beitrag: # 6742605Beitrag Grabba
30.10.2008 - 17:50

Kurzgeschichtensammlung

Dieser neue Thread folgt einem Trend, der sich in der AAR-Sektion der Sattlerei immer mehr bemerkbar macht. Sehr viele User entfernen sich in ihren schreiberischen Werken immer weiter vom Radsportmanager und schreiben ihre eigenen fiktiven Geschichten, die oftmals beinahe Romanform erreichen. Und im Rahmen dessen erfreuen sich auch Kurzgeschichten einer immer größeren Beliebtheit bei unseren Autoren.
Um dem zu entsprechen und die Autoren zu unterstützen wurde nun dieser neue Thread eingerichtet, in dem ein jeder Autor aufgerufen ist, seine eigenen Kurzgeschichten zu veröffentlichen, die im Zusammenhang mit dem Radsport stehen.



Eintagesrennen

Wer von einem einzelnen Rennen im RSM berichten will, und bloß von diesem, ohne eine Hintergrundgeschichte darum aufzubauen, der mag dies sehr gerne tun. Zum entsprechenden Thread für die Eintagesrennen-Berichte aus dem RSM geht es hier.



Weitere Kurzgeschichten

Von Zeit zu Zeit wird in der Sattlerei der Schaer-Preis ausgetragen, ein Kurzgeschichtenwettbewerb zwischen den Autoren der Sattlerei. Die Geschichten von dort sollen auch hier verlinkt und festgehalten werden. Für Diskussionen, Details und Ergebnisse sollte man sich bitte den jeweils verlinkten Thread anschauen.
Auch ein alter Thread von arkon sei hier verlinkt, der noch lange bevor das hier geschrieben wurde seine erste Kurzgeschichte in der Sattlerei veröffentlicht hatte. Auch diese Geschichte wird hier noch in Zitatform gepostet. Verlinkt sei sie jedoch bereits an dieser Stelle.

Schaer-Preis Herbst 2008

Schaer-Preis Winter 2009

Schaer-Preis Sommer 2010
Zuletzt geändert von Grabba am 8.8.2010 - 12:38, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitrag: # 6742606Beitrag Grabba
30.10.2008 - 17:51

arkon, [i]Das Ziel[/i] ([url=http://cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6706336#6706336]Link[/url]) hat geschrieben:Das Ziel

Alles war weiß. Nichtsagend. Steril. Er blickte sich um. Es ödete ihn an. Er lag hier, auf seinem Rücken, wie ein Krüppel. Mühsam kämpfte er sich hoch. Er wollte hier nicht einfach so herum liegen. Nicht mehr. Es war unwürdig. Schweiß tropfte ihm von der Stirn als seine zitternden Armen halt suchten und seine Hände sich in die kalten Streben des Bettes krallten. Die Glocke für die Schwester. Seine Rettung. Das enervierende Bimmeln hörte sich in seinen Ohren mit einem Male erlösend an. Hilfe nahte.
Eine alte, ergraute Schwester erschien in der Tür.
„Signore Stefano Virazio?“
Er herrschte sie an, ihn nicht wie einen alten Mann zu behandeln und ihm gefälligst einen Rollstuhl zu holen. Er wolle vor die Tür. Während sie genervt, aber doch eilig die Tür hinter sich schloss musste er unweigerlich zurück denken. Zurück an die Zeit, in der er noch nicht hier gefangen war. Und sie war noch nicht so lange her…

Langsam wurde es ernst. 160 Kilometer waren sie bereits gefahren. Und erst jetzt wurde das Rennen langsam ernst. 160 Kilometer trennten sie von Lüttich. Bastogne hatten sie schon längst hinter sich gelassen. Sie befanden sich auf dem Rückweg. Auf dem Weg nach Ans. Hin zu dem Anstieg, der das Rennen entscheiden würde. Die diesjährige Auflage des Klassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich.
Alleine der Klang des Rennens genügt, um ihm dieses Glänzen in die Augen zu treiben. Es war für ihn immer eines der ganz besonderen Termine des Kalenders gewesen. Und nun war er hierher gekommen um zu siegen. Und nicht irgendwie. Heute würde es einen Paukenschlag geben. So sicher, so überzeugt war er von seinem Triumph, das er keinen Plan gemacht hatte für eine Niederlage. Wenn er nicht gewann… das gab es alles gar nicht. Er würde es schaffen. Er würde seine Reise beenden. Und er würde ankommen.

Das Feld wälzte sich durch die Ardennen. Die Bäume links und rechts schirmten die Fahrer vor den schlimmsten Schauern ab. Aber Regen gab es genug. Und immer wenn ein kleiner Feldweg oder etwa eine Hochspannungsleitung eine Schneise durch den Wald trieb, fegten die Böen des bissigen, kalten Windes durch die sich dicht zusammen drängenden Gruppen der Fahrer. Den meisten stand der Unwille schon ins Gesicht geschrieben. Einige Ausreißer versuchten ihr Glück, doch die Helfer hielten unerbittlich dagegen. Es war offensichtlich, das sie sich gerne aufrieben, um möglichst früh ihren Teil der Arbeit erledigt zu haben. Dann würden die Kapitäne übernehmen müssen, dann würde er übernehmen müssen. Und das wahre Spektakel stand ihnen ja noch bevor.

Seit dem letzten Herbst, seit seinem Sieg bei der Weltmeisterschaft, hatte er diesen Plan geschmiedet. Er war ein eigentlich noch ein junger Fahrer, aber er hatte schon so gut wie alles erreicht, was es für seinen Fahrertyp zu erreichen gab: Sein Sieg bei Mailand-San Remo und dem Amstel Gold Race vor zwei Jahren, dann die Flandernrundfahrt im letzten Jahr. Im Herbst war er vor zwei Jahren bei Lombardei-Rundfahrt erfolgreich gewesen und nun auch noch die Weltmeisterschaft in Rom, nur 20 Kilometer von Frascati, seiner Heimatstadt, entfernt. Zwei Monumente des Radsports standen noch aus. Als er den Entschluss fasste, sie beide zu gewinnen, hätte er fast selber laut losgelacht: Ein Sieg beim wichtigsten Kopfsteinpflasterrennen, Paris-Roubaix, und bei der Doyenne, dem ältesten Radrennen der Welt. In einem Jahr. Von einem Fahrer. Unglaublich.
Aber er war der Fahrertyp, der so etwas wagen durfte: Stämmig, beständig genug, um auf Kopfsteinpflaster sein Tempo fahren zu können, und auch spritzig am Berg. Er hatte nie die Substanz für eine der großen Rundfahrten besessen, aber das brauchte er auch gar nicht: Er liebte die Klassiker. Von klein an hatte er sich in diese Form des Radrennens verliebt, was sich auch nicht änderte, als er älter wurde. Während viele seiner Kollegen nach und nach anfingen, sich an Rundfahrten zu versuchen, blieb er den Klassikern treu. Und es zahlte sich aus: Seine Erfolge bei den Nachwuchsklassikern brachte ihn zu den Profis, und auch hier etablierte er sich schnell vor allem durch seine Fähigkeit, sich perfekt auf einen Tag zu konzentrieren und 250, wenn es sein musste auch 300 Kilometer, Volldampf zu geben. Keine langfristigen Strategien, kein zurück, keine Chance, einen Fehler auszumerzen. Er wusste immer, was zu tun war. Sein Blick war während des Rennens stets bis ganz zum Ziel gerichtet. Früh konnte er fühlen, was seine Gegner im Schilde führten, konnte ihre Taktik entschlüsseln und zerbrechen.

So wie heute: Sie lauerten. Da er heute der überragende Favorit war waren alle Augen auf ihn gerichtet. Sie rechneten mit einer gemächlichen Fahrt bis zum Finale, wo sie dann durch abwechselnde Angriffe versuchen würde, ihn zu ermüden. Er musste lächeln. War dass schon ihr Bestes?
Zum ersten Mal an diesem Tag richtete er sich auf. Seine 1 Meter 90 große Statur ragte majestätisch über dem Feld, sein Regenbogentrikot blitzte durch den Regen in die Objektive der Kameras. Im tristen Grau des Tages ein willkommenes Motiv für den zuständigen Regisseur und den Kamermann, der auf einem Motorrad das Hauptfeld begleitete.
Langsam bahnte er sich seinen Weg durch diese zähe Masse, durch das Drängen und Ziehen und Schubsen und Stupsen. Es dauerte seine Zeit, aber schließlich erreichte er sein Ziel. Der Regen klatsche auf einmal hart gegen sein Gesicht, prasselte auf seine Brille und trommelte gegen sein Trikot. Die Helfer hier vorne waren froh, dass ihnen jemand die lästige Arbeit abnahm, ganz vorne zu fahren. Jedenfalls bis sie erkannten, wer es war. Die Cote de Wanne fing soeben an, sich leicht zu erheben. Stefano schaute sich noch einmal kurz um und griff dann an. Spielerisch leicht, so mutete es an, spurtete er die Steigung empor. Hinter ihm ertönten laute Schreie und das wilde Klicken hektischen Schaltens. Mann nahm die Verfolgung auf, dafür musste er sich gar nicht erst umdrehen.
Bis er die Kuppe des Anstieges erreicht hatte war er mit einer kleinen Gruppe Mutiger dem Feld schon weit enteilt. Die Verfolgungsarbeit wurde sogleich aufgenommen, doch nicht ganz so fanatisch, wie sie hätte sein sollte. Er konnte das Fragezeichen in ihren Gesichtern förmlich spüren: War es das schon? War das sein Angriff, 90 Kilometer vor dem Ziel, bei diesen Windverhältnissen?

Es waren die gleichen Fragezeichen, die sich auch auf dem Weg nach Roubaix vor ein paar Wochen abgezeichnet hatten, als er 30 Kilometer vor dem Ziel aus einer eigentlich ganz stabilen Spitzengruppe heraus angegriffen hatte. 30 Kilometer, die er als Solist überbrückt hatte, während hinter ihm verzweifelt die anderen Favoriten den Anschluss gesucht hatten. Erst gemeinsam, dann jeder für sich alleine. Aber die Lücke war nicht kleiner geworden, sie war stetig gewachsen. Egal, wie wild sie hinten fuhren, er hatte vorne auf alles eine Antwort. Und so erreichte er schließlich ganz für sich alleine und mit einem monumentalen Vorsprung von über zwei Minuten das Velodrom in Roubaix. Mit weit ausgestreckten Armen war er über die Ziellinie gerollt und hatte den Sieg gefeiert. Den Erfolg des ersten Teils in seinem Plan.
Die gleichen Fragezeichen, die er in den Gesichtern der Journalisten gesehen hatte, als er auf der Pressekonferenz nach dem Rennen angekündigt hatte, das er hier und heute gewinnen würde. Er wollte es nicht, er würde es. Der Versuch alleine adelte noch niemanden. Der Sieg bei allen fünf Monumenten, bei zwei so unterschiedlichen in einem Jahr noch dazu, das Tat es.

Und auch als er die Redoute hinauf fuhr, gleichmäßig schnell in seinem Tempo, während alle seine Begleiter ihr Heil in der Flucht suchten, verschwanden die Fragezeichen nicht. Er war mehr damit beschäftigt, seine Brille, die er zum Schutz vor dem Spritzwasser trug, sauber zu halten, als mit den kindischen Spielchen seiner Begleiter. Die meisten waren nichtige Begleiter, lediglich zwei, drei vielversprechende Talente gab es unter ihnen. Bis sie die Spitze des Berges erreicht hatten war er mit den beiden besten von ihnen im Schlepptau unterwegs. Er tat seinen Teil der Führungsarbeit, aber er verausgabte sich nicht. Über Funk hörte er, wie das Feld an Tempo aufnahm und die Redoute empor jagte, als gäbe es kein Morgen. Sie versuchten nun doch, die Lücke zu schließen.
Den nächsten kleinen Hügel hinauf, der im Vergleich zum restlichen Programm eher einer Bodenwelle glich, führte er ordentlich mit. Einer seiner Begleiter hatte sichtlich Schwierigkeiten, ihm zu folgen, biss aber die Zähne zusammen. Wunderbar.

Er musste an den vorigen Abend denken. An seinen Trainer. Wie er weinend neben seinem Bett gekniet und ihn gebeten hatte, doch das Rennen nicht zu bestreiten. An das Feuer, was er in sich hatte brennen fühlen. So heiß und so unmittelbar, wie es selten der Fall war. Er hatte schreien wollen, ihm klar machen wollen, warum er nicht anders konnte. Warum er dieses Rennen fahren und gewinnen musste. Egal, welchen Preis er dafür letzten Endes zahlen sollte. Aber seine Stimme hatte ihm versagt.

Sie erreichten den letzten Berg vor der charakteristischen Doppelspitze hinein nach Ans. Es war der letzte große Anstieg im Programm, die letzte ‚Cote‘ vor dem eigentlichen Finale. Und nun würde sich zeigen, ob er zu hoch gepokert hatte. Wie erwartet schauten seine beiden Begleiter vor allem auf ihn. Würde er angreifen? Würde er sie jetzt verlassen? Doch er blieb sitzen. Bis einer der beiden, der stärkere, sein Heil in der Flucht suchte. Panisch schaute ihn der verbliebene an, doch mit unbeirrbarem Gleichmut trat Stefano in die Pedale. Schließlich verlor er die Nerven und wetzte dem anderen hinterher. Stefano schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie aussichtslos ihre Situation auch war, sie waren beide imstande, ihre Augen weit davor zu verschließen und sich für einige Minuten auf den Fernsehschirmen, einige Minuten des Gefühls, kurz vor dem großen Ruhm zu sein, aufzureiben.
Von hinten erreichten ihn schnell die anderen Favoriten und gemeinsam nahmen sie den Rest der Strecke in Angriff. Das hieß: Er klinkte sich hinten ein, den gebrochenen mimend. Sein Angriff war ja zerschlagen, wie um alles in der Welt sollte er also noch die Kraft besitzen, Führungsarbeit zu leisten? Auch die letzten Edelhelfer fielen nach und nach zurück, die Gruppe schmolz unaufhörlich und jagte mit irrem Tempo die beiden Ausreißer, die ohnehin keine Gefahr darstellen konnten.
Schließlich erreichten sie Ans. Der Schlussanstieg mit der kurzen Pause darin. Mittlerweile hatten sie sich wieder an ihn erinnert und beäugten ihn argwöhnisch. Mit allem Einsatz seiner schauspielerischen Künste krümmte er sich auf dem Rad und simulierte den kämpfenden Sprinter. Seine Größe kam ihm zugute. Trotz seiner vielfach bewiesenen Fähigkeiten auch an steilen Hügeln tendierten seine Gegner immer noch konsequent dazu, ihn wenigstens unterbewusst zu unterschätzen. Ein immer wieder fataler Fehler.
Wie auch diesmal: Die Angriffe kamen zu spät und zu vereinzelt. Der kaum vermeidbare Pakt aller Konkurrenten gegen ihn war gebrochen oder wenigstens angeätzt und somit kaum mehr wirkungsvoll. Hinzu kam, das die Lücken sich oft wieder von alleine schlossen. Mit hohem Tempo rauschten sie an den beiden tapferen Ausreißern vorbei. Stefano nickte seinen ehemaligen Begleitern im Vorbeifahren zu.
Nun kam seine Einsatz: Kurz vor der Spitze des vorletzten Hügels übernahm er die Führung der Gruppe, was schon alleine überraschend war für die anderen. Mit einem kurzen Sprint von vorne eröffnete er die Jagd die Abfahrt hinab. Durch seine Größe war er relativ immun gegen die Böen, die nass und kalt durch die engen Straßen von Ans pfiffen. Er schlitterte oft nur um die Kurven. Das Wasser stand teilweise schon auf dem Asphalt. Der wenige Halt, den seine Millimeterdünnen Reifen auf trockenen Straßen fanden, war kaum noch existent. Doch er konnte nicht stürzen. Er würde nicht stürzen. Nicht heute. Nicht er.
Bis zum Fuße hatte er seine Verfolger aus seiner Sicht verloren. Sein kleiner Funkstöpsel baumelte schon seit geraumer Zeit unbeachtet an seinem Trikot herab. Nun galt es also. Er fühlte, wie alle Lebenskraft, die in ihm geblieben war, aufwallte und in seine Beine schoss. Sein Gedankenstrom verdünnte sich zu vereinzelten Tropfen, die im Wasserchaos um ihn herum hinweg gespült wurden.
Sein Blick ging nicht mehr nach hinten, nicht mehr auf den Tacho. Sein Blick war nach vorne fest auf die Straße gerichtet.

„Ich kann es nicht absagen. Es ist mein Leben. Dieses Rennen. Es ist das, wofür ich immer gekämpft habe!“ warf er ihm entgegen.
Einem Schrei gleich antwortete er „Deine Leben! Verdammt richtig, Stefano. Es ist dein Leben. Willst du nicht dafür kämpfen? Willst du nicht an deine Chance glauben? Es gibt sie! Du musst sie suchen, dann wirst du leben, nicht sterben“
Stefano schluckte. Er verstand nicht. Wie sollte er auch? Heißer flüsterte er „Morgen werde ich kämpfen. Für mein Leben. Auch wenn ich es dabei lassen werde“

Die letzte Kurve. Wie oft hatte er davon geträumt. Er hatte sie wieder und wieder durchfahren, diesen Schwenk. Nun ging es noch einige hundert Meter geradeaus ins Ziel. Ein letzter, kurzer Blick zurück. Nicht bange, eher versichernd. Aber es war unnötig. Alles war so gekommen, wie es hätte sein sollen. Wie er es voraus gesehen hatte. Er schloss sein Trikot. Das Regenbogentrikot des Straßenweltmeisters. Viele sagten, dass ein Fluch auf ihm lastete. Wenn dem so war, so hatte er ihn heute wohl gebrochen. Er richtete sich auf, stemmte seine Fäuste in die Luft. Noch ein kurzer Blick zurück. Er wollte jetzt keine Überraschungen mehr haben.
Und so ging er auf die letzten paar Meter. Seine letzten Meter. Er hatte keine Tränen mehr übrig. Zu viele hatte er in den letzten Wochen geweint. So ließ er einfach seine Arme an sich herab sinken, müde, erschöpft. Er hatte es geschafft, es war vollbracht.
Im Ziel brandete eine Welle der Begeisterung über ihn herein. Die Menschenmassen jubelten und stürmten auf ihn zu. Mühsam bahnte er sich mit zwei Leibwächtern einen Weg durch die Menge. Schnell zum Dopinglabor, die Probe abgeben. Das Interview, das dem Sieger zustand lehnte er ab, schob die Mikros von sich weg. Das würde warten müssen.
Endlich ging es zur Siegerehrung. Erst wurden der zweite und der dritte Platz auf die Tribüne gebeten, dann schließlich er. Er reckte die Arme nach oben, ließ sich ein wenig feiern. Aber es fühlte sich alles schal an. Sein Triumph war vollkommener als alles, was sich diese Menschen jemals vorstellen konnten. Es war ihm im Grunde egal. Dann holte er sich ein Mikrofon.
„Danke, danke! Ich möchte eine kleine Rede halten. Es wird nicht darum gehen, wem ich diesen Erfolg alles zu verdanken habe. Die Menschen wissen es selber am besten und sie haben es für mich getan, nicht für die Anerkennung, die sie bekommen würden, wenn ich ihren Namen laut über das Fernsehen hinaus schreien würde. Verschwenden wir also keine Zeit damit.
Ich habe gewonnen! Und damit habe ich alles erreicht. Mein Weg ist gegangen, ich habe alle Stationen erreicht und nun ist es an der Zeit, den Weg zu wechseln. Ich trete hier und heute vom Radsport zurück“
Das Blitzlichtgewitter flutete auf. Damit hatten sie nicht gerechnet. Die grellen Blitze blendeten ihn. Er sah weiß.

Eine weiße Wand. Er starrte sie an. Es hingen ein paar Bilder an ihr, aber soweit reichte sein Blick gar nicht. Er hielt sich an ein paar Kratzern in der Wand fest. Der Arzt ihm gegenüber räusperte sich. Stefano fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der zum Rektor musste. So kam er sich vor. Damals war auch immer seine Welt zusammen gebrochen, wenn er von seinen Eltern zwei Wochen Hausarrest bekam. Und nun zerbrach seine Welt ebenfalls. Ein Wort nur hatte es gebraucht.
„Glioblastom“
Es hatte ihn getroffen wie ein Vorschlaghammer. Er fühlte sich, wie als ob er auf einer Abfahrt die Kontrolle verloren hätte und gerade realisiert hatte, dass er sich hinlegen würde. Es war dieser Moment der Schwerelosigkeit: Die Hormone rasten durch seine Blutbahn, die Zeit zog sich schier endlos hin. Man hatte alle Zeit zu realisieren, dass man sich vermutlich alles brechen würde, aber doch keine Chance, es noch zu ändern. Dieser schale Geschmack im Mund, dieses Brennen im Magen. Er hörte sein Blut durch seine Ohren rauschen.
„Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt unter 2 %“
„Bösartiger Hirntumor“
Das waren die Sätze, die ihm den Atem raubten. Er wagte nicht zu atmen. Wie ein Blitz schoss der Gedanke durch seinen Kopf: Armstrong hat es geschafft, dann schaffst du es erst Recht. Aber er traute sich nicht einmal, den Arzt darauf anzusprechen. 2 %. Das war wirklich wenig. Er war tot. Er lag nicht im Sterben. Sein Todesurteil war gesprochen, es musste nur noch vollzogen werden.
Der Stapel an Fallbeispielen, die der Arzt ihm mitgab, reizte ihn nicht einmal mehr zu einem müden Lächeln. Sein Fallbeispiel entstand vor seinen Augen: Paris-Roubaix hatte er bereits gewonnen. Und in drei Tagen konnte er in Lüttich triumphieren. Fallbeispiel.

„Verstehst du? Es war immer mein Leben, Rad zu fahren, zu gewinnen. Ich meine: Wenn ich gesund wäre, was würde ich tuen, wenn ich morgen gewinnen würde? Ich würde mich den Rest meiner Tage langweilen. Ich könnte nur noch wiederholen, was ich ohnehin schon geschafft habe.
Morgen endet mein Leben, auch ohne den Krebs. Ich habe mein Ziel erreicht. Was soll ich mich da bitteschön noch operieren lassen und an eine irre 2 % Chance glauben?“

„Die Ärzte geben mir noch einen Monat, vielleicht ein halbes Jahr. Es ist mehr als fraglich, ob ich es noch erleben werde, wie das Weltmeistertrikot einen neuen Besitzer findet. Ich werde keine Therapie beginnen. Eigentlich sollte ich gestern operiert werden, aber ich habe abgelehnt. Dieses Rennen heute war mein Abschied. Mein Abschied von der Welt. Mein Leben ist der Radsport, und dieses Leben habe ich erfüllt“

Die Schwester schob ihn hinaus, hinaus an die frische Luft. Die Infusionsnadel in seinem Arm, den Rollstuhl unter sich blickte er hinaus auf das Meer. Er war in Italien und genoss hier, so gut es ging, sein Ende. Der Zorn, die Wut über seinen unausweichlichen Tod, welche ihn zu seinem Triumph in Lüttich geführt hatte, war erloschen. Er hatte akzeptiert. Sicherlich hätte er gerne noch versucht, eine Etappe bei der Tour zu gewinnen. Eine Frau zu finden. Eine Familie zu gründen. Er hatte viele Pläne gehabt, die der Krebs zunichte gemacht hatte. Aber ihm blieb sein erfüllter Plan, sein gelebter Traum.
Er hatte noch vier Wochen.

geschrieben von Julian Peters, 3/4. Juni 2008








Flame of Za-i-ba, [i]Das Duell[/i], Schaer-Preis Herbst 2008 ([url=http://cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6741455#6741455]Link[/url]) hat geschrieben:Das Duell


Schweigend sehen sie sich in die Augen. Ihre Blicke sind voller Abneigung und Hass. Wie zwei Kampfhunde, die in wenigen Sekunden aufeinander losgelassen werden, schauen sie sich an. Kein Wunder: Vor ihnen liegt das wichtigste Rennen ihres Lebens - ein Duell: Mann gegen Mann. Niemand anderes ist auf der Strecke. Nur sie. Keine Zuschauer. Keine Kameras. Keine Freunde. Keine Begleiter. Nur die beiden, die sich schworen, den anderen zu schlagen. Geld spielt keine Rolle. Selbstzufriedenheit, Ehre oder Stolz trifft es schon eher. Viel mehr geht es aber darum den anderen zu demütigen, ihn nieder zu machen und ihn am Boden zerstört zu sehen. Den Gegner so enttäuscht zu sehen, das ist ihr Ziel. Knapp sechzig Kilometer liegen vor ihnen. Zunächst flach, dann ein kleiner Hügel, ein weiteres Stück ohne Anstrengungen, dann ein schwerer Berg und eine kurze Abfahrt. Wer dort zuerst ankäme, sei der Sieger. Nicht der Sieger des Rennens, sondern der Sieger über den Anderen …

Um zu verstehen was diese zwei Menschen antreibt, muss man ein paar Jahre zurückgehen. Oder noch besser: Man beginnt am Anfang:



“Nacho, ärger mich nicht!”
“Mach ich doch gar nicht.”
“Tust du wohl.”
“Dann geh doch du Heulsuse”
“Ich spiel nie wieder mit dir!”

Kurz darauf tobten sie wieder zusammen umher. Zwei Freunde. Viele dachten sie seien Brüder oder gar Zwillinge, obwohl sie einander überhaupt nicht ähnelten. Dennoch waren sie wie Pech und Schwefel - unzertrennlich. Ignacio Diaz, Nacho genannt und Ricardo Permonte. Der eine Spanier, der andere Italiener. Beide lebten aber in der Schweiz. Ihre Mütter waren dort hingezogen, nachdem sie allein erziehend geworden waren. Im Kindergarten hatten sich die Kinder dann kennen gelernt und es passte einfach. Seitdem verbrachten sie beinahe jede Minute miteinander …

Die Jahre vergingen, doch ihre Freundschaft hielt. Sie waren Teenager, als sie zum ersten Mal mit Radsport in Kontakt kamen. Seitdem begeisterte sie dieser Sport. Für sie war es die perfekte Möglichkeit ihr Adrenalin abzubauen, denn davon hatten sie genug. Während sie in früheren Tagen herumliefen und Fangspiele spielten, waren es nun lange Ausfahrten. Damit es nicht langweilig wurde waren sie gespickt mit Sprints, Intervallen und kleinen Verfolgungsjagden. Kleine Wettkämpfe, um sich gegenseitig hoch zu pushen, kleine Wettkämpfe, die ein Rennen simulierten, kleine Wettkämpfe, die ihren Ehrgeiz antrieben, kleine Wettkämpfe, durch die sie sich beide verbesserten, kleine Wettkämpfe, die aber immer nur aus Spaß waren - das waren noch Zeiten …

Es dauerte nicht sehr lange bis ihr Talent entdeckt wurde. Über die Umwege einer Junioren- und einer Amateurmannschaft landeten sie schließlich beim “RC Tissot”, dem besten Radsportteam der Schweiz. Auch dort vergeudeten sie keine Zeit damit Helferdienste zu leisten. Sie waren stark. Ihr Training härter, als das aller anderen und ihr Willen schien unbändig. So wurden sie schließlich im Alter von nur 23 Jahren die Kapitäne. Man könnte meinen, dass es nicht funktionieren könne. Zwei gleichgestellte Fahrer, die die selben Fähigkeiten besitzen - sie waren beide Rundfahrer. Sie haben es aber geschafft. Ricardo Permonte konzentrierte sich als Italiener auf seine Heimatrundfahrt, den Giro. Ignacio Diaz als Spanier dagegen natürlich auf die Vuelta. Dazu unterstützten sie sich gegenseitig bei den Siegen des jeweils anderen. Eine wahre Freundschaft …

Dreimal hatten Ignacio und Ricardo ihre Landesrundfahrt hintereinander gewonnen. Mit der Hilfe des jeweils anderen waren sie ein schier unbesiegbares Team. Genau das wurde ihr Problem. Ricardo wollte eine neue Herausforderung, die Tour de France. Er schlug vor, dass im ersten Jahr er der Kapitän sein solle, im zweiten Jahr Nacho, im dritten er usw. Ignacio war einverstanden, genauso die Teamleitung. Tatsächlich gelang es Ricardo die Frankreich-Rundfahrt mit Hilfe seines besten Freundes zu gewinnen. Hauptsächlich aufgrund seinen Helferdiensten war es gelungen die Konkurrenz zu distanzieren. Nacho war es, der die Lücken zufuhr, die Kontrahenten abschüttelte oder Ricardo an eine Gruppe heranführte. Ohne ihn, hätte der Italiener keine Chance auf den Sieg gehabt. Dies war jedoch gleichzeitig auch das letzte Rennen, dass die beiden glücklich zusammen beendeten …




Heute ist von dieser alten Freundschaft nichts mehr zu sehen. Das einzige was davon wirklich geblieben ist, sind die Erinnerungen, an die sie genau in diesem Augenblick denken. Jedoch ist es keine Erinnerung an die schönen Zeiten. Sie benutzen sie, um sich zu pushen, denn es gibt keine stärkere Motivation auf der Welt als Hass. Die ersten Kilometer hatten sie zurückgelegt. Schweigend, einander beobachtend. Es würde wohl bis zum schweren Anstieg dauern, bis einer der beiden versuchen würde den anderen abzuhängen. Ricardo ist ein starker Kletterer, wohl noch ein wenig besser als Ignacio, doch dieser holt das, was er bergauf verliert, in der Abfahrt meist wieder auf. Im Zeitfahren, in der Ebene oder am Hügel schenken sie sich kaum etwas. Sie sind Allrounder, die Besten ihrer Zeit. Möglicherweise sogar die Besten, die es je gab. Um so stark zu werden hatten sie fleißig, bei jedem Wetter, mit Schmerzen, ohne aufzugeben, trainiert.

Ignacio begann nachzudenken: “Ricardo. Wie konntest du die Zeit vergessen, die wir miteinander erlebt hatten? War dir Erfolg wirklich soviel wert, dass dich alles andere nicht mehr interessiert? Das ist arm. Einfach nur arm. Du bist kein Champion. Ein Champion hat mehr als nur Erfolge. Ein Champion hat einen würdigen Charakter, und diesen besitzt du nicht. Einst hatten wir uns geschworen, dass wir immer miteinander fahren würden, nicht gegeneinander. Du hast diese Regel gebrochen. Die ganze Freundschaft war dir letztendlich egal. Dieses Vergehen kann ich dir nicht verzeihen. Du zeigst keine Reue, bist sogar stolz auf das, was du getan hast. Eigentlich müsstest du dich schämen, aber du hast immer versucht dich zu verteidigen. Warum denn nur? Früher warst du nicht so. Der Erfolg hat dich arrogant gemacht."



“Verdammte Scheisse Ricardo, was sollte das?”
“Jetzt reg dich mal nicht so auf …”
“Wir hatten eine Vereinbarung. Du selber hast gesagt, dass ich dieses Jahr gewinne! Was zum Teufel sollte das jetzt also?”
“Ach, du willst es also wirklich wissen? Willst du wissen, warum ich dich abgehängt habe? Nun gut. Was wir hier machen ist R-A-D-S-P-O-R-T. Der Sinn davon ist, der Beste zu sein und das bin ich, wie du Heute ja gesehen hast.”
“Dir ist dieser Sieg also wichtiger als unsere Vereinbarung?”
“Ja”
“Wichtiger als dein Versprechen?”
“Ja.”
“Wichtiger als unsere Freundschaft?”
“ …”
“Wichtiger als unsere Freundschaft?”
“Ja.”
“Du bist das Letzte, weißt du das? 20 Jahre kennen wir uns. Und du machst mit einem Tag alles vergessen. Ich weiß, du wirst das bereuen, aber lass dir eins gesagt sein. Komm nie wieder an und entschuldige dich. Vergiss es. “

So war es passiert. Während der letzten relevanten Etappe der Tour de France griff Ricardo seinen in Führung liegenden Freund und Teamkollegen an und siegte.
Ignacio war von diesem Vertrauensbruch so getroffen, dass er selber sogar noch das Podium verpasste. Doch das interessierte ihn nicht. Die Arroganz und Ignoranz von Ricardo ließ ihn vor Wut toben und er schwor sich, dass er nie wieder gegen diesen verlieren würde. Zunächst war ihm allerdings die Chance verwehrt geblieben gegen Ricardo ein weiteres Mal anzutreten. Nachdem beide ihr Team gewechselt hatten, hielt eine Verletzung zunächst Ricardo, ein Jahr später dann Ignacio davon ab bei der Tour de France zu starten, und das sollte ihr Schauplatz sein. Später kam ihnen eine Idee. Ein Rennen. Ein Jahr Vorbereitung. Die letzten sechzig Kilometer jener Etappe, die einst die Freundschaft zerstörten. Das Teilstück, an der Ricardo seinen einstigen besten Freund abging.




Es schien, als würde eine kleine Träne über Ignacios Gesicht huschen. Diese verschwand jedoch so rasch, wie sie gekommen war und die Entschlossenheit war ihm wieder anzusehen. Er begann schneller zu atmen, der Puls stieg hoch, das Adrenalin kochte in ihm. Er dachte an eben jene Unterhaltung und die Wut und das Versprechen, dass er sich selber gegeben hatte, wurde ihm wieder bewusst. Dann ging er aus dem Sattel. Noch bevor Ricardo überhaupt begreifen konnte, war er ein paar Meter zurück. Mit einem Angriff an dem Hügel hatte er nicht gerechnet. Was sollte er nun tun? Sollte er auf seine Bergqualitäten vertrauen und seine Kräfte für den noch kommenden Anstieg sparen, oder Ignacio lieber im Auge behalten? Durch das kurze Zögern war ihm letzteres jedoch schon unmöglich gemacht worden. Binnen weniger Sekunden vergrößerte sich die Lücke und Ignacio entfernte sich soweit, dass er nicht mehr zu sehen war …

“Welch Geniestreich”, lobte sich Ignacio selber. Ricardo war so naiv gewesen um zu glauben, dass er die ganze Zeit nur hinter ihm her fahren würde im Vertrauen auf seine Abfahrerqualitäten. Doch hieß diese Führung nichts. Es war einfach nur ein moralischer Vorteil, dass er Ricardo zunächst abhängen konnte. Nun hieß es, solange wie möglich vor ihm zu bleiben. In dem aktuellen Flachstück müsste er weiter Boden gewinnen. Denn den brauchte er. Am Anstieg würde Ricardo aufholen, da war er sich sicher. Diese Zeit ging es nun herauszufahren. Mit großen Gang fuhr er bis er den großen Anstieg vor sich sah. Wie ein Koloss baute er sich vor ihm auf. 7000 Meter, die er nicht gut in Erinnerung hatte. Gleich zu Beginn hatte Ricardo damals angegriffen. Diese Stelle erkannte Ignacio sogleich. Zwei Bäume am Straßenrand, dessen Äste sich kreuzten. Für ihn war es so etwas wie ein Symbol, für den Vertrauensbruch, den er erlitten hatte.

“Ruhig bleiben, jetzt bloß nichts Unüberlegtes tun. Ich bin stärker! Dieser Typ wird mich niemals besiegen”, sagte Ricardo sich selber. Er war der stärkere Kletterer und das wusste er. Für ihn war es ein Genuss Steigungen erklimmen zu können. Niemand hatte ihm dort je etwas vorgemacht und das würde sich Heute auch nicht ändern, da war er sich sicher. “Soll dieser Idiot doch vorausfahren, sein Gesicht wird umso frustrierter sein, wenn ich ihn überhole.” Obwohl er zurück lag lächelte Ricardo bei dieser Vorstellung. Blicke spielten eine große Rolle in seinem Leben. Sie geben den Gefühlen des Menschen Ausdruck. Dieses Entsetzen in Ignacios Augen, als er damals angetreten war, würde er niemals vergessen. Plötzlich hielt er den Atem an und erinnerte sich an die Entschlossenheit mit der sein Kontrahent angegriffen hatte. Er durfte es nicht zu leicht nehmen. Mit diesem Gedanken nahm er die ersten Meter des Berges in Angriff.

“War es ein Fehler so früh anzugreifen?” Nun hatte Ignacio kein Gefühl dafür wo Ricardo war. Er könne nur eine Kurve hinter ihm sein, jedoch auch vier oder fünf. Der Berg hatte viele Kehren, so war es quasi unmöglich einzuschätzen. “Vielleicht wäre es besser gewesen, hinter ihm her zu fahren.” Das Denken verwarf er jedoch, als ihm die Bilder von früher für einen kurzen Moment ins Gedächtnis schossen. “Angreifen ist der Weg. Mal ist der Weg steinig und schwer, aber man muss ihn trotzdem gehen.” Durch energisches Treten konnte er seine Geschwindigkeit um zwei Km/h erhöhen. Dies würde nicht reichen um weiteren Vorsprung herauszuholen, aber Ricardo noch eine Weile auf Distanz halten. Für einen kurzen Moment drehte er sich um und er erschrak. Zwar noch ein wenig zurück, aber dennoch klar erkennbar fuhr Ricardo.

Noch immer war Ignacio vor ihm, doch er hatte ihn nun in Sichtweite. “Zieh”, sagte er sich immer wieder. Für einen kurzen Moment ging er aus dem Sattel. Der Gedanke zu verlieren brachte ihm neue Kraft und er konnte seine Trittfrequenz erhöhen. Näher und näher kam er dem Spanier, bis er ihn schließlich neben sich hatte. Ein gehässiger Blick, ein Wort, dann schaute er wieder nach vorne. Weit war es nicht mehr. Noch einmal versuchte er mehr aus sich rauszuholen. Es tat weh, aber er wusste, wenn er sich jetzt nicht absetzen konnte, dann würde er verlieren. Auf einen Zweikampf in der Abfahrt durfte er sich nicht einlassen. Er musste jetzt an Vorsprung gewinnen. Die Beine brannten, der Atem wurde schwer, aber es musste weitergehen, es musste einfach …

“Verlierer” hatte Ricardo soeben zu Ignacio gesagt, als er ihn überholte. Dieser war am Ende seiner Kräfte. Seinen Sieg sah er in Form seines Kontrahenten immer weiter wegziehen. Dabei war seine Taktik perfekt gewesen und es hätte beinahe gereicht. Knapp 1000 Meter waren es noch bis zum höchsten Punkt. Danach würde es noch acht Kilometer bergab gehen. Eigentlich genug um den Vorsprung wieder wett zu machen, doch Ignacio war fertig, er konnte einfach nicht mehr. Er hatte alles in diesen Angriff gesetzt, aber eins machte ihm Hoffnung: Ab und zu neigte Ricardo dazu zu überdrehen und erstrecht in dieser Situation, wo er wusste, dass er Vorsprung bräuchte, und das war die einzige Chance, die Ignacio noch hatte. Mit seinen letzten Energiereserven und dem Glauben an den Sieg konnte er sein Tempo weiter gleichmäßig fahren.

“Scheisse”, dachte Ricardo. Noch 300 Meter hatte er bis zur Abfahrt vor sich und nun hatte der Mann mit dem Hammer bei ihm zugeschlagen. Nichts ging mehr. Sein Tacho zeigte von einem Moment auf den anderen ganze zehn Km/h Unterschied an. Kurz drehte er sich um: Ignacio war nicht in Sicht, es bestand also noch Hoffnung. Er versuchte schneller zu treten, nein, es ging nicht. Mühevoll quälte er sich. Seine Lunge schmerzte und in seiner rechten Wade machte sich ein Anzeichen eines Krampfes breit. Beinahe schlangenformartig fuhr er die letzten Meter bis zur Kuppe hinauf. Oben angekommen wäre er am liebsten abgestiegen. Ihm wurde Schwarz vor Augen, er war am Ende seiner Kräfte. Er musste sich hinlegen, aber nein, das durfte er nicht. Ein kurzer Schluck aus der Flasche, das müsste reichen …

In seinem Tempo ging es für Ignacio weiter. Nachdem Ricardo ihn überholt hatte wusste er, dass er in der Abfahrt volles Risiko gehen musste. Doch das würde gefährlich werden. “Zum Glück regnet es nicht”, dachte er. Genau in diesem Moment fing es an. Kleine Tropfen waren es zunächst nur, die sich auf seiner Haut sammelten. Man hätte auch meinen können es sei Schweiß, doch der Himmel verdunkelte sich weiter und urplötzlich öffnete er seine Schleusen. Eigentlich hätte Ignacio dies erfreuen müssen. Ricardo war der schwächere Abfahrer und würde damit noch weniger zurecht kommen, doch Ignacio hatte Kinder. Kinder, die einen Vater brauchten. Als er oben angekommen war hatte er eine Entscheidung zu treffen. Risiko, oder nicht. Hier oben wuchsen keine Bäume und so sah er Ricardo einige Kurven weiter unten fahren. “Danke lieber Gott”, sagte er, denn dieser hatte ihm damit die Entscheidung abgenommen.

“Das hatte mir gerade noch gefehlt.”. Seine Konzentrationsfähigkeit war aufgrund der Anstrengung schon beinahe gegen 0 gesunken und jetzt das. Selbst ohne die ständigen Tropfen im Gesicht war es ihm in den ersten Kurven schon schwer gefallen richtig zu gucken. Sein Wahrnehmung war gestört. Er wusste, dass er überzogen hatte. In einem normalen Rennen durfte er so nicht weiterfahren, aber dies war kein normales Rennen. Es war das Wichtigste und hier durfte er nicht aufgeben, schließlich lag er vorne und hatte nur noch ein paar Minuten zu fahren, bevor er den wahrlich größten Sieg seiner Karriere erreichen würde. “Reiß dich zusammen … Scheisse!” Er hatte sich versteuert. Das kostete Zeit. Viel Vorsprung konnte er nicht mehr haben, aber weit war es ins Ziel auch nicht mehr. “Reiß dich zusammen Ricardo, du schaffst das!”

“Glück gehabt.” Viel zu spät hatte Ignacio vor einer besonders scharfen Kurve gebremst. Gerade noch konnte er stoppen, ansonsten wäre er einen etwa zehn Meter hohen Abhang herunter gestürzt. Doch daran durfte er nicht mehr denken. Er drehte sein Rad in Position und begann erneut zu beschleunigen. “Ich muss aufholen. Ricardo kann nicht weit vor mir sein!”, dachte er sich. Drei Kilometer waren es, die über Sieg und Niederlage entscheiden würden. Einst hatten sie dies schon getan, ein zweites Mal würde folgen. So entschlossen war Nacho noch nie gewesen. Das Adrenalin pumpte in ihm. Er wollte Rache, Rache für die Demütigung, die er damals erhalten hatte. Plötzlich sah er ihn. Ricardo war keine 200 Meter mehr vor ihm. Nur eine Kurve trennte die Beiden. Jetzt hieß es alles geben und er gab alles.

Nur noch zwei Kilometer. Noch hatte Ricardo etwa 50 Meter Vorsprung. Noch ein Kilometer und es war geschehen. Ignacio hatte ihn eingeholt. Das Rennen würde also in einem Sprint zu ende gehen. Es war schwer zu sagen, welcher Atem lauter war. Am Ende ihrer Kräfte waren beide. Ihre Beine schmerzten und dennoch versuchten sie auf der nun ebenen Zielgerade noch ein letztes Mal alles aus sich herauszuholen.
“Zieeeh”, feuerte sich Ricardo an.
“Komm schon”, schrie Ignacio.
Noch 300 Meter. Sie waren nun gleich auf. Ein letzter Blick, dann gingen beide aus dem Sattel und traten in die Pedale. Ihre ganze Entschlossenheit war zu spüren. Alles tat ihnen weh, aber sie mussten weiter kämpfen. Die Gesichter waren schmerzverzehrt und plötzlich war es vorbei. Das Ortsschild, dass als Ziel diente, hatten sie überquert. Beide blickten zur Seite und sahen sich an. Entsetzen war in ihren Blicken. Keiner der beiden wusste wer gewonnen hatte. Einen Moment mussten sie realisieren was gerade geschehen war. Dann drehten sie sich kurz um. Tatsächlich, das Rennen war vorbei. Gleichauf waren sie gewesen. Es schien kaum möglich, aber in den Gesichtern die eben noch von Hass, Verachtung und Schmerzen gekennzeichnet waren, zeigte sich ein kleines Lächeln. Beide wussten, was sie an diesem Tag geleistet hatten und es machte sie stolz. Dieses Rennen verdiente keinen Sieger, das wussten sie.

“Ein tolles Rennen”, sagte Ignacio und bog nach rechts.
“Wir sehen uns wieder”, antwortete Ricardo und fuhr nach links.








Grabba, [i]Jeder Mensch hat seinen Preis[/i], Schaer-Preis Herbst 2008 ([url=http://cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6741254#6741254]Link[/url] hat geschrieben:Jeder Mensch hat seinen Preis

Die glühend heiße Sonne brannte auf Jaimes braune Haut hernieder. Die Muskeln in seinen zierlichen Waden schmerzten höllisch. Ein dumpfes Gefühl hatte sich seines Magens, seiner Gliedmaßen, seines Kopfes, ja seines ganzen Körpers bemächtigt. Gleich würden die Angriffe kommen. Er hatte kein gutes Gefühl.
Der erste Stich traf ihn. Ohne ihn niederzuwerfen. Bei der zweiten Attacke biss er auf die Zähne, verzog sein Gesicht zu einer abscheulichen Fratze. Er litt Qualen. Das war offensichtlich. Nie zuvor bei dieser Tour hatte er am Berg eine Schwäche gezeigt. Doch nun war es so weit. Nicht mehr lange, dann käme die dritte Attacke. Spätestens die vierte würde ihn vernichten. Endgültig.

Aller Kampfesgeist war ihm abhanden gekommen. Sie waren davongerauscht, hatten ihn abgehängt. Er würde sie nicht mehr erreichen können. Im Gegenteil. Sie waren auf und davon. Seine Führung war verloren, sein schönes, gelbes Trikot. Eine Viertelstunde noch, vielleicht zwanzig Minuten. Genug Zeit für seine Kontrahenten, ihn um Ewigkeiten zu distanzieren. Die Anstrengungen waren es nicht mehr wert. Er fuhr nur noch in Richtung Ziel. Gebrochen. Zerbrochen.
Zermürbende Hitze. Genau sein Wetter. Eigentlich. Nicht so heute. Seine getrocknete Zunge klebte ihm bleischwer im Mund. Er wollte trinken, so unbedingt trinken, und konnte doch nicht. Er konnte nichts zu sich nehmen, wollte nicht mehr. Es ging nicht. Er hatte keine Lust mehr, die Energie dafür aufzubringen, keinen Ansporn mehr, keine Motivation. Einfach noch ankommen. Irgendwann wäre das Rennen vorbei. Und er erlöst.

Er sah Trikots an sich vorbeifahren. Trikots, die an einem normalen Tag nicht einmal die Kraft gehabt hätten, sein Hinterrad zu halten. Es war aussichtslos. Es bestand keine Chance mehr, sich zu retten, keine Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen. Denn ein Schaden war es, so ein großer Schaden, ein vollkommener. Es gab keine Hoffnung mehr.
Wie in Trance fuhr er vorwärts. In Gedanken war er schon jetzt im Ziel. Er legte sich die Worte zurecht. Drehte sie dreimal um. Und noch ein viertes Mal. So viel hing davon ab. Keine Schilder am Straßenrand nahm er wahr, keine Geräusche. Nicht einmal mehr die Hitze spürte er. Er war gefühllos geworden, ganz so, wie sie es gewollt hatten. Wie eine kraftlose Maschine rollte er ins Ziel. Für einen letzten Endspurt hatte ihm der Wille gefehlt. Keine Kampfesmoral war ihm mehr geblieben.

Der entscheidende Part des Tages folgte nun. Die wenigen Minuten, auf die alles hinausgelaufen war. Auch die akribische und brutale Arbeit eines halben Jahres. Und das gegen seinen Willen. Höherem hatte er sich beugen müssen. Alles war umsonst gewesen. Es gab kein Ziel mehr, keine Träume. Diese hatte er alle begraben. Begraben müssen. Erstmals gestern Nacht. Endgültig vor nicht ganz zwanzig Minuten. Niemals würde die Hoffnung wiederkehren. Finsternis. Auf ewig.
Die Journalistenschar bedrängte ihn, bestürmte ihn. Was los gewesen wäre? Einen Hungerast hatte er erlitten. Als es in den Schlussanstieg gegangen war war ihm schwarz vor Augen geworden, seine Beine hatten gebrannt, sein Körper gezittert. Ob er mit dem Druck nicht zurechtgekommen wäre? Vielleicht, er wusste es nicht. Er war am Ende. Ob Fabio Vigilio nun die Tour gewonnen hätte? Gewiss. Morgen gäbe es sicher keine Möglichkeit mehr, ihn anzugreifen. Der Italiener war der Stärkere gewesen, im Zeitfahren und auch heute. Jaime richtete ihm seinen Glückwunsch aus.

Erschöpft sank Jaime in sich zusammen. Eine Träne rann sein Gesicht hinab. Er hatte den sterbenden Bolivianer in gelb gemimt, sich abhängen lassen. Er hatte seine Rolle gespielt. Um über zwei Minuten war er am Ende zurückgefallen. Seinen Traum hatte er aufgegeben. Das gelbe Trikot verloren. Platz drei in Paris. Hinter dem Italiener Vigilio und dem Franzosen Fescot. Sein Ziel hatte er nicht ereicht. Es würde ihm niemals gelingen. Er stand allein. Nicht in der Sonne, sondern im Schatten.
Das gelbe Trikot auf seinen Schultern wurde grau. Vor neun Tagen hatte er es erobert, mit einem Husarenritt über zwei Pyrenäenpässe. Vorgestern noch hatte er sich ganz in gelb in l’Alpe d’Huez als Etappensieger feiern lassen. Nichts hätte in diesem Moment seinen Schatten auf ihn werfen können. Die Sonnenstrahlen hatten sich auf ihm gebündelt, und im puren Glück hatte er sich seines Triumphes erfreut. Doch nun war es aus. Endgültig.

Schon immer war ihm ein gewisser Gegenwind ins Gesicht geweht. Spätestens aber, seitdem er im letzten Jahr, als Zweiter des Giro d’Italia, spontan ins Rampenlicht gefahren war. Noch schlimmer war es geworden, als er bei der Vuelta a Espana den spanischen Toursieger und Volkshelden auf der vorletzten Etappe noch vom Podium verdrängt hatte.
Es lag nicht an seiner Person oder seinem Wesen. In seinem Team, ja im gesamten Fahrerfeld war er beliebt. Alle hatten ihm zu seinen Erfolgen gratuliert. Selbst die ärgsten Konkurrenten. Er war keinesfalls ein unangenehmer Zeitgenosse. Doch er war Südamerikaner. Der Radsport aber gehörte den Europäern, den Australiern, den Russen und den Amerikanern.

Gestern Abend hatten sie ihn überfallen. Ins düstere und verrauchte Hinterzimmer einer sowieso schon völlig verrauchten Spelunke hatten sie ihn gezerrt und auf einen Stuhl gedrückt. Ihm gegenüber hatte er gesessen. Ein Mafiaboss. Möglicherweise. Vielleicht auch etwas Höheres, Mächtigeres. Eine Person, undurchdringlich, undurchschaubar, unnahbar. Jemand, der ihm überlegen war. Das allein war frustrierend gewesen, und doch irrelevant im Vergleich mit allem, was gefolgt war.
Nach seinem Preis hatte er Jaime gefragt. Wiederholt. Nie aufbrausend, nie energisch, sondern immer mit einer umso bedrohlicheren Ruhe und Gelassenheit. Jaimes Trotz, seine beleidigenden Worte, waren an seinem Gegenüber abgeprallt. Nicht nur das. Es war fast, als hätte Jaime sie sich selbst ins Gesicht gesagt. Und wieder hatte sein Gegenüber ihn nach seinem Preis gefragt. Niemals würde er seinen Traum aufgeben. Niemals den Toursieg aufgeben. Sie könnten ihn nicht kaufen.

Ein Lächeln war stets die Antwort gewesen. Überlegen, süffisant, und doch zugleich auch gefährlich, lauernd, ja unterschwellig drohend. Warum sie ihn nicht einfach umlegten, war es aus ihm herausgeplatzt. Im selben Moment hatte er die Worte bereut. Doch sein Leben war nicht in Gefahr gewesen. Er war der Mann in gelb. Er durfte nicht einfach so verschwinden. Es ging um die Öffentlichkeit, um die Welt. Nicht um ihn.
Wieder hatten sie ihn gefragt. Wieder hatte er verneint. In Trotz war er nun verfallen. Beleidigungen hatte er nicht mehr zurückgehalten. Er selbst hatte Fragen gestellt. Nach seinem Gegenüber. Nach dessen Auftraggebern. Nach einer jeden Frage war er unwillkürlich unter dem stechenden Blick, der ihm entgegengeschleudert wurde, zusammengezuckt. Er hatte nichts zu fragen. Er hatte zu gehorchen. Das hatte er nun schnell begriffen gehabt.

Ein letztes Mal hatte der Mysteriöse ihn gefragt. Er würde den Toursieg nicht aufgeben. Niemals. Um keinen Preis der Welt. Er würde die Welt nicht betrügen, nicht sich selbst betrügen. Er hatte eine Minute Vorsprung. Die würde er sich niemals nehmen lassen. Nicht bei einer Bergankunft. Sein Toursieg stand fest. Keine Organisation, kein Verband, keine Regierung oder wer auch immer dahinter stecken mochte konnte daran noch etwas ändern. Sie würden es akzeptieren müssen.
Ein letztes Mal hatte er das arrogante, ja beinahe erniedrigende Lächeln seines Gegenübers ertragen müssen. Man habe sich nun wohl weiter nichts zu sagen. Zwei seiner Männer würden Jaime, oder Signore Cadrillo, wie man ihn hier genannt hatte, nach draußen geleiten. Über sein Abschiedsgeschenk solle er sich freuen. Er würde schon verstehen.

Wortlos und kalt hatten sie ihn entlassen. Kalt war auch die Nacht am Fuße der Alpen gewesen. Er war zum Hotel gerannt um der Kälte zu entgehen, die sich seiner Seele bemächtigt hatte. Doch sie war nicht gewichen. Irgendetwas war falsch gewesen, hatte nicht gestimmt. Die Beklemmung war nicht verschwunden. Mit zittrigen Fingern hatte er die Tür zu seinem Hotelzimmer aufgeschlossen. Alles war ruhig. Doch auf dem Bett hatte ein kleines Päckchen gelegen.
Mit einem Schaudern dachte er daran zurück. Er hatte das Päckchen ausgewickelt. Zwei Finger waren darin gewesen. An dem einen hatte ein goldener Ring gesteckt. Jaime trug den gleichen an seiner Hand. Der andere Finger war viel kleiner gewesen, die Haut viel zarter. Auch diesen hatte er erkannt. Das Abschiedsgeschenk war eindeutig gewesen, und gleichsam die Konsequenz. Jaime Cadrillo hatte die Tour de France nicht gewonnen.

Jeder Mensch hat seinen Preis. Den eigenen kannte Jaime nun.
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Beitrag: # 6742610Beitrag Grabba
30.10.2008 - 18:13

Valverde3007, [i]When you walk through a storm hold your head up high[/i], Schaer-Preis Herbst 2008 ([url=http://cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6740878#6740878]Link[/url]) hat geschrieben:When you walk through a storm hold your head up high.


Es regnete in Strömen. Seit acht Uhr, seit sie ihre Trainingstour für heute begonnen hatten. Unbarmherzig prasselten die dicken Tropfen auf seinen Schützling, der sich keuchend knapp zehn Meter vor seinem Auto abstrampelte. Nick hatte es hier warm, aber für Franck war es eine einzige Tortur. Die letzten Tage hatten sich seine Laune und seine Moral immer weiter verschlechtert. Er sprach kaum noch, machte keine Späße mehr und wenn Nick abends die Trainingsdaten verkündete, sank Franck jeden Abend tiefer in seinem Sitz zusammen. Er versuchte immer härter zu trainieren, aber seine Form wurde einfach nicht besser. Egal, was sie probierten, ob einen Husarenritt über die schwierigsten Anstiege Flanderns oder eine ruhige Fahrt durchs flache Land, Franck fühlte sich nicht gut und er fuhr auch nicht gut. Die negativen Erlebnisse der vergangenen Wochen hatten ihn mehr mitgenommen, als er sich das selber eingestehen wollte. Er kam nicht damit klar, gegen eine so starke Konkurrenz zu fahren. Die häufigen Stürze hatten ihr übriges getan. Mittlerweile zweifelte Nick, ob das Training auf den Kopfsteinpflasterpassagen Nordfrankreichs das richtige für Franck sei, oder ob er nicht zuerst wieder Sicherheit auf dem Rad erlangen sollte. Allein in der letzten Trainingswoche hatte er auf gefährlichen Pavé-Abschnitten zwei Stürze produziert und war nur durch Glück bis auf Schürfwunden und Prellungen unverletzt geblieben.

Jetzt kamen sie wieder zu einem der Straßenteile mit Kopfsteinpflaster. Im letzten Jahr hatte er hier noch Zeit herausgeholt, jetzt verlor er sie. Eine leichte Rechtskurve, dann eine 90-Gradkurve. Dahinter befand sich ein großes Schlagloch. Franck versuchte zu bremsen, geriet ins Rutschen und stürzte erneut. Doch anstatt aufzustehen und weiterzufahren setzte er sich resigniert neben sein Rad an den Straßenrand und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. Über den Funk konnte Nick ihn schwer atmen hören. Als Franck keine Anstalten machte aufzustehen und weiterzufahren, sprang Nick aus dem Auto und überprüfte das Rad und den Gesundheitszustand des Rennfahrers. Beides schien äußerlich in Ordnung, doch Francks Psyche war noch weiter destabilisiert worden. „Wir müssen weiter. Hier können wir nicht bleiben. Stell dir vor, da kommen Autos.“ Er zog Franck auf die Beine und setzte ihn auf sein Rad. Dann kehrte er zu seinem Fahrzeug zurück und sie setzten die Fahrt fort.

Dadurch dass der junge Belgier jetzt äußerst vorsichtig fuhr, schafften sie es unbeschadet über den schwierigsten Teil. Anschließend nahmen sie Kurs auf die nächsten Pavés. Aber gleich zu Beginn des Kopfsteinpflasteraschnitts wurde Franck immer unsicherer und langsamer. Es lag nicht am zu geringen Krafteinsatz, der Pulsmesser zeigte einen relativ hohen Herzschlag an, dennoch kam die Geschwindigkeit Nick nicht besonders schnell vor. Dann geschah das unvermeidliche. Ein älterer Radfahrer, bei dem man schon einige graue Haare erblicken konnte, überholte zunächst Nick und dann auch Franck. Das gab dem Jungprofi den Rest. Seine Moral war endgültig gebrochen. Er fuhr an den Rand, stieg von seinem Rad ab, lud es auf das Dach des Autos und stieg ein.
„Ich bin fertig. Ich geh zurück zu den U-23-Fahrern. Da habe ich wenigstens eine Chance.“
„Du kannst jetzt nicht aufgeben. Denk doch mal nach. Du bist 22. Nächstes Jahr musst du ohnehin hoch zu den Profis. Da bringt es nichts noch zu warten. Und wer sagt dir, dass du so einen guten Vertrag auch dann noch bekommen würdest?“
„Dann hör ich ganz auf. Versteh doch Nick. Das kann ich nicht mehr, das ist nicht meine Welt. Schön und gut ein bisschen fahren, Juniorenrennen gewinnen, aber die Profis sind zu groß für mich.“

„Mach dich nicht lächerlich. Erinnere dich an das Lied: „When you walk through a storm hold your head up high.“ Das hast du bisher immer gemacht. Vor zwei Monaten hast du dich noch als König der Welt gefühlt und gemeint du könntest jeden schlagen. Willst du jetzt so kläglich aufgeben.“
„Ich hab mich eben geirrt. Ich kann das nicht mehr, diese Quälerei. Die ganzen Stürze in dem Abschnitt, wo ich am besten war, auf Kopfsteinpflaster. Und jetzt überholen mich schon Senioren. Es hat keinen Zweck mehr. Ich mach ne Lehre oder sonst was.“
„Eine Lehre? Radfahren ist das was du am besten kannst. Da solltest du noch weiter lernen.“
„Achja, meine Stärken liegen darin von alten Opas überholt zu werden?“ Er schrie jetzt fast.
„Lass doch mal endlich dein elendiges Selbstmitleid.“
Jetzt standen Franck die Tränen in den Augen. „Das ist kein Selbstmitleid. So sieht die Realität aus. Ich bin nicht gut genug.“
„Wenn du dafür nicht gut genug bist, dann taugst du gar nichts. Glaub doch einfach an deine Stärken so wie früher.“
„Die Stärken sind aber keine Stärken mehr. Ich kann mich nicht mehr quälen, ich kann nicht mehr auf Kopfsteinpflaster fahren. Ich will das nicht mehr. Ich steige aus.“
Das nahm er wörtlich, er stieg aus dem Fahrzeug und rannte ein Stück die Straße entlang. Als ein Auto erschien, streckte er seinen Daumen raus, das Auto hielt an, er stieg ein und fuhr Richtung Hotel.


Es regnete, wie vor drei Monaten. Auf der Straße bildeten sich an unebenen Stellen bereits große Pfützen und die Rennfahrer hatten sich ausnahmslos massiv gegen den Regen geschützt. Viele würden das Ziel heute nicht erreichen. Aber heute würde er nicht aufgeben, heute würde er es allen Kritikern zeigen. Die, die ihn letztes Jahr nach seinen Siegen bei Paris-Roubaix und Lüttich-Bastogne-Lüttich in der Klasse U-23 als neuen Frank Vandenbroucke gefeiert hatten, hatten sich ebenso bemüht wie bei seinem Idol daran gemacht, ihm einen dubiosen Ruf anzudichten. Sein Vorname Franck war ein gefundenes Fressen für die Presse gewesen, die ihn mit Wortspielen lächerlich gemacht hatte. Nach seinem Sturz bei einem Vorbereitungsrennen und der anschließenden Rennpause, waren Gerüchte entstanden, eine Zeitung schrieb von Depressionen, eine andere von Alkoholproblemen. Niemand wusste aber wie es ihm wirklich ging. Diese Zeit war die wohl schlimmste Zeit seines Lebens gewesen.

Doch es hatte einen positiven Effekt gehabt. Während dieser dunklen Zeit hatte ihn seine Leidenschaft wieder gepackt, das Radfahren hatte ihn davor bewahrt tatsächlich psychische Probleme zu bekommen. Er hatte viel trainiert und seine Form wieder aufgebaut. Plötzlich machte es ihm wieder Spaß durch Sturm und Regen über die nordfranzösischen Straßen zu fahren. Plötzlich schien alles viel leichter zu sein. Nicht, dass er weniger Schmerzen gehabt hätte, aber sie machten ihm nichts mehr aus. Sobald er auf dem Rad saß war er glücklich, egal was der Wetterbericht meldete. Auch sein Verhältnis zu Nick war wieder besser geworden. Er schob die Schuld jetzt nicht mehr auf ihn, sondern vertraute wieder seinem neuen Trainingsplan, der ihn in kürzester Zeit in Topform bringen sollte. Er war wieder im Rennen.

Gleichzeitig versauten die Klatschblätter immer weiter seinen Ruf. Die Spekulationen über ein Karriereende wurden immer lauter, bei den Diskussionen über Favoriten wurde kein Wort mehr über ihn verloren. Das senkte jetzt nicht mehr seine Moral, im Gegenteil, er wollte es allen Kritikern beweisen, dass er nicht abgeschrieben werden durfte. In der letzten Woche vor dem Rennen hatte er sich bei seinem sportlichen Leiter gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er in Topform sei und bereit bei diesem größten der Eintagesrennen zu starten. Eigentlich hätte er nach den Geschehnissen der letzten Wochen gar nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, aber sein Team hielt zu ihm und vertraute ihm. Mit einem guten Gefühl hatte er schon am nächsten Tag im Zug nach Paris gesessen.

Nun stand er in der französischen Hauptstadt an der Startlinie. Viele Starter hatten ihn überrascht angeguckt, verwundert darüber, dass er überhaupt teilnahm. Einige hielten ihn für einen Wasserträger, der nach der Hälfte des Rennens aussteigen würde, was er aus den kurzen Gesprächen am Start heraushören konnte. Ein unverschämter Reporter des deutschen Fernsehens hatte ihn gefragt, ob er mit seinem Alkoholproblem überhaupt fahren könne und ein Zuschauer drückte ihm eine Flasche Schnaps in die Hand. Er wurde nicht mehr ernst genommen und hatte nur über ein perfektes Rennen die Chance sich zu rehabilitieren. Mit Wut im Bauch startete er in das Rennen, das ein Eckstein seiner Karriere werden sollte, werden musste.


Kilometer 100, die erste Pavesektion auf dem Weg nach Roubaix. Zweieinhalb Stunden waren sie bereits unterwegs. Seine Teamkameraden leisteten ihm hervorragende Arbeit, sie schienen also noch an ihn zu glauben, was ihn unglaublich motivierte. Wichtiger war aber, dass er sich richtig stark fühlte und gute Beine hatte. Er hatte sich eine gute Position erkämpft und fuhr direkt hinter den Quickstepfahrern, die jetzt an der Spitze das Tempo erhöhten, in den Sektor 26. Hinter sich hörte er bereits das Scheppern der Räder von gestürzten Fahrern. Dieses Schicksal wollte er heute vermeiden. Er war zwar bald von den Helfern seines nicht auf Kopfsteinpflasterrennen spezialisierten Teams isoliert, dennoch konnte er sich gut in der Gruppe halten und erreichte mit den ersten den Wald von Arenberg.

Dort bekam das Rennen ein völlig neues Gesicht. Das durch den konstant anhaltenden Regen und die schmutzigen Bedingungen ohnehin schon erschwerte Rennen versuchte das Quickstepteam um seinen Kapitän Tom Boonen jetzt zum Platzen zu bringen. Mit Hilfe seiner Teamkollegen Steven de Jongh und Stijn Devolder attackierte er gleich auf den ersten Metern des berüchtigten Pavé-Abschnittes. Dem immens hohen Tempo konnten nur wenige Fahrer folgen, unter denen er unbedingt dabei sein wollte. Er biss auf die Zähne und setzte sich ans Hinterrad von Alessandro Ballan, dem Weltmeister und einem der großen Favoriten des Rennens. Der 16. Abschnitt der Pavés, der sowieso immer einer der feuchtesten und damit schwierigsten Abschnitte des Rennens war, wurde heute zu einer einzigen Tortur. Das Tempo war wie das Wetter unbarmherzig und bis auf die Haut durchnässt versuchte er sich am Hinterrad des Italieners festzubeißen, wobei er das vom Hinterrad seines Vordermanns hochspritzende Wasser-Schlammgemisch direkt ins Gesicht bekam. Doch von diesen Nebeneffekten durfte er sich nicht aufhalten lassen, wollte er die Spitze halten und einen Sturz vermeiden.

Genau in dem Moment, in dem er diesen Gedanken dachte, passierte es. Ballan fuhr über einen lockeren Pflasterstein, der im vom Wasser aufgeweichten Boden nachgab. Der Italiener rutschte weg, konnte das Gleichgewicht nicht halten und stürzte. Sofort schossen Erinnerungen an Museeuws Missgeschick an derselben Stelle in sein Gedächtnis, der schwere Sturz, die Verletzung am Knie. Er musste blitzschnell reagieren um einem ähnlichen Schicksal zu entrinnen. Mit einem akrobatischen Manöver schaffte er es auszuweichen, was ihn allerdings einen Großteil seines Tempos kostete. Ein Loch riss zwischen den ersten Fahrern und ihm auf. Bis er es wieder auf Geschwindigkeit gebracht hatte, befand er sich in einer Verfolgergruppe um Andreas Klier und George Hincapie. Er warf einen Blick in ihre Gesichter, sah aber nur zwei vom Schmutz bedeckte, schmerzverzerrte Fratzen. Als er sah, dass jetzt schon einige der großen Favoriten wie er am Limit fuhren, erflammte sein Kampfgeist von neuem und gemeinsam mit seinen beiden Begleitern nahm er die Verfolgung auf.

Unbeugsam stemmten die drei sich gegen den Wind und den Regen. Keiner wollte sich schon so früh geschlagen geben und über die Abstandsangaben des Begleitmotorrads konnten sie absehen, dass sie noch gute Chancen hatten, die Spitzengruppe einzuholen. Die Gruppe harmonierte ausgezeichnet, aber als sie das auf dem ersten ansteigenden Stück des nächsten hochgewerteten Abschnitts Mons-en-Pévèle dann schließlich geschafft hatten, mussten sie feststellen, dass sich vorne schon zwei andere Fahrer aus dem Staub gemacht hatten. Der Belgier Leif Hoste und der Schweizer Fabian Cancellara hatten einen kurzen Moment der Uneinigkeit bei den Führenden zu einer Attacke genutzt und fuhren jetzt ein Stück weiter vorne um den Sieg. Dennoch war es zu früh aufzugeben. Nachdem er sich einen kurzen Überblick über die Gruppe verschafft hatte, sie umfasste noch Devolder, Boonen, Flecha und Eisel, setzte er sich an die Spitze und erhöhte das Tempo. In der folgenden scharfen Linkskurve holte er dann Schwung, den er für einen Angriff nutzte. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass seine Kontrahenten bereits Schwierigkeiten bekamen. Nur Tom Boonen und George Hincapie konnten ihm folgen. Also gab er weiterhin Gas und machte sich auf die Jagd nach den beiden Ausreißern.

Als sie kurz später Mérignies erreichten, kam ihm eine zweite Erinnerung an den König des Kopfsteinpflasters Johan Museeuw in den Sinn, sein Antritt an dieser Stelle im Jahr 2002. Damals war ähnlich schlechtes Wetter wie an diesem Tag, die Straßen waren genau so schwer befahrbar. Hier hatte Museeuw sich aus der Spitzengruppe abgesetzt und war schließlich mit einem monumentalen Vorsprung von mehreren Minuten im Velodrom als triumphaler Sieger angekommen. Beflügelt von dem Gedanken an den Sieg fasste er sich ein Herz und attackierte zum zweiten mal. Diesmal konnte er auch die beiden letzten verbliebenen Kontrahenten abschütteln und die beiden vorne alleine verfolgen. Nur noch auf sich gestellt kämpfte er gegen den Wind, seine Schmerzen und die Worte seiner Kritiker in seinem Ohr.

Jetzt hatte er die Chance sie alle ruhig zu stellen. Er müsste es nur bis u den beiden Spitzenreitern nach vorne schaffen. Wie in Trance flog er um die Kurven und über das Kopfsteinpflaster. Heute schien alles müheloser als je zuvor. Zwar musste er dieselbe Kraft einsetzen um vorwärts zu kommen, aber das Adrenalin in seinen Adern verdrängte die Schmerzen. Außerdem waren sie ihm egal. Wer in der Hölle des Nordens bestehen wollte, der musste leidensfähiger sein als alle anderen Fahrer. Mittlerweile waren alle taktischen Zwänge gelöst worden, jetzt zählte nur noch der pure Einsatz. Vor sich sah Frack jetzt Begleitmotorräder. Er hatte es fast geschafft. Noch wenige Minuten und er wäre an der Spitze.

Tatsächlich gelang es ihm in einigen Kilometern zu den beiden Spitzenreitern aufzuschließen. Cancellara, dessen weißes Trikot mittlerweile kaum noch zu erkennen war fuhr vor Überraschung, dass der junge Belgier aufgeschlossen hatte, einen kleinen Schlenker, wegen dem er beinahe gestürzt wäre. Der Schock hielt aber nicht lange an und im nächsten Pavé-Abschnitt Camphin-en-Pélève ging der Schweizer bereits wieder in die Offensive. Seinem kraftvollen Antritt konnte Hoste nichts mehr entgegensetzen und auch Franck bekam Schwierigkeiten und musste ein Loch reißen lassen. Der exzellente Zeitfahrer Cancellara wollte das Rennen jetzt im Alleingang gewinnen und stampfte mit einigen Metern Vorsprung über das Kopfsteinpflaster. Aber so einfach gab Franck sich nicht geschlagen, nicht nach 240 Kilometern durch die Hölle des Nordens, er wollte allen beweisen, dass er der beste sein könnte. Zum Ende des fünftletzten Sektors gab er alles um das Tempo hochzuhalten und er schaffte tatsächlich den Anschluss an den Schweizer. Gemeinsam fuhren sie auf den letzten schweren Abschnitt, den Carrefour de l’Arbre. Hier in der Nähe der belgischen Grenze waren massenweise seiner Landsleute anwesend, die ihn bejubelten und so vorwärts trieben. Hier war niemand überrascht über seine Leistung, niemand hinterfragte das vergangene, die Leute waren einfach nur begeistert und das motivierte ihn noch mehr. Angetrieben von der unglaublichen Euphorie wollte er einen neuen Angriff starten, als ihn das Glück verließ.

Bei dem Versuch das Tempo zu erhöhen, bemerkte er es. Sein Hinterrad hatte an Luftdruck verloren, er hatte fünfzehn Kilometer vor dem Ziel einen platten. Frustriert ließ er sein Rad an den Rand rollen, montierte mit der Hilfe des Motorradfahrers ein neues Hinterrad, aber als er wieder in Fahrt kam, war Cancellara zu weit weg. Noch schlimmer, Hoste konnte von hinten wieder aufschließen. Ein kurzer Blick des erfahrenen Klassikerspezialisten zurück, eine auffordernde Geste und die beiden waren sich einig. Bis zum Ziel musste jeder alles geben um noch zu gewinnen.

Sie fuhren über das letzte Pflasterstück, dann die letzten Kurven und hinein ins Stadion. Auf der Gegengeraden sahen sie Cancellara fahren. Es würde also nichts mehr werden mit dem Sieg. Enttäuscht sackte er im Sattel zusammen. Doch Hoste nahm das nicht zum Anlass anzugreifen, im Gegenteil, er zog seinen Landsmann im Windschatten mit und bedeutete ihm kurz vor dem Ziel aufzuschließen. Er hielt ihm die Hand hin und so fuhren die beiden Hand in Hand jubelnd über den Zielstrich. Es war ein Bild zweier Rennfahrergenerationen. Der 31-jährige Veteran mit dem 23-jährigen Hoffnungsträger.

Im Ziel reihten sich die Journalisten um ihn. Sensationell war sein Abschneiden mit dem zweiten Platz gewesen, jetzt wollte jeder ein Interview. Doch nach fast sieben Stunden Fahrt war er total ausgelaugt und auch sein Erscheinungsbild hatte gelitten. Der Schlamm der Straßen klebte in seinem Gesicht, sein Trikot hatte vom ursprünglichen Aussehen wenig bewahrt. Spätestens als dann der deutsche Reporter, der ihn morgens noch veräppelt hatte, Lobeshymnen anstimmte und ihm eine erfolgreiche Zukunft wünschen wollte, platzte Franck der Kragen. Er ließ die versammelte Schar der Journalisten mit dem Satz stehen: „Das hier war für alle, die immer an mich geglaubt haben. Wer mich abgeschrieben hatte, der hat sich geirrt. Ich möchte allen danken, die in der schweren Zeit zu mir gehalten haben.“

Auf dem Weg zur Siegerehrung erinnerte er sich an die Worte seines Trainers, die er damals nicht beachten wollte. „When you walk through a storm hold your head up high.” So schritt er nun Seite an Seite mit Leif Hoste und Fabian Cancellara auf das Podest zur Siegerehrung. Und tatsächlich, in dem Moment, indem Hoste und Franck ihre Blumensträuße und Cancellara seinen Pflasterstein in die Höhe hielten, durchbrachen goldene Sonnenstrahlen die Wolken. Er hatte das Tal überwunden, nun war nicht nur bei den Profis, er war bei den besten angekommen.








sciby, [i]Schwarz![/i], Schaer-Preis Herbst 2008, ([url=http://cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6737987#6737987]Link[/url] hat geschrieben:Schwarz!

Sie kamen auf ihn zu. Ihre polierten Köpfe glänzten in der Abendsonne. Die gestählten Körper kamen in Massen die Straße entlang. Der Boden schien zu beben. Die volle Wucht kam immer näher. Die Schritte wurden immer größer und schneller. John blieb regungslos stehen. In seinen Augen konnte man die Furcht erkennen. Er sah sein Ende kommen.
Nie zuvor waren die Straßen Mailands so leer- auch wenn am nächsten Tag das große Highlight anstand. Alle sahen weg. Die Türen und Fenster wurden geschlossen und Gardinen vorgezogen. Die Stille war zu spüren. Doch trotzdem merkte man die Anspannung.
Mit einer langsamen Bewegung griffen einige unter ihre Bomberjacke und zogen Baseballschläger hervor. Mit viel Kraft und noch mehr Wut schlugen sie die Schläger in die jeweils andere Hand. Ihr Zeichen war klar- „Jetzt gibt’s Schläge“.
Erst als sie wenige Meter vor ihm waren, reagierte er und rannte los. Er spurtete in eine der kleinen Gassen und erkannte wie die Masse hinter ihm her sprintete. Mit aufgerissenem Maul und langen, kräftigen Schritten folgten sie. Die Gasse wurde völlig verwüstet. Sie rissen Mülltonnen, Säcke, Kisten und anderen Sperrmüll mit sich.
Plötzlich tauchte vor ihm ein Zaun auf. 2 Meter 20 hoch und unüberwindbar. Hätte er versucht rüberzuklettern, hätten sie ihn bekommen. Sein Ende war nah. Er sah keinen Ausweg. Nun war es vorbei. Nicht mal blaue Flecken waren vorprogrammiert- sein Tod war glasklar.

Plötzlich erkannte er ein kleines Loch im Zaun. Mit seinem schmalen Körper quetschte er sich hindurch. Die vielen Schrammen und Schnitte vom scharfen Draht nahm er gerne in Kauf. Seine Verfolger holten auf, aber mit ihren breiten Schultern passten sie nicht durch das enge Loch. Nacheinander mussten sie über den hohen Zaun klettern. Er gewann etwas Vorsprung, doch langes und schnelles Laufen war er nicht gewohnt. Nach und nach ließen seine Kräfte nach. Einige der gestählten Körper gaben bereits auf, aber weiterhin verfolgten ihn mehr als ein halbes dutzend.
Jonathan rannte um sein Leben. Er gab alles und drehte sich nicht mehr um. Das hatte er bereits häufig lernen und erfahren müssen. Immer wenn er sich umsah, verlor er. Nun ging es nicht um einen zweiten oder ersten Platz- es ging um Leben oder Tod.

Er hörte die Schritte der Springerstiefel auf dem unebenen Boden. Ein Schlagloch hielt einen weiteren auf. Sie waren ungestüm, aber sie schienen Erfolg zu haben. Sie kamen immer näher und da drehte er sich um. Er wusste, wenn er jetzt verlieren würde, wäre er es selber Schuld gewesen. Umdrehen hieß verlieren. Er erschreckte sich, weil er sie noch nicht so nah erwartete hatte. Einer versuchte ihn mit der Hand zu packen, aber er konnte sich an nichts festhalten. An seiner eng anliegenden Kleidung fand er keinen Halt und rutsche nach vorne weg.
Zwar verlor er einen weiteren Verfolger, aber er bemerkte, dass er im Kreis gelaufen ist. Plötzlich kamen von rechts weitere bereits abgehängte Neonazis. Aber in der Ferne erkannte er sein beliebtes und gewohntes Fortbewegungsmittel. Ein alter Drahtesel stand angelehnt an eine Laterne und wartete darauf, gefahren zu werden.
Er gab noch einmal alles und spürte ihren Atem hinter sich. Zwei Meter vor dem Rad sprang er hoch und schwang sich drauf. Sofort fühlte er sich wohl. Er trat in die Pedale und machte Meter um Meter gut. Seine Gegner waren längst geschlagen, doch er hörte nicht auf. Er raste einfach davon. Erst als er merkte, dass er die Stadtgrenze erreicht haben müsste, atmete er durch und stieg ab. Seine Clips unter den Schuhen hingen in den Pedalen fest. Beinahe fiel er auf die Seite. Beim Laufen hatte er sich gar nicht darum gekümmert, dass er auf den harten Clips lief. Sie störten ihn nicht. Voller Adrenalin sah er einfach nur noch nach vorne. Sie waren bereits ganz abgelaufen und kaum noch sichtbar. Es reichte allerdings, dass sie sich in den Pedalen verklemmten.
Er fuhr den langen Weg zurück zum Hotel. Noch am Abend fragte er Jan nach neuen Schuhen. Ohne Nachfragen erhielt er sie sofort. Sie interessierten sich gar nicht mehr für ihn. Er hatte versagt. Seine Chance vertan. Nun musste er helfen und weiter leiden.


Am nächsten Morgen sagte er kaum ein Wort. Die Anweisungen „Halt die ersten drei Stunden einfach nur das Tempo hoch“ hörte er gar nicht. Wie selbstverständlich nickte er nur. Dem Trubel entging er, indem er erst fünf Minuten vor dem Start zur Einschreibekontrolle ging. Früher war er ein Blickfang- heute nahm man ihn gar nicht mehr wahr.
Der Startschuss fiel und alle waren aufgeregt und angespannt. Fast 300 Kilometer standen vor ihnen. John ging es ganz gelassen an. Trotz seines ersten Starts in Mailand. Zu sehr war er psychisch angeschlagen. Aber er sagte es keinem. Er wollte einfach nur fahren. Das war das einzige, wodurch er sich frei fühlte.
140 Kilometer fuhr er am Ende des Feldes einfach nur mit. Normalerweise wäre hier sein Rennen bereits zu Ende gewesen. Die Ansagen, welche Gruppen vorne weg waren, interessierten ihn nicht. Jeden Kilometer wurde er aufgefordert, das Tempo zu machen. Er antwortete kein einziges Mal. Seine Teamkollegen forderten ihn andauernd auf und stießen ihn an, aber er reagierte nicht. Er merkte nur, dass das komplette Team mit dem unumstrittenen Kapitän zum Teamwagen fuhr. Kurz darauf fuhr der Wagen zum Feld vor. Man wollte mit John reden. Doch dieser antwortete nur mit einem eindeutigen Handzeichen und einem nicht zu verstehenden Spruch:
„Begeef hom!“
Nur selten wandte er seine Heimatsprache an- lediglich wenn er emotional extrem erregt war. Alle verstanden seine Geste. Das Auto fuhr zurück und andere Fahrer erklärten sich bereit, an der Spitze ein wenig Tempo rein zu bringen. Nach der ersten wirklichen Steigung und dem höchsten Punkt ging es durch den Tunnel.
Die nächsten 100 Kilometer verliefen für John nicht anders. Er hielt sich hinten im Feld auf und achtete nicht auf die Ausreißer. Selbst ein überraschend früher Angriff von Kolobnev machte ihm nichts aus. Sein halbes Team versuchte ihn zurückzuholen. Einzig allein der starke Wind an der Mittelmeerküste machte ihm leicht zu schaffen. Das Feld war langgezogen und er musste aufpassen, dass er durch eine Windkante nicht abgehängt wurde.
Es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn er nicht mitgefahren wäre. Jeder andere Fahrer hätte seinem Team mehr gebracht.

Als er ohne Probleme über die Capo Berta kam, erkannte er als erstes, wie überraschend stark er doch war. Kurz danach machte ihn auch Jan darauf aufmerksam. Niemand hatte erwartet, dass er über 250 Kilometer durchhält. Urplötzlich wusste er Bescheid. Er ließ sich zum Teamwagen zurückfallen und sagte nicht mehr als „12 Flaschen“. Ohne Worte bekam er sie und versuchte sie irgendwo zu verstauen. Mit 6 Kilo Übergepäck fuhr er an die Spitze und übergab jedem seiner Teamkollegen ein oder zwei Flaschen.
Sie waren alle von seinem plötzlichen Meinungswechsel überrascht. Aber entgegen ihren Erwartungen erhöhte er nicht das Tempo um den Konkurrenten so viel Kraft wie möglich zu rauben. Als der Anstieg zur Cipressa in Sicht kam und eine sechs Mann starke Gruppe gut eine Minute in Führung lag, fuhr er an die Spitze des Pelotons.
Alle erwarteten eine letzte Tempoverschärfung, doch dann sah er sich noch einmal um und erkannte wieder die kahlen Fratzen auf den breiten Schultern hinter sich. Mit aller Kraft versuchte er ihnen erneut zu entkommen. Das Feld entschwand aus seinem Blick, die Kahlköpfe nicht. Sie waren nicht so leicht abzuschütteln.

Verdutzt starrten die anderen Fahrer ihm hinterher. Niemand reagierte. Erst spät fuhren sie ihm ernsthaft nach.
Die Kommentatoren der zahlreichen Fernsehsender überschlugen sich mit ihren Aussagen:
„And now he is attacking and seems to be the first on top of Cipressa.“
„Und jetzt zieht er davon. Unfassbar. Mit einem unheimlichen Antritt überrascht Wahala den Rest der Fahrer. Wer hätte damit gerechnet.“
„Regardez là, le premier cycliste noir attaque au Cipressa. Ils ne peuvent pas le suivre. Et souvenez-vous qu'il est l'allemand.“
„Mirar las caras de los demás ciclistas. Ellos están sorprendidos por su ataque.“

Sie staunten alle über seine Leistung. Niemand hatte erwartet, dass er so explodieren kann. Doch sie wussten nicht, was sie davon zu halten hatten. Möglicherweise würde er noch vor dem Poggio völlig einbrechen und sang und klanglos untergehen.
Mit einem ungeheuren Tempo erreichte er die Ausreißer, die am Anstieg bereits auseinander gefallen waren. Er reihte sich nicht hinter ihnen ein, sondern fuhr an jedem einzelnen vorbei. Ganz oben auf der Cipressa war er der alleinige Spitzenreiter. Über eine Minute lag er vorne. Das Feld machte mächtig Tempo und noch im Flachstück zum Poggio wurden alle anderen Ausreißer eingeholt. John blieb vorne. Sein Vorsprung betrug unglaubliche zwei Minuten.

Sie waren alle geschockt. Nie zuvor konnte er im letzten Rennabschnitt noch das Tempo des Pelotons halten. Und nun war er der schnellste von allen, doch nie würden sie den wahren Grund für seinen starken Auftritt erfahren. Noch immer wurde er verfolgt. Auch wenn das Feld bereits über einen Kilometer entfernt war. Seine Verfolger waren wer anderes. Die Gegner seiner Farbe, seiner Familie und seiner Vergangenheit verbündeten sich. Neonazis, ehemalige Ghetto Kameraden und Eingeborene aus seinem Heimatland rannten Seite an Seite und Hand in Hand hinter ihm her.
Jahrelang war er nur vor ihnen weggerannt. Jetzt holte ihn seine Vergangenheit wieder ein. Aber nun wollte er sie besiegen und nicht nur feige davonlaufen. Er musste seine Widersacher in Keim ersticken. Und da meldete sich der nächste. Zum ersten Mal nach seiner Attacke teilte ihm Jan über seinen Ohrknopf mit, was er dachte:
„Was ist denn mit dir los? Hältst du das durch? Ich kann erst jetzt nach vorne vorfahren.“
Mit Wut und Trauer antwortete er ihm:
„Macht doch einfach das, was ihr immer getan habt- lasst mich in Ruhe!“
Jonathan hörte nur noch ein leises „Aber…“, doch dann verstummte Jan. Seinen ersten Gegner hatte er besiegt. Trotzdem riss er den Ohrhörer heraus. Er wollte kein Risiko eingehen, abgelenkt zu werden.

Die steilen Rampen des Poggios kamen in Sicht. Er blickte geradewegs den Berg hinauf. Die letzte wirkliche Schwierigkeit des Tages stand auf dem Programm. Hinter sich hörte er die Klappmesser seiner Ghetto Freunde schallen. Locker und sicher wirbelten sie mit den Klingen herum. Er trat feste in die Pedale und versuchte sein Tempo schrittweise zu erhöhen. Zwar war der Anstieg weder richtig lang noch extrem steil, aber so langsam spürte er die vergangenen 280 Kilometer in den Beinen. Seine Kräfte ließen nach, aber er gab alles und versuchte den Gipfel zu erblicken, doch die vielen Kurven versperrten ihm den Blick nach ganz oben.
Plötzlich merkte er, dass seinen Verfolgern die Puste ausging. Die Luftverwirbelungen der Messer wurden immer leiser. Sie konnten seinem hohen Tempo nicht folgen. Beinahe gleichzeitig erreichte er den Gipfel. Nun ging es nur noch bergab. Das Feld fuhr mit dem höchsten Tempo, was je am Poggio gefahren wurde. Jedoch konnten sie den Abstand nur um 30 Sekunden verringern. Das Tempo war zu hoch, dass jemand hätte attackieren können. Die meisten Sprinter wurden abgehängt. Johns Kapitän fuhr weiter im ersten Drittel des Feldes. Er bewahrte seine Chance auf den Sprint.
Jonathan und allen anderen war klar, dass er das Rennen gewinnen würde. Als erster würde er den Zielstrich in San Remo überqueren. In der Abfahrt vom Poggio spürte er erneut die Neonazis in seinem Nacken. Ihre offenen Bomberjacken standen im Wind. Sicherlich stoppte auch er sie. Aber noch mehr stoppte sie Johns Durchhaltevermögen. Obwohl er völlig ausgepowert war, fuhr er weiterhin sehr schnell. Die gestählten Körper konnten zwar gut zuschlagen, aber hielten dem langen Kampf gegen ihn nicht Stand. Er hatte sie besiegt. Er war einfach zu schnell und zu stark für sie.
Er bog auf die Via Roma ein. Nur noch 1,5 Kilometer schnurstracks geradeaus trennten ihn vom Sieg. Zwar war das Feld auf 50 Sekunden herangekommen, doch nur ein Sturz hätte ihn aufhalten können. Aber plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Er griff sich an die Schulter und spürte einen kleinen Pfeil. Er zog ihn hinaus und aus der Wunde strömte massig an Blut. Der Pfeil landete auf dem Boden. Als er über seine blutverschmierte Schulter sah, erkannte er die Eingeborenen seines Heimatlandes, die sperrlich bekleidet waren und Speere und Blasrohre auf John richteten.

Die Flame Rouge erinnerte ihn an sein Blut. Er wurde immer schwächer und schwächer. Seine Beine wurden schwerer und schwerer. Er wurde langsamer und langsamer. Das Gift am Pfeil wirkte schnell. Er war wie gelähmt. Nichts ging mehr. Die massigen Zuschauer jubelten ihm zu, doch sie hatten das Gefühl, er würde rückwärts fahren.
Das Feld preschte heran und raste mit einem ungeheuren Tempo auf die Via Roma. Die kurzen Sprinterzüge waren bereits formiert und Johns Kapitän war in bester Position um den Spurt zu gewinnen. Platz 2 würde im Massensprint entschieden werden.
Aber Jonathan war mittlerweile so langsam, dass es auch Platz 1 hätte werden können. Das Gift ging in seinen ganzen Körper über. Er hatte den Kampf verloren. Schwankend fuhr er an der 300m Marke vorbei. Durch die Zuschauer ging ein Raunen. Er schien vom Rad zu fallen.

Aber dann fasste er sich ein Herz und ging trotz tauben Beinen aus dem Sattel und trat in die Pedale. Er konnte wieder Tempo aufnehmen, doch die vordersten des Hauptfeldes kamen ihm gefährlich nahe. Sein eigener Teamkollege führte sie an.
Die Eingeborenen zogen sich in ihre Hütten zurück. Auch sie waren besiegt. Dem Sieg stand nichts mehr im Wege, doch seine eigentlichen Gegner kamen immer näher. Sein Tempo war zu niedrig. Er konnte es nicht mehr wirklich erhöhen. Die anderen waren fast doppelt so schnell.
Plötzlich erschien sein Vater Hand in Hand mit seiner Urgroßmutter hinter dem Zielstrich. Sie weckten noch tiefer verborgene Kräfte in ihm und wie durch Geisterhand preschte er nach vorne und überquerte wenige Zentimeter vor dem Hauptfeld die Ziellinie.
Er hatte es endgültig geschafft und es allen bewiesen. All’ seine Widersacher wurden in Keim erstickt. Nicht nur sie, sondern auch die anderen Fahrer konnte er schlagen. Er war dort angekommen, wo er immer hinwollte. Seinen ersten Sieg holte er im längsten Rennen überhaupt.

Der Zweite fuhr an ihm vorbei und klatschte. Er war wie alle anderen im Ziel erstaunt, aber er war auch ein wenig sauer. Die Freude des Teams war trotz des Doppelerfolges nicht sehr groß. John war nicht der Sieger, den sie wollten.
Ein Betreuer leitete ihn zum Mannschaftsbus. Als er seinen Arm um seine Schulter legte, um ihn zu stützen und zu führen, erkannte er es.
„Was hast du denn hier gemacht? Du blutest ganz stark.“
Jonathan war vollkommen verdutzt. Er wusste nicht was er davon halten sollte, aber ihm war klar, dass es nicht echt sein konnte. Doch als er sich selber an die Schulter fasste, antwortete er dem Betreuer:
„Ach, das ist nur halb so wild. Da reicht ein kleines Pflaster.“

Am Mannschaftsbus angekommen bewunderten ihn alle. Mit überraschtem und respektvollem Blick beobachteten sie ihn. Das komplette Team gratulierte ihm, aber es war nicht wie bei einem gewöhnlichen Sieg. Sie sagten nur „Herzlichen Glückwunsch“ und nicht mehr. Kein „starkes Rennen“ oder „klasse Fahrt“. Er fühlte wie unwohl sie alle über seinen Sieg waren.
Der Chaperon begleitete ihn seit dem Ziel und beobachtete ihn genau, als ihm der Teamarzt ein Verband um die Schulter wickelte. Kurz darauf musste er zur Siegerehrung.
Hunderte Radsportbegeisterte standen dicht gedrängt vor dem Podium. Seine geschlagenen Gegner wurden aufgerufen und konnten ihren zweiten und dritten Platz feiern. Normalerweise wäre selbst ein solcher Platz das höchste aller Gefühle für John gewesen, aber nun war er der schnellster und beste. Als letzter und somit Erster wurde sein Name lautstark aufgerufen.
„Jonathan Wahala“
Voller Stolz und Freude betrat er das Podium. Er durfte nach ganz oben. Der Gipfel war erreicht. Die Zuschauer sahen alle zu ihm auf und klatschten ihm frenetisch zu. Man hörte förmlich das „Respekt!“ durch die Massen raunen. Als der Rennveranstalter ihm den Pokal überreichte, erkannte er unter den Zuschauern die Neonazis, die Eingeborenen und seine Ghetto Kollegen Arm in Arm ihm zujubeln. Sie hatten es erkannt, dass sie keinerlei Chance hatten. Von einer auf die andere Sekunde überkam ihn seine ganze Power und explodierte. Dem konnten sie nicht standhalten. Nun mussten sie sich ihm geschlagen geben. Sie blickten zu ihm auf.
Noch vor einem abschließenden Foto der drei Ersten, wurde er gefragt, ob er etwas zu sagen hätte. Spontan und reflexartig antwortete er:
„I’m black. And that’s what makes me famous!“

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30.10.2008 - 18:16

Von den Blättern des Lebens

Nervös wie ein kleiner Junge schritt Paolo in seinem Garten auf und ab. Auf und ab. Nicht, weil morgen der letzte Tag seiner Karriere anstand. Der letzte Tag einer der erfolgreichsten Radfahrerkarrieren aller Zeiten. Nicht, weil morgen alles vorbei wäre und ein neuer Abschnitt seines Lebens, ganz ohne das Rennrad, beginnen würde. Seine Nervosität hatte einen einzigen Grund: Morgen wäre die letzte Chance. Die einzige Möglichkeit, die ihm noch bliebe, um seinen großen, unerfüllten Traum doch noch wahrwerden zu lassen. Morgen wäre der Tag seines Lebens.
Er blickte auf die herrlichen Passionsblumen, die an einem braunen Holzgitter emporrankten. Dahinter erstreckten sich die Hänge seiner Ländereien. Oliven und Reben zumeist, doch auch einige andere Gewächse hatte er gepflanzt. Der Radsport war sein Leben gewesen, seine Leidenschaft, über beinahe zwei Jahrzehnte hinweg. Geld hatte er genug verdient, mehr als genug. Er würde sich bald seiner anderen Leidenschaft hingeben, der Feldarbeit, der Gärtnerei. Das würde den nächsten Abschnitt seines Lebens bestimmen. Doch morgen galt es noch einmal. Ein letztes Mal.
Der Himmel zeigte noch immer sein klarstes und reinstes blau. Keine Herbststürme hatten die Emilia-Romagna heute heimgesucht, kein Regen sich über das Land ergossen, keine Wolke die Sonne bedeckt. Diese Tage waren es, die Paolo so liebte am norditalienischen Herbst. Die tiefstehende Sonne tauchte die weiße Fassade seines schönen Hauses in ein helles, reines und sanftes gelb und auch die Birken neben dem kleinen Mäuerchen um seinen Garten waren in ein seltsames, fast träumerisch blasses orange getüncht. Es waren dies die Stunden, die den Menschen zum Träumen anregten, doch auch zum Nachdenken, zum philosophieren gleichsam wie zum Überdenken der eigenen Existenz. Und so ging es auch Paolo, der die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens, seines Daseins als Radstar, nochmals an sich vorübergleiten ließ.

Schon immer war Paolo ein Mann für die kurzen Anstiege gewesen, für die Hügel, für die klassischen Eintagesrennen. Stets hatte er aus dem elterlichen Haus am Rande Modenas seine Trainingsfahrten durch die Region unternommen. Keine ewiglangen Anstiege, doch nichtsdestotrotz ein stetes Auf und Ab. Antreten, aus dem Sattel gehen, beschleunigen, im Wiegetritt bergauf. Das war es, was er immer geliebt hatte, was ihn stets so sehr fasziniert hatte. Zwar war es nicht das Einzige gewesen, was ihn als Profi ausgezeichnet hatte, doch es war stets seine größte Stärke gewesen.
Mit 19 Jahren hatte er 2008 bei der U23 Austragung der Doyenne den zweiten Rang belegt, hatte gegen die um bis zu vier Jahre ältere Konkurrenz bestanden. Im Herbst noch hatte er sich als Stagiaire hervortun dürfen und die Experten mit seinen Leistungen über alle Maßen beeindruckt. Schon Rang vier beim Giro dell’Emilia, geschlagen nur von Superstars wie Di Luca und Rebellin, galt in der Fachwelt als eine Sensation. Doch als er eine Woche später in der Lombardei als einziger dem scheidenden Weltmeister Bettini hatte folgen können und so tatsächlich auf Rang zwei gefahren war entfachte die Radsportwelt in einer selten zuvor dagewesenen herbstlichen Begeisterung ob dieses Jahrhunderttalentes. Und sein Auftritt hatte nicht zuviel versprochen.
Im Folgejahr waren die Ardennenklassiker sein erklärtes Ziel gewesen, und mit Rang drei in der Gesamtwertung der Baskenlandrundfahrt hatte er bereits ein erstes Ausrufezeichen setzen können. Ein böser Sturz bei einem letzten Vorbereitungsrennen in den Niederlanden hatte ihn jedoch um die Teilnahme an diesen drei Klassikern gebracht. Erst nach der Tour de France konnte er langsam wieder in den Rennbetrieb einsteigen, doch der Herbst verlief mit etlichen guten Resultaten bei Eintagesrennen hervorragend, und Rang vier in der Lombardei, hinter dem hier zum dritten Mal siegreichen Cunego, war ein zufriedenstellender Saisonausklang gewesen.
2010 war ihm der endgültige Durchbruch gelungen. Einem starken Auftritt beim Tirreno Addriatico war die Krönung gefolgt, der Sieg auf der Via Roma in San Remo. Der Sieg beim Fleche Wallone und Rang drei in Lüttich sowie ein Etappenerfolg nahe der Heimat in der ersten Woche des Giros hatten seine Saison bereits zu einem frühen Zeitpunkt krönen können.

In den Folgejahren hatte ein Erfolg den nächsten gejagt. Ein weiteres Mal hatte er Mailand San Remo gewonnen. Auch andere prestigeträchtige Klassiker hatte er mehrfach für sich entscheiden können. Das Amstel Gold Race und den Fleche Wallone in den Ardennen, die Classica San Sebastian sowie Paris-Tours und den Giro dell’Emilia im Herbst. Viele weitere Siege und gute Platzierungen bei kleineren Eintagesrennen und Rundfahrten hatten ihn durch seine Karriere begleitet.
Die meisten, größten und wichtigsten Erfolge jedoch feierte er bei der Doyenne, dem ältesten Radrennen der Welt. Als erster Fahrer seit Michele Bartoli konnte Paolo hier 2013 seinen Vorjahressieg wiederholen. Zwei weitere Triumphe waren in den nächsten Jahren gefolgt, und so kann er sich nun rühmen, in der ewigen Bestenliste des Rennens auf einer Stufe zu stehen mit Moreno Argentin, knapp nur hinter dem großen Eddy Merckx.
Die großen Landesrundfahrten hingegen waren nie seine Leidenschaft gewesen, und dennoch hatte er auch dort seine Erfolge feiern können. Drei Etappensiege bei der Tour und zwei Tage in gold bei der Vuelta. Ein Tageserfolg in Spanien fehlte ihm genauso wie das gelbe Trikot in Frankreich, eines der wenigen unerfüllten Ziele seiner Karriere. Seine Rundfahrt aber war stets der Giro gewesen, den er 2017 sogar auf dem dritten Gesamtrang hatte beenden können. Acht Etappensiege, elf Tage im Maglia Rosa unterwegs, dazu zweimal das Bergtrikot gewonnen. Wenige Klassikerspezialisten können eine solche Bilanz bei ihrer Heimrundfahrt vorweisen. Doch Paolo war nie ein gewöhnlicher Fahrer gewesen.
Silber und Bronze hatte er bei den olympischen Spielen gewonnen. 2015 war er erstmals Weltmeister geworden. In diesem Trikot auf der Via Roma und gut zwei Monate später bei einer Bergankunft des Giros siegreich zu sein waren ganz besondere Glücksmomente seines Lebens gewesen. 137 Siege hatte Paolo als aktiver Radprofi sammeln können. Mehr als alle anderen Radprofis seiner Zeit, den Briten Mark Cavendish ausgenommen. Paolo Valtoso war ein echter Star gewesen, der größte des letzten Jahrzehnts vielleicht.

Im Herbst seiner Karriere, nachdem auf den dritten Gesamtrang in Italien im Folgejahr die große Ernüchterung gefolgt war, hatte er seinen Fokus zu verlagern begonnen. Die belgischen und französischen Rennen über Kopfsteinpflaster waren stets die Lücken seiner Memoiren gewesen, doch dies hatte er zu ändern versucht und auch gewusst. 2020 hatte er im dritten Anlauf bei der Ronde van Vlaanderen mit beherzten und explosiven Antritten an den Hellingen seinen ersehnten Sieg bei diesem Monument einfahren können.
Im Folgejahr war ihm der große Bluff gelungen. Bei Paris-Nizza und auch bei der Flandernrundfahrt hatte er sich kraft- und formlos gezeigt, den Anderen Schwächen vorgegaukelt, seine Siegambitionen aufgegeben. In der Hölle des Nordens, bei Paris-Roubaix, dem vielleicht prestigeträchtigsten aller Klassiker, hatte man den fatalen Fehler begangen, ihn, den vermeintlich formschwachen, in einer großen Ausreißergruppe fahren zu lassen. 25 Kilometer vor dem Ziel hatte er sich abgesetzt und seinen Vorsprung bis ins Ziel verteidigen können. Im Velodrome hatte er diesen vielleicht größten Triumph seiner Karriere genießen können.
Und trotz all seiner Erfolge blieben auch ihm, Paolo Valtoso, noch unerfüllte Träume. Ein Etappensieg bei der dritten großen Landesrundfahrt in Spanien, ein Sieg in einem Einzelzeitfahren oder gar das gelbe Trikot bei der Tour, wenn auch nur für einen Tag. Weder hatte er eine Grande Tour gewinnen können, noch war ihm jemals das legendäre Triple in den Ardennen gelungen. Und nicht zuletzt war es auch die olympische Goldmedaille, die er in seiner langen Karriere nie hatte gewinnen können. Zu gerne nur hätte er sich dieses Schmuckstück in seinem heimeligen Wohnzimmer an die Wand gehängt.
Doch Paolo war nicht der Mann, sich an verpassten Zielen zu grämen. Zu groß, zu vielfältig, zu schön und zu einzigartig waren seine Erfolge gewesen. Der erste Tag in Rosa bei der Italienrundfahrt, und sein letzter, in diesem Jahr. Der Etappensieg bei der Ankunft in seiner Heimatstadt Modena, der erste große Klassikersieg auf der Via Roma, und der zweite im Weltmeistertrikot. Der erste eigene Touretappensieg, doch genauso der Tag, an dem er seinen Teamkameraden und Freund als Toursieger über die Champs Elysées geleiten durfte. Seine Triumphfahrt durch das Velodrome von Roubaix war noch immer eine seiner schönsten Erinnerungen, und die beiden Weltmeistertitel, der erste vor acht Jahren gleichwie der zweite vor wenigen Wochen, blieben auf ewig in seiner Erinnerung haften.
Mit 36 Jahren hatte er seinen zweiten und letzten Titel bei einer WM erobert. In der Schweiz, vor allzu kurzer Zeit erst. Als Weltmeister in den Ruhestand zu gehen. Auch dies war ein Traum, der ihm erfüllt worden war. Den er sich selbst erfüllt hatte. Er würde bald abtreten. Vermutlich mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht, und einem vor Freude schneller schlagendem Herz. Ganz gewiss aber würde er in seinem letzten Rennen das Regenbogentrikot über die Ziellinie fahren.

Sein letztes Rennen. Die Lombardeirundfahrt. Sein Rennen. In jeder Beziehung. Denn seine Beziehung zu diesem Rennen war eine ganz besondere. Hier hatte er sein erstes wirklich gutes Rennen als Profi abgeliefert, mit Rang zwei den ersten ganz großen Erfolg gefeiert. Seither waren weitere sechzehn Jahre seines Lebens ins Land gegangen. Ein einziges Mal nur hatte er seinen Start absagen müssen, und ein einziges Mal nur hatte ihn ein Sturz daran gehindert, das Ziel zu erreichen. Vierzehn Mal hatte er die Ziellinie überquert, und vierzehn Mal war er unter den ersten zehn gewesen, davon fünf Mal zweiter und vier Mal dritter. Nie zuvor hatte ein Fahrer auch nur annähernd über die Jahre hinweg eine solche Konstanz gezeigt beim Rennen der Fallenden Blätter. Er würde als einer der ganz Großen in die Geschichte der Lombardeirundfahrt eingehen.
Doch er würde auch in die Geschichte eingehen als der ewige Zweite. Alles hatte er schon versucht. Eine Flucht weit vor dem Ziel, das Pokern auf einen Zielsprint, Angriffe zum Rennende hin, nur auf die Gegner reagieren, selbst die Initiative ergreifen. Und dennoch hatte es nichts geholfen, denn immer war zumindest ein anderer besser gewesen. Anfangs vor allem Damiano Cunego, der dreimal vor ihm gesiegt und somit mit fünf Siegen zu Fausto Coppi aufgeschlossen hatte. Und nach dessen Karriereende war es der Schweizer Mauro Silter gewesen, Paolos ewiger Rivale, der ihn zweimal um den Sieg gebracht hatte.
Zum Abschluss seiner langen und so überaus erfolgreichen Karriere verblieb nur noch dieses eine, letzte und ultimative Ziel. Der Gewinn des fünften Monuments des Radsports, der Triumph am Comer See, der Erfolg bei der Lombardeirundfahrt, die Eroberung seines ganz persönlichen Radsportolymps – der Sieg beim Rennen der Fallenden Blätter. Morgen wäre seine allerletzte Chance, sich diesen Traum zu verwirklichen. Der Sieg im Weltmeistertrikot war das erklärte Ziel, und die Form war da. Nichts wäre schöner, als mit einem Erfolg abzutreten.
Noch ein letztes Mal schritt er eine Runde durch seinen Garten. Der große, so wunderschön in ein herbstliches goldrot gefärbte Ahorn ließ seine Blätter im Licht der untergehenden Sonne fallen. Auch morgen würden die Blätter fallen. Im Rennen, doch auch in seiner Karriere, in seinem Leben. Es war sein letzter großer Auftritt. Sein Abschied.



Argwöhnisch beäugte Paolo seine Konkurrenten. Ein Dutzend war vielleicht noch verblieben, und doch waren es noch fast fünfzig Kilometer bis ins Tagesziel. Bereits zur Rennmitte hatten seine Teamkollegen das Tempo angezogen. Am Fuße der Madonna del Ghisallo schon war das Peloton endgültig zersprengt worden. Nun fuhr er in der Spitzengruppe des Tages. Einer dieser zwölf würde heute gewinnen. Und Paolo hatte noch immer einen Teamkollegen an seiner Seite, der nun für das Tempo in der Gruppe sorgte.
Der letzte Kilometer bergauf, dann eine Abfahrt, bevor es auf welligem Terrain in Richtung Civiglio und schließlich zum San Fermo della Battaglia ging. Einige Fahrer um ihn herum schnauften schon gehörig. Sie mussten kämpfen. Sein Edelhelfer Francesco zog nochmal das Tempo an. Schön. An diesem Anstieg würden keine Kontrahenten mehr zurückfallen, das war sicher. Aber es würde sie so viele Kräfte kosten, die ihnen allen am Ende fehlten. Francesco sollte sie zermürben. Paolo selbst musste nur die Ruhe bewahren. Das war ihm hier schon mehrere Male zum Verhängnis geworden. Bei anderen Rennen war er stets die Ruhe selbst gewesen, abgeklärt und taktisch klug. Hier jedoch, bei seinem Rennen, hatte er sich oftmals nicht zu zügeln gewusst. Doch heute sollte auch das anders sein.
Hundert Meter noch bis zur Kuppe. Fast spielerisch fuhr Paolo nun nach vorne. Doch das war gestellt, denn auch an ihm waren die Anstrengungen des Tages nicht völlig spurlos vorübergegangen. Und als er die Gruppe von hinten aufrollte konnte er ein weiteres Mal seine Konkurrenz in Augenschein nehmen. Fast alle fuhren sie am Anschlag. Der Russe Kovolov schien noch einige Kraftreserven zu besitzen. Von ihm würde gleich im Flachstück sicher ein aussichtsloser Angriff erfolgen. Dennoch – Francesco würde arbeiten müssen. Ganz vorne in der Gruppe fuhren jedoch seine beiden echten Konkurrenten. Mauro Silter und Valdo Cavisio, der in diesem Jahr völlig überraschend als vierundzwanzigjähriger den Giro d’Italia gewonnen hatte und seitdem als der neue Cunego gehandelt wurde. Beide waren den gesamten Anstieg scheinbar locker an der Spitze der Gruppe, direkt hinter Francesco, hinaufgefahren. Nur einer dieser beiden könnte ihn heute noch um seinen Sieg bringen.

Civiglio. Der entscheidende Anstieg des Tages. Francesco hatte die Gruppe bis zum Beginn des Hügels zusammenhalten können. Besser noch, er hatte zwei weitere Fahrer abgehängt. Doch das war letztlich bedeutungslos. Denn schon am Beginn der Steigung setzte Cavisio die erste Attacke. Zwei Mann nur konnten folgen – Silter und Paolo. Kurz nahmen sie das Tempo heraus, taktierten ein wenig. Doch in dem Moment, in dem ein Franzose den Anschluss an die drei fast geschafft hatte ging Silter. Sofort heftete Cavisio sich an sein Hinterrad. Paolo hingegen war in diesem Augenblick chancenlos.
Wie überirdische Wesen flogen sie ihm davon. Viel explosiver war ihre Attacke gewesen, viel runder ihr Tritt, viel größer ihre Ausdauer, viel stärker ihre Beine. Mit letzter Kraft versuchte Paolo, sie im Blickfeld zu halten, doch er wusste um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens. Sie waren heute stärker als er. Sie hatten ihn abgehängt. Sie würden den Sieg im Rennen unter sich ausmachen. Paolo hingegen blieb erneut nur Rang drei.

Eine halbe Stunde später erreichte Paolo den Zielbereich. Mit seinem Schicksal hatte er sich abgefunden, schon während des Rennens. Zwei andere, jüngere Fahrer, waren heute stärker gewesen als er. Auch im letzten Anlauf war ihm der so heiß ersehnte, der so tief gewünschte Sieg nicht gelungen. Dies war die letzte Chance gewesen. Auch sie war vertan.
Und doch gab es keinen Grund zur Trauer. Paolo konnte sie genießen, seine Triumphfahrt, seine letzte Fahrt, hier in Richtung Ziel des Giro di Lombardia. Der tosende Jubel der Fans begleitete ihn, als er mit hoch erhobenen Armen in triumphaler Pose die letzten 300 Meter seiner Karriere absolvierte. Denn wenn es auch nicht der Sieg war, so war es doch noch immer der dritte Rang bei seinem liebsten Rennen, bei jenem, das ihm mehr bedeutete als alle anderen. Und so fuhr er über die Ziellinie, jubelnd als wäre er selbst der Sieger. Und im Zielbereich warteten seine beiden Konkurrenten, einzig und allein um ihm zu gratulieren. Und dann stieg er vom Rad, er, der größte Klassikerfahrer unserer Zeit.

Und zum ersten Mal in der langen Geschichte der Lombardeirundfahrt wurde der Sieger zuerst geehrt, und dann erst der Zweite und der Dritte. Denn der Dritte allein war es, dem all der Jubel der Fans und der Welt zuteil wurde. Als Paolo Valtoso das Podium betrat ging die Stimme des Sprechers im tosenden Beifall Tausender unter. Ein jeder zollte ihm seinen so hochverdienten Respekt. Und als man Paolo schließlich den Pokal für seinen dritten Rang überreichte, da überkamen ihn all die Freude und all die Glücksmomente einer ganzen langen und unermesslich erfolgreichen Karriere. Er konnte es nicht mehr zurückhalten, und doch war in diesem Augenblick der Star selbst nicht der einzige mit Tränen in den Augen.
Und so, getrübt durch die Wasser der Freude, glitt sein Blick über die Menge hinweg, weit hinfort, hin zu seinem Haus in den Hügeln Norditaliens. In so weiter Ferne und doch klar vor seinem geistigen Auge sah er das letzte Blatt des wunderschönen Ahornbaums in seinem Garten zu Boden gleiten. Das Sinnbild des Moments.



Geschrieben von SG im Herbst 2008

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Zuletzt geändert von Grabba am 27.3.2017 - 15:54, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitrag: # 6742815Beitrag Flame of Za-i-ba
31.10.2008 - 22:56

Fast, fast, aber eben nur fast hast du es geschafft mir Gänsehaut zu machen und genau das macht die Geschichte nicht zu unglaublich, sonden zu super klasse. Wie du selber schonmal erwähntest: Die Story lebt nicht von der Spannung, sondern von der Stimmung, den Emotionen. Dennoch: Ein wenig fehlt da ...

Der Anfang ist wunderbar ausführlich beschrieben. Dann fehlt jedoch immer ein wenig. Irgendetwas past da nicht, ich weiß nur gerade nicht direkt was. Vielleicht ein längerer Monolog als er begreißt, dass er nicht gewinnen wird. Vielleicht das auch mehr ausschmücken und die Siegerehrung noch mehr als Höhepunkt der Geschichte nehmen, denn die Idee ist klasse!

Schreibstil 8O, hammer, Grabba halt. Story ... Ja, ist okay. Rückblick ist mir zu lange. Da lieber etwas mehr für die Gefühle tun, die zwar super beschrieben sind, aber meiner Meinung nach nicht ausführlich genug. Rechtschreibfehler such ich erst gar nicht. Die wirste eh nicht dran haben.

Macht insgesamt etwa 89 % ( ;) ), wenn ich den Author nicht kennen würde. Aber ich kenne ihn. Deswegen gibts nur 80 %. Du brauchst einen weiteren Ansporn! Ein wenig fehlt, aber sehr sehr schön :)
"Alle lachen mich aus, weil ich anders bin - Ich lache sie aus, weil sie alle gleich sind."

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arkon
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Beitrag: # 6743211Beitrag arkon
3.11.2008 - 13:14

Das Geheimniss des Erfolgs

Er hatte ein starkes Frühjahr gehabt. Ein starkes? Nein, das traf es nicht ganz. Es war phänomenal gewesen. Einzigartig. Keiner hatte ihn auf der Rechnung gehabt. Einar Leif Pettersson, der schwedische Rundfahrtspezialist. Vor dieser Saison war er eher einer aus der zweiten Reihe, ein Jungprofi auf dem Weg nach vorne, obwohl die meisten daran zweifelten ob er jemals ankommen würde.
Aber er war es. Er hatte es geschafft. Zunächst hatte er sich ein wenig warm gefahren, bei kleineren Rennen sich die nötige Praxis geholt. Er war stark aus der Winterpause gekommen, aber Rennhärte konnte man einfach nicht ersetzen. Ohne Ergebnisse war er bei Paris-Nizza angetreten. Und hatte alle überrascht. Sein Prologsieg ging noch in Ordnung, aber als er diesem noch drei weitere Etappen folgen ließ waren die Erklärungen für seinen Leistungssprung knapp geworden. Überlegen fuhr er den Sieg bei der Rundfahrt nach Hause, der mit Abstand größte Triumph seiner Karriere.
War es sein früher Ausstieg im vorigen Herbst? Sein langer Winter, in dem er hart trainiert hatte? Seine neue Beziehung? Der neue Fitnesstrainer? Keiner konnte es sagen. Und noch bevor man sich von dem Schock erholt hatte ließ er den nächsten Paukenschlag folgen: Den Sieg bei Mailand-San Remo. Aus einer Spitzengruppe heraus war er der stärkste gewesen. Nach und nach waren seine Begleiter weggebröckelt und hatten ihn freigegeben, Einar Leif Pettersson, dem neuen Star am Klassikerhimmel.
Der Rummel um seine Person erreichte seinen Höhepunkt, und er legte eine Rennpause ein. Völliges Unverständnis machte sich breit. Seine grandiose Form hätte ihm noch weitere Siege einbringen können, beim Criterium International beispielsweise. Aber so plötzlich wie er über die Radsportszene hergefallen war so plötzlich zog er sich auch wieder zurück. Zurück nach Schweden, in die öden, kalten Weiten seiner Heimat. Und er trainierte. Sein Trainer reiste an und gemeinsam arbeiteten sie Tag für Tag. Etliche Bluttests, Leistungskontrollen, riesige Wände voll Diagrammen. Die Wohnung, in der sie hausten, war bald überschwemmt von all den Papieren auf denen Daten von ihm notiert waren.
Sie reisten in die Schweiz, zu einem Sportlabor. Die Wissenschaftler dort, verpflichtet zum Schweigen, führte an ihm einige andere Tests durch. Sein Trainer achtete streng darauf dass keiner der Forscher zu viele Informationen über den Leistungsstand seines Schützlings bekam. Seine wahre Form war ein Geheimnis.
Ein Geheimnis welches gelüftet wurde. Nach nur zwei weiteren Renntagen fuhr er in die Niederlande, zum Amstel Gold Race. Die Konkurrenz beäugte ihn misstrauisch, keiner wollte das Risiko eingehen ihn wieder weg zu lassen. So ließ er sich ziehen und sprintete am Schlussanstieg allen davon. Beim Wallonischen Pfeil dagegen war das Glück nicht auf seiner Seite: Eine Spitzengruppe nahm ihm jegliche Chance auf einen Sieg. In Lüttich rächte er sich dafür und schnappte sich das zweite Monument seiner Karriere. Es war vor allem eines: Monumental. Mit 26 Jahren schien er endlich angekommen. Die langen Jahre als Rundfahrer, sie waren gezählt. Als Klassikerfahrer lehrte er von nun an allen anderen das fürchten. Dachten zumindest alle.
Er begab sich mit seinem Trainer dagegen nach Frankreich. Und trainierte. Er fuhr die Etappen der diesjährigen Tour ab. Wieder und wieder. Und am Schluss, nach zwei Wochen harter Arbeit, waren sie sich sicher: Sie würden es versuchen. Er würde bei der Tour de France antreten. Und versuchen den Sieg zu erringen.
Er begrub den Kopf in seinen Händen. Weinte er? Seine Augen brannten. Langsam kullerte eine Träne die Wange hinab. Dann noch eine. Aus Reflex steckte er seine Zunge heraus, leckte an einer. Salzig. So viele Assoziationen kochten in ihm empor. Tränen. Niederlagen. Viele Niederlagen. Viele Enttäuschungen. Zu viele davon hatte er in seinem Leben erlebt. Noch als Junior war er gefeiert worden, sein Wechsel ins Profilager war eine Selbstverständlichkeit gewesen. Doch die Erfolge hatten auf sich warten lassen. So lange. Zu lange. Ausgezehrt von immer neuen Misserfolgen hatte er sich schließlich zu einem radikalen Schritt entschlossen. Seinem neuen Trainer. Und er schien recht behalten zu haben. Sein phänomenales Frühjahr. Die lange Trainingsphase hin zur Tour. Dann der Sieg bei der Dauphinee. Die Fachpresse hatte ihn endgültig zum Himmel gelobt. Und zum größten Anwärter auf den vakanten Thron der Tour erkoren.
Es hatte gut begonnen. Im Prolog zweiter. Zeitfahrsieg. Dann in den Bergen der endgültige Durchbruch: Nach einem gigantischen Solo über mehr als 50 Kilometer hatte er im gelben Trikot feiern dürfen. Mit schon mehr als vier Minuten Vorsprung. Und auch in den nächsten Tagen war niemand seiner gewachsen gewesen. Bis heute.
War es die lange Saison? Das etwas schlampige Grundlagentraining? Die Nervosität im Angesicht des Toursiegs? Oder war es der Besuch aus der Schweiz, der ausgeblieben war? Was auch immer schuld hatte, heute war sein Traum zerbröckelt: Auf der vorletzten Bergetappe, der Königsetappe, dem prädestinierten Schauplatz für seine Krönung, hatte er die schlimmste aller seiner Niederlagen erlebt. Schon den ganzen Tag fühlte er sich leer, kraftlos. Es war der schwache Tag den seine Konkurrenz immer herbei gesehnt hatte. Und er war hier. Die Farben wirkten blass, das Essen schmeckte ihm nicht, und dann, im Schlussanstieg, schien er auch das Radfahren verlernt zu haben. Wie so viele Tourhelden vor ihm brach er ein. Katastrophal. Einer nach dem anderen fuhren sie alle an ihm vorbei. Bald waren sogar drei Helfer aus seinem Team bei ihm und versuchten ihn den Berg hinauf zu treiben. Ohne Aussicht auf Erfolg. Er klebte förmlich auf der Straße. Seine Beine brannten längst, sein Akku war leer. Er aß und trank in einem fort, schon den ganzen Tag, aber es wurde einfach nicht besser. Geraden, die er vom Training her als kurz in Erinnerung hatte dehnten sich bis ins Unendliche. Der Fokus seines Blickes hing immer auf der nächsten Kurve, der nächsten Kehre, meist meilenweit voraus. Er nahm nichts wahr, nicht links, nicht rechts. Es war ein Spießrutenlauf, der Gang nach Golgatha. Die Juden standen links und rechts und spuckten auf ihn. Tonnenschwer hing das Kreuz auf seinen Schultern.
Schließlich erreichte er das Ziel. Mit über 18 Minuten Rückstand. Gelb war weg, das Podium in ernster Gefahr. Von seinen gigantischen Vorsprung von zwölf Minuten war nichts mehr übrig. Elend schleppte er sich ins Hotel, in sein Zimmer und brach weinend auf seinem Bett zusammen.
Er konnte nicht sagen wie lange er schon hier saß. Stunden? Minuten? Da klopfte es. Sein Trainer steckte den Kopf zur Tür herein und als er sah wie seinem Schützling zumute war schloss er die Tür und setzte sich neben ihn aufs Bett. Einige aufmunternde Worte fielen. Er reichte ihm einen Teller mit Nudeln, die er von unten herauf gebracht hatte. Legte seinen Arm um seine Schultern. Und flüsterte ihm die gute Nachricht ins Ohr.
Einar drehte sich um. Sah ihn an. Sollte es ein Scherz sein? Mit einem Mal war er wie in einer anderen Welt. Die Trauer vergessen. Die Niederlage weit entfernt. Er fiel ihm um den Hals.
„Wann?“
Statt einer Antwort lächelte sein Trainer nur. Jetzt sofort.

Der nächste Tag bot ein völlig verändertes Bild. Statt 18 Minuten, die er verloren hatte dachte er nur noch an eine Zahl: 5:48 Minuten. Das war sein Rückstand nach vorne. Das Profil, welches ihn gestern noch zu verhöhnen schien, war heute auf einmal sein Freund.
Vom Start weg war er wieder der Alte. Übermütig hangelte er sich im Feld von hinten nach vorne, beäugte die anderen Fahrer und grinste in die Kameras. Seine Mannschaft wurde von seiner guten Laune angesteckt und entfachte schon am ersten Anstieg des Tages ein Höllentempo. Die Gegner hatten nicht die Zeit darüber nachzudenken, was er im Schilde führte. Sein plötzlicher Wandel war offensichtlich, seine wahre Stärke jedoch noch nicht. Die heutige Etappe führte sie erst über den Galibier, dann über den Madelaine. Zwei der größten Berge der Tour. Und der Respekt fehlte ihm eindeutig: Einige Kilometer vor dem Gipfel des Galibier griff er an. Sofort sprangen zahlreiche Fahrer ihm nach. Das Gelbe Trikot jedoch verharrte im Feld. Die Schwergewichte im Klassement gingen das Risiko nicht ein, vertrauten vielmehr auf ihre Teams.
Zu Unrecht. Die lange Leine, an der man ihn führen wollte, wurde mehr und mehr gedehnt. Über den Gipfel hatte er zwei Minute heraus gefahren. Im Laufe des langen Abstiegs und der Fahrt hin zum Fuße des Madelaine profitierte Pettersson von seiner Entscheidung, seine Fluchthelfer am Galibier nicht hinzurichten. Gemeinsam trotzen sie im Wind dem Feld noch eine weitere Minute ab. Dann ging es in den Anstieg hinein.
Dem Madelaine folgte nur ein kurzes Flachstück, das würde ihm nicht mehr all zu viel Zeit kosten. So blieb ihm also nur noch ein Berg, eine einzige Steigung, um den Toursieg doch noch zu holen, um das Schicksal herum zu drehen, welches ihn gestern so schändlich betrogen hatte.
Und er schaffte es. Mit etwas über fünf Minuten Vorsprung erreichte er das Ziel, die jagende Meute weit zurück geschlagen. Und während er gestern vom Rad geplumpst war und sich kaum mehr bewegen konnte so sprang er heute zwischen den Journalisten herum, als wolle er die Etappe am liebsten noch einmal fahren.
Die wenigen Sekunden die ihn noch vom ersten Platz der Gesamtwertung trennten holte er sich im Zeitfahren. Ein wenig war das Duell heraufbeschworen worden, das sich anbahnte. Aber Einars Zeitfahrstärke machte allen Überlegungen ein Ende: Mit einem weiteren Etappensieg holte er sich das zurück, was seines war.
Als er schließlich auch in Paris das Podium erklomm, den Blumenstrauß in den Himmel stemmte, da erinnerten sich alle zurück. Zurück an diese eine Etappe, auf der er Schwäche gezeigt hatte. An den Moment, als er mit weißem Gesicht und in Schlangenlinien ins Ziel getorkelt war, vom Rad stürzte und die Augen anklagend gen Himmel richtete.
Was hatte ihn am nächsten Tag zu diesem phänomenalen Ritt getrieben? Woher hatte er die Kraft genommen? War es die Gier nach Rache? Das Vertrauen auf die vielen großen Erfolge, die er dieses Jahr schon verbucht hatte? War seine Freundin vielleicht zu Besuch gekommen und hatte ihn angespornt? Oder war es hmmm... hmmm... hmmm...

na, was macht man am samstag wenn einem langweilig ist und man keinen bock auf differentialgleichungen hat? richtig... nicht überbewerten die geschichte, ist eher auf diese eine idee gebaut. und mal wieder ne fingerübung ;)



EDIT by Grabba: Externe Verlinkung der Geschichte in ihrer Originalform
Zuletzt geändert von arkon am 3.11.2008 - 18:41, insgesamt 1-mal geändert.
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RotRigo
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Beitrag: # 6743234Beitrag RotRigo
3.11.2008 - 14:47

Och arkon. Muss nicht sein, oder? You know the rules. Das ist ne direkte Andeutung, hm? Was mach ich jetzt damit?

Übrigens: Ich weiß, dass es eigentlich lächerlich ist, aber was soll ich machen? Doping ist tabu - auch wenn es bei einer solch fiktiven Person und ohne einen anderen Namen zu nennen natürlich problemlos ginge. Aber Regeln sind Regeln...

Also: Streich am besten einfach den letzten Satz - auch wenn der natürlich der Aufhänger deiner gesamten Geschichte ist. Sorry.

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arkon
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Beitrag: # 6743287Beitrag arkon
3.11.2008 - 18:42

oha, das böse d-wort. ich doch nicht. es geht um medizinische fachbetreuung. um revolutionäre trainingspraxis. weiß doch jeder ;).
zum einen geht es mir genau um die regel und zum anderen hatte ich den titel beim posten nur vergessen. dummdidumm...
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Valverde3007
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Beitrag: # 6743602Beitrag Valverde3007
5.11.2008 - 15:25

Wenn Menschen sich vergessen

Noch drei Runden. Angespannt suchte er den Blickkontakt zu seinem großen Konkurrenten. Dieser fuhr neben ihm im Windschatten ihrer Teamkollegen den Anstieg des heutigen Rennens hinauf. Es war Gino Grosso, das Idol der im Norden Italiens lebenden Radsportfans. Als Sohn eines Bankiers, hatte er ein wohlbehütetes Leben führen und sich ganz auf den Radsport konzentrieren können. Mit 25 Jahren hatte er mit Mailand- San Remo sein erstes Monument gewonnen, dem viele Erfolge bei renommierten Klassikern folgten. Spätestens seine drei Girosiege in Folge und sein Weltmeistertitel im vorletzten Jahr hatten ihn zur Legende gemacht. Doch er war bereits 33 Jahre alt und im letzten Jahr war er das erste mal geschlagen worden. Der junge 24-jährige Fausto Esposito, ein Findelkind aus Sizilien war urplötzlich auf der Bildfläche der großen aufgetaucht und hatte nach mehreren kleinen Erfolgen in seiner Debütsaison auf einen Schlag Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Lombardeirundfahrt gewonnen. Das hatte ihm einen Startplatz bei den Weltmeisterschaften verschafft, wo er es auf sensationelle Weise geschafft hatte, seinen Teamkapitän Grosso im Sprint einer kleinen Spitzengruppe zu schlagen und ihm die Titelverteidigung zu verwehren. Diese Majestätsbeleidigung hatte zu seiner Spaltung der Tifosi geführt. Die nördlichen, die zum Altmeister Grosso hielten und auf der anderen Seite die südlichen, die den schmächtigen, jungen Esposito verehrten. Diese Konkurrenz hatte im Frühjahr zu Spannungen geführt. Schließlich wurden aber beide zur WM nominiert, nachdem Grosso das Amstel Gold Race und Mailand- San Remo und Esposito Lüttich-Bastogne-Lüttich und das olympische Straßenrennen gewonnen hatte.

Im Anschluss kämpften sie um die Kapitänsrolle der Nationalmannschaft. Beide gewannen im Herbst so viele Rennen wie noch nie und verbreiteten über die Medien Hassbotschaften gegenüber dem anderen. Jede Möglichkeit, die sich bot um den anderen anzugreifen nutzten sie. Fausto verspottete Gino als alten Mann, der schon langsam fett wurde. Er sprach ihm das Talent ab und begründete seine Karriere mit dem guten Elternhaus. Gino, der sich in seiner Karriere stets als Gentleman gegeben hatte, konnte diese Anfeindungen nicht so über sich ergehen lassen und schoss in regelmäßigen Anständen zurück. Er erklärte, Fausto sei ein frustriertes Findelkind, das durch lächerliche Interviews Aufmerksamkeit erlangen wollte, weil er sportlich noch nicht an den großen Star des italienischen Radsports herankam. Außerdem stellte er die Theorie auf, dass Fausto die viele Sonne im Süden Italiens nicht gut bekommen sei. So wechselten sich über Wochen gehässige Kommentare und abschätzige Kommentare ab, was die beiden Fanlager noch weiter auseinander brachte. Bei der Weltmeisterschaft zweifelten viele daran, dass eine Mannschaft mit den beiden Streithähnen Erfolg haben könne.

Für die europäische Öffentlichkeit waren sie trotz der Streitereien die beiden die ganz klaren Topfavoriten für die diesjährige Weltmeisterschaft und es war klar, dass die beiden sich nur selber schlagen konnten. Ihre Gegner hatten Angst vor der Union der beiden besten Klassikerfahrer des Planeten unter dem Nationaltrainer Italiens, der es bisher immer geschafft hatte viele Stars unter einem Dach zu vereinen und ein Team aus ihnen zu formen. Doch im Lager der Italiener hatte es weiterhin Unstimmigkeiten gegeben. Ihr Nationaltrainer wollte für Fausto fahren, die alt eingesessenen Fahrer für Gino. Der junge Fausto eckte mit seiner Unbekümmertheit an und die Tatsache, dass er drei Helfer für das Aufgebot bestimmt hatte, ließ die alten um ihren Platz fürchten. In der Vorbereitung auf das Rennen hatten sie lange gestritten, dennoch hatte es keine Einigkeit gegeben. So standen für Italien sozusagen zwei Teams an dem Start, vier Helfer für Gino, drei für Fausto. Im Rennen mussten sie trotzdem zusammenarbeiten, weil die anderen Teams die Verantwortung auf sie, die beiden Topfavoriten abschoben.

Doch die Zusammenarbeit klappte nicht gut und jetzt in der drittletzten Runde hatten die beiden jeweils nur noch einen Helfer an ihrer Seite. Zwangsläufig mussten sie bald die Initiative ergreifen. Die beste Gelegenheit würde sich dazu am schweren Anstieg nach der Hälfte des 25 Kilometer langen Rundkurses bieten, eine zweite Möglichkeit könnte der letzte Hügel vier Kilometer vor dem Ziel bieten. Über diesen Hügel fuhren sie jetzt zum drittletzten mal, Seite an Seite, schnaufend, gekennzeichnet von den bereits absolvierten knapp 200 Kilometern. Aus dem Augenwinkel sah Fausto, wie Gino in den Wiegetritt ging und die Trittfrequenz erhöhte. War es ein Angriff? Oder doch nur ein erstes Antesten? Er wollte nichts riskieren und setzte sofort nach. Auf der Kuppe hatte er seinen Kontrahenten eingeholt und hängte sich an sein Hinterrad. Aber er ging nicht vorbei in die Führung, im Gegenteil beschränkte er sich darauf, seinen größten Gegner zu neutralisieren. Keinen einzigen Meter Führungsarbeit konnte man von ihm sehen, was Gino sichtlich verärgerte. Er machte eine wüste Geste in Faustos Richtung und richtete sich auf, damit die Verfolger wieder an sie heranfahren könnten. Die erste Offensive war neutralisiert, eine zwanzigköpfige Spitzengruppe machte sich gemeinsam auf die letzten zwei Runden.

Noch zwei Runden. Die beiden italienischen Edelhelfer hatten den Sprung in die neue aufgefüllte Spitzengruppe auch geschafft und setzten sich jetzt an die Spitze um die Angriffe der Franzosen und Belgier abzuwehren. Sie legten ein enorm hohes Tempo vor und schafften es die Gruppe bis zum Hügel zusammenhalten. Hier ging das Rennen los. Gleich zu Beginn der Steigung scherten die Tempomacher aus und überließen den Kapitänen das Feld. Und diesmal war es Fausto, der als erstes attackierte. In seinem unnachahmlichen Stil beschleunigte er mit hoher Frequenz in den steilsten Abschnitt des Anstieges herein. Links und rechts sah er die Bäume an sich vorbeikommen, sie würden ihm auf der kurvenreichen Strecke einen idealen Sichtschutz nach hinten bieten. Einige Meter zog er durch, bis seine Beine langsam schwerer wurden und blickte sich dann kurz über die Schulter um. Das was er sah, schockierte ihn. Gino befand sich immer noch scheinbar mühelos an seinem Hinterrad und hatte die Situation weiterhin unter Kontrolle. Er fuhr weiterhin im Sitzen und verzog keine Miene. Nach einer kurzen Verschnaufpause konterte er und fuhr seinerseits an Fausto vorbei. Gleich setzte er nach und klemmte sich an das Hinterrad seines Kontrahenten. So wechselten sich die Angriffe ab, mal ging Gino, dann wieder Fausto und zwischendurch kurze Augenblicke wo beide sich argwöhnisch beäugten, bis einer die nächste Attacke setzen. Es gab kaum eine Verschnaufpause bis kurz vor dem Gipfel, als Fausto sich schon mit Gedanken auf die Abfahrt begab.

Gino nutzte den Moment der Unentschlossenheit von Fausto und trat noch einmal vor der Kuppe an. Mit letzter Kraft zog er über den Kulminationspunkt und siehe da, er hatte eine Lücke gerissen und Fausto abgehängt. Aber er bekam sofort die Quittung. Laktat schoss ihm in die Beine, er hatte Glück, dass er sich jetzt auf der Abfahrt befand. Diese bot eine ähnlich starke Bewaldung wie der Anstieg und es gab ebenso viele Kurven. Eigentlich eine ideale Situation für einen Ausreißer. Sein Problem war, dass er sich doch etwas übernommen hatte und jetzt ganz schlecht mit dem schnellen Antreten hinter den Kurven zu Recht kam. Als er wieder im ebenen angelangt war, hatte er sich schon wieder halbwegs gut erholt, dafür hatte er jetzt ein anderes Problem, sein junger Gegner hatte den Anschluss wieder gefunden und weigerte sich Arbeit zu leisten. Frustriert schlug Gino auf den Lenker, aber die Pace würde er nicht machen, auch nicht für seinen Landsmann.

Fausto raste die Abfahrt hinunter. Mi einer nicht gesunden Lenkerposition versuchte er auf höchstmögliche Geschwindigkeit zu kommen. Er schoss um eine S-Kurve und siehe da, sein Kontrahent befand sich direkt vor ihm. Er holte ihn ein und setzte sich an sein Hinterrad. Arbeit wollte er aber nicht leisten. Die Gelegenheit eines leichten Sieges wollte er Gino nicht bieten. Auch der wütende Nationaltrainer, der jetzt neben ihnen fuhr, konnte die beiden nicht zur Zusammenarbeit bewegen und so schmolz ihr Vorsprung von Kilometer zu Kilometer wieder zusammen. Am kleinen Hügel kurz vor dem Zielstrich wurden sie auch diesmal wieder eingeholt, nun von drei Fahrern aus drei Nationen, Deutschland, Frankreich und Spanien. Die drei Verfolger arbeiteten gut zusammen und versuchten gleich die Italiener abzuschütteln. Gino und Fausto waren immer noch auf ihre Privatfehde konzentriert und ließen die anderen ziehen. Einer nach dem anderen attackierte und bald befanden sich alle drei auf der Flucht.

Noch eine Runde. Immer noch wollte keiner der beiden die Führung übernehmen, bis der Vorsprung Gino zu groß wurde. Langsam wurde er nervös, irgendetwas müsste passieren. Wenn sie so weiterfuhren, würde keiner von ihnen Weltmeister werden und sie würden sich zum Gespött des gesamten Radsportzirkus machen, mit den beiden besten Fahrern nicht gewonnen zu haben. Wenn er aber attackieren würde, würde Fausto so lange an seinem Hinterrad bleiben, bis sich die Gelegenheit bieten würde, seinen dann ausgepowerten Gegner zu distanzieren. Angriffe könnte er seinerseits leicht abwehren. Also blieb nur eine Möglichkeit. Er gab Fausto ein Zeichen, worauf dieser heranfuhr. „Jetzt müssen wir zusammenarbeiten, vergiss die Rivalitäten. Wir fahren immer noch für Italien. Wenn wir zusammen auf die Zielgerade kommen, können wir wieder taktieren.“ Fausto sagte kein Wort, er nickte nur.

Fausto hatte den Ernst der Lage begriffen. Hier ging es nicht mehr um die Konkurrenz. Beide müssten ihren Schatten überwinden um ihr Ziel zu erreichen. In Zeiten des Kampfes musste man sich auch mit seinem Gegner verbünden um gewinnen zu können. Gemeinsam hätten die beiden keine Probleme jeden Fahrer der Welt zu besiegen. Aber wichtiger noch, sie mussten ihr Ego besiegen. Alleine waren sie nur die Hälfte Wert und würden es nicht gegen Kontrahenten aus anderen und der eigenen Mannschaft durchsetzen können. Eine Zusammenarbeit war unabdingbar. Das hatten sie eingesehen und deshalb arbeiteten sie jetzt zusammen für ihr gemeinsames großes Ziel. Sie würden beide mit vollem Einsatz fahren und am Ende würde der bessere gewinnen.

Augenblicklich begannen die beiden fantastisch zu harmonieren. In den nächsten Minuten konnte man eindeutig sehen, dass hier die beiden wohl besten Klassikerfahrer ihrer Zeit zusammenarbeiteten. Kilometer um Kilometer gewannen sie an Zeit zurück und nach und nach schluckten sie erst den deutschen und dann den Franzosen. Als sie dann in den Anstieg fuhren, sahen sie bereits den Spanier. Aber es war erneut eine Veränderung in der Fahrweise der beiden zu sehen, sie wechselten sich nicht mehr ab, sondern fuhren jetzt Schulter an Schulter nebeneinander. Mit angespannten Gesichtern drückten sie einen hohen Gang den Berg hinauf. Hinter ihnen mussten nach und nach die beiden anderen abreißen lassen. Das Tempo war höllisch hoch und bald fiel ihnen auch der Spanier zum Opfer.

Sie erreichten den Spitzenreiter und ließen ihn gleich wieder hinter sich zurück. An den steilen Stücken des Kurses besaß niemand ansatzweise die Möglichkeit den zwei Italienern zu folgen. Auf den letzten zwei Kilometern des Hügels sah man ein Bild, das man so schon einmal gesehen hatte, niemand entschlossen anzugreifen, beide konzentrierten sich darauf, ein hohes Tempo anzuschlagen. Ab jetzt würde jeder auf eigene Kappe fahren, sein eigenes Rennen mit allen Kräften, die er noch mobilisieren konnte. Jetzt zählte keine Taktik mehr, nur noch Kampf. Meter für Meter kämpften sie sich weiter, schwer schnaufend, am Limit, aber entschlossen dagegen zu halten. Niemand wollte seine Fans enttäuschen, niemand wollte dem Konkurrenten auch nur eine Reifenbreite Vorsprung gewähren. Jetzt ging es nur noch um das reine fahrerische Können, jetzt schoben sie die Eitelkeiten mehr, nur noch die reine Leistung war wichtig. Diese WM würde nicht durch taktische Spielereien gewonnen werden, am Ende würde der stärkste auf dem Podest ganz oben stehen. Fausto ging aus dem Sattel, versuchte weiter zu beschleunigen. Aber Gino hielt dagegen. Er schaltete einen Gang hoch und stampfte den Berg hoch. Das Rennen bot jetzt ein nie da gewesenes Maß an Dramatik. Der Hügel wurde so schnell wie nie im Verlauf des Rennens gefahren, aber die epische Renngestaltung ließ die Zeit stehen. Man sah den kompletten Anstieg dasselbe Bild. Einmal gewann Fausto einen Meter, dann holte sich Gino zwei zurück, aber sie blieben schließlich gleichauf. Es war ein Duell zweier Giganten, zweier ebenbürtiger Giganten.

Beide befanden sich auf einem Niveau, bis zum Gipfel blieben sie zusammen. Doch auch trotz des gleich bleibenden Abstandes hatte sich etwas verändert. Die beiden arbeiteten auch in der Abfahrt und im flachen still zusammen, sie hatten am Berg einsehen müssen, dass sie gleichstark waren. Sie hatten ihr Duell gefahren und mussten einsehen, dass es keinen Sieger gab. Jetzt wollten sie gemeinsam weiter fahren und sich durch persönliche Abneigungen nicht die Medaillen kosten. Wie aus einem Guss bestimmten sie das Rennen von der Spitze, keiner schaffte es ihnen zu folgen. Im Zusammenspiel bildeten sie ein unschlagbares Duo. Auch den letzten Anstieg nahmen sie mit Leichtigkeit.

Auf der folgenden Abfahrt passierte das unfassbare, Fausto hatte eine Reifenpanne. Jetzt würde Ginos Angriff kommen, jetzt müsste er kommen. Wütend schmiss Fausto seine Maschine fort, zwar bekam er sofort eine neue gereicht, aber der Wechsel hatte Zeit gekostet. Wütend trat er in die Pedale, beschleunigte wieder. Bis er auf Tempo kam, musste Gino schon ewig weit weg sein. Tränen schossen ihm in die Augen, er hatte das Duell am Berg offen gehalten und sollte jetzt durch einen technischen Defekt zurückfallen? Das war ungerecht, das durfte er nicht zulassen. Mit dem Mut der Verzweiflung gab er alles um zu Gino aufzuschließen. Durch die kurvige Abfahrt raste er wie ein Falke. Unten angekommen sah er Gino dann auch vor sich. Der Altmeister hatte gewartet und schaute sich nach Fausto um. Er hielt ihm die Hand hin und erkundigte sich nach seinem Wohlergehen. Aber Fausto antwortete nicht, er übernahm einfach die Führungsarbeit.

Schließlich erreichten sie die Zielgerade. Fausto fuhr zu Gino auf und sah ihn fragend an. Gino blickte unentschlossen zurück. Da beschloss der jüngere der beiden die Entscheidung zu treffen. „Hol dir den Sieg. Du hast nicht mehr so viele Chancen wie ich auf diesen Titel. Außerdem hättest du ihn dir holen können, wenn du nicht gewartet hättest.“ Er nickt ihm erneut zu. Gino nahm das zum Anlass die Führung zu übernehmen. Fünfzig Meter vor dem Ziel glaubte er schon, dass Fausto seine Versprechen brechen wollte, aber dieser fuhr nur neben ihn, nahm seine Hand und streckte sie in die Höhe. Es war ein Bild für die Götter. Im Schein der Abendsonne fuhren sie in nie da gewesener Eintracht jubelnd ins Ziel. Sie hatten ihren größten Feind überwunden, sich selber. Sie hatten sich gegen ihre persönliche Fehde und für ihr Land entschieden.

Als bei der Siegerehrung die italienische Hymne erklang, konnte man bei beiden Freudentränen im Gesicht sehen. Als Gino das Weltmeistertrikot dann übergestreift bekommen hatte, drehte er sich zu Fausto um und umarmte ihn. Er sagte nur: „Du weißt, dass wir nächste Saison wieder Gegner sein werden. Aber bei der WM werde ich mich revanchieren und für dich fahren.“ Auch wenn die tiefe Rivalität nicht beendet war, hatte das Rennen die beiden doch auf eine andere Stufe gebracht. Neid und Hass hatten sie überwunden, Respekt und Freundschaft geschaffen.

Bei so viel Fingerübung in den letzten Tagen, habe ich auch mal was kleines erstellt. Wenn ich mal mehr Zeit habe, überarbeite ich das ganze vielleicht noch ein bisschen.
PS: Über Bewertungen, Anregungen, Kritik würde ich mich sehr freuen. Die nächste Kurzgeschichte ist schon in Arbeit und man möchte sich ja immer verbessern.

Valverde3007
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Beitrag: # 6749021Beitrag Valverde3007
17.12.2008 - 20:28

Das Opfer

John Maynard!
"Wer ist John Maynard?"
"John Maynard war unser Steuermann,
Aus hielt er, bis er das Ufer gewann,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard."

Heute war der Tag der letzten schweren Bergetappe. Nach drei Wochen Schufterei trug er, Alexis Pinera, nun das gepunktete Trikot auf den Schultern und musste nur noch drei Pässe überwinden um die Bergwertung der Rundfahrt zu gewinnen. Die letzte Bergetappe galt als relativ einfach im Gegensatz zu den Strapazen der letzten Wochen. Erst wurde ein kleinerer Berg überfahren und dann endete der Tagesabschnitt mit einer Bergankunft. Im Gesamtklassement lag sein Freund und Kapitän Francisco Gonzales an der ersten Position und gemeinsam mit ihm könnte er heute den Lohn der Mühen ernten und dem Team, das zum Ende des Jahres den Sponsor verlieren würde, ein wunderschönes Abschiedsgeschenk machen. Vielleicht würde sich ja für das Team eines Toursiegers ein Sponsor finden. Aber die Verfolger waren nicht fern. Die ersten drei in der Gesamtwertung lagen nur wenige Sekunden auseinander und auch in der Bergwertung trennten ihn nur wenige Punkte vom Zweitplatzierten. Heute müssten sie wachsam sein, denn ihre Gegner würden alles versuchen um ihre Übermacht zu brechen.

Die "Schwalbe" fliegt über den Erie-See,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee;
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo -
Die Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere mit Kindern und Fraun
Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: "Wie weit noch, Steuermann?"
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
"Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund."

Sie hatten den ersten Berg ohne Mühe überstanden und näherten sich jetzt dem Schlussanstieg. Er erkundigte sich bei Oscar, ihrem sportlichen Leiter, nach dem aktuellen Renngeschehen. Vorne fuhr eine kleine Ausreißergruppe, die bald eingeholt werden würde. Es war also ihr Rennen, das Rennen der Favoriten. Kein Außenseiter würde heute das Rennen verfälschen. Es wurde Mann gegen Mann gefahren und der stärkere würde siegen. Der Stärkere, das konnte nur einer sein: Francisco. Voller Euphorie und Selbstvertrauen nahmen sie die ersten Rampen des Anstieges in Angriff.

Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei -
Da klingt's aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
"Feuer!" war es, was da klang,
Ein Qualm aus Kajüt und Luke drang,
Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.

Sie befanden sich jetzt mitten im Anstieg. Mittlerweile hatte sich die Gruppe stark ausgedünnt, nur noch die absoluten Favoriten konnten hier mitfahren. Vor einigen Minuten hatte sich der letzte Helfer aus ihrer Mannschaft verabschiedet und Alexis hatte keine Sekunde gezögert, dem Wunsch seines Kapitäns nachzugehen und die Führung zu übernehmen. Er versuchte jetzt die monotone Arbeit so gut wie möglich durchzuführen, weit war es ja nicht mehr bis ins Tagesziel, bis zu ihrem Ziel. Da griff der erste Fahrer an. Ivan Pulyakov, der russische Mitfavorit und ihr Hauptkonkurrent, griff an. Er lag sowohl in der Punkte- als auch in der Gesamtwertung nur Sekunden hinter ihm und Francisco und stellte deshalb eine ernstzunehmende Gefahr dar. Sofort stieg er hinterher, bis er hinter sich Rufe hörte, die der keuchende Francisco von sich gab. Er konnte nicht schneller, war nicht in der Lage Pulyakovs Tempo zu halten. Alexis schaute nach dem Abstand zur Ziellinie. Sieben Kilometer, noch zwanzig Minuten. Sollte er seinem Kapitän helfen und den Rundfahrtsieg retten oder sollte er nachsetzen und sein Bergtrikot sichern?

Und die Passagiere, bunt gemengt,
Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
Am Steuer aber lagert sich´s dicht,
Und ein Jammern wird laut: "Wo sind wir? wo?"
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. –

Er hatte sich entschieden, seinem Kapitän beizustehen. Auch wenn der Russe in dieser Konstellation ins Bergtrikot fahren würde, konnte er den Sieg des Teams, die Freundschaft zwischen Francisco und ihm nicht aufs Spiel setzen. Er spielte jetzt die Lokomotive für seinen leidenden Anführer. Die wenigen Sekunden, die ihnen noch blieben mussten sie jetzt verteidigen, aber Francisco schien im Moment alleine nicht mehr dazu in der Lage. Alexis legte jetzt noch einen Zahn zu, fuhr das maximale Tempo, das Francisco mitgehen konnte. Aber sie waren nicht schnell genug um den Russen einzuholen. Doch, da vorne erschien er wieder zwischen der dichten Bewaldung des Schlussanstieges. Sie könnten ihn noch erreichen. Aber es waren nur noch fünf Kilometer, fünfzehn Minuten.

Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
Der Kapitän nach dem Steuer späht,
Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
Aber durchs Sprachrohr fragt er an:
"Noch da, John Maynard?"
"Ja,Herr. Ich bin."

Er gab jetzt alles. Während Francisco sich hinter ihm wieder stabilisierte und jetzt noch verborgene Reserven freisetzen konnte, bekam Alexis schwere Beine. Er schnappte nach Luft, aber es wollte dennoch nicht genügend Sauerstoff in seine Lunge kommen um seine übersäuerten Muskeln befriedigen zu können. Franciscos Stimme klang jetzt wieder kräftiger, als er sich nach dem Wohlbefinden seines edelsten Helfers erkundigte und fragte, ob er noch eine Schippe drauflegen könnte. Auch wenn er sich körperlich gar nicht mehr in der Lage dazu fühlte, schaffte Alexis es, durch puren Willen die Kadenz zu erhöhen und zu beschleunigen. Er musste den Russen erreichen, koste es was es wolle. Sie hatten alle anderen abgehängt, was bedeutete, dass er im Moment mindestens auf dem dritten Rang lag. Das würde für das Bergtrikot reichen. Also konnte er alle seine Kräfte in die viel wichtigere Mission stecken.

"Auf den Strand! In die Brandung!"
"Ich halte drauf hin."
Und das Schiffsvolk jubelt: "Halt aus! Hallo!"
Und noch zehn Minuten bis Buffalo. - -

Francisco wurde jetzt wieder richtig aktiv und gemeinsam mit ihrem sportlichen Leiter pushte er Alexis wieder nach vorne. Er hatte jetzt beinahe das Hinterrad des Russen erreicht. Nur noch wenige Meter trennten den Führenden von den beiden Spaniern. Und der Abstand schien kleiner zu werden. Alexis trat jetzt mit voller Kraft in die Pedalen. Er unterdrückte den Schmerz in seinen Muskeln, der ihn immer mehr zu übermannen drohte und hielt das Tempo, hielt den Kurs auf das gelbe Trikot. Den Verdienst der vielen Arbeit ließ er sich heute nicht mehr nehmen. Drei Kilometer hatte er noch zu bewältigen, zehn Minuten bis ins Ziel.

"Noch da, John Maynard?" Und Antwort schallt's
Mit ersterbender Stimme: "Ja, Herr, ich halt's!"
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
Jagt er die "Schwalbe" mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!

Er hatte ihn beinahe den Anschluss geschafft. Wenige Meter und er wäre dran. Mit einem letzten Schrei vor Schmerz und Aggression wuchtete er sein Fahrrad vorwärts die steilen Rampen hinauf. Seine Kehle war jetzt aufgedorrt, die Zunge baumelte aus seinem Mund. Er musste das Loch schließen. Ein weiterer Versuch die Frequenz zu erhöhen scheiterte, aber er hatte Francisco nahe genug an Pulyakov herangebracht. Das letzte was er sah, war dass sein Kapitän mühelos an den Russen heranfuhr. Dann verschwanden sie um die nächste Kurve. Er schaltete mehrere Gänge herunter, aber er schaffte es nicht einen von ihnen durchzutreten. Als er die Kurve durchfahren hatte, sah er von den Führenden bereits nichts mehr, jetzt musste Francisco alleine weiterkämpfen.

Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!

Francisco Gonzales konnte sich nachdem er an Pulyakov herangekommen war direkt wieder absetzen und mit einem kleinen aber sicheren Vorsprung die Etappe und damit die Rundfahrt gewinnen. Jetzt wartete er im Ziel auf seinen treuen Helfer, der ihm diesen Sieg ermöglicht hatte. Doch nach und nach kamen andere Fahrer ins Ziel, doch Alexis fehlte. Erst zweieinhalb Minuten nach Franciscos Zielankunft kam sein Freund ins Ziel, erschöpft und geschlagen.

Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell'n
Himmelan aus Kirchen und Kapell'n,
Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
Ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
Und kein Aug' im Zuge, das tränenleer.

Als Alexis die Ziellinie überfuhr, wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Francisco hatte die Rundfahrt gewonnen, aber weil er durchgereicht worden war, ging das Bergtrikot jetzt an den Russen. Seine Trophäe, für die er im Gebirge gekämpft hatte, war verloren, weil er sich für seinen Kapitän, für das ganze Team geopfert hatte, damit es vielleicht eine Zukunft hätte. Er hatte sein eigenes Glück für die anderen aufgegeben. Aber selber hatte er davon nichts. Nur dieses dumpfe Gefühl der Enttäuschung.

Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
Mit Blumen schließen sie das Grab,
Und mit goldner Schrift in den Marmorstein
Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
"Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
Hielt er das Steuer fest in der Hand,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard."

Bei der Siegerehrung weigerte sich Francisco sein Trikot überzustreifen. Stattdessen forderte er Alexis dazu auf, das Podest zu betreten. Mit verheultem Gesicht kam diese zu seinem Kapitän und bekam das Trikot in die Hand gedrückt. Das war alles, was Francisco für seinen Freund tun konnte. Es war zwar nur symbolisch, aber er wusste, was er Alexis schuldig war. Den konnte die Aktion aber nicht aufheitern. Weiter flossen seine Tränen und mit ihnen die Tränen der Zuschauer. Er hatte das Rennen verloren, aber die Herzen der Radsportfans gewonnen. Er hatte ihnen gezeigt, dass nicht Siege im Vordergrund standen, sondern die Menschlichkeit, die Freundschaft zweier Menschen.

Was so alles aus Langeweile entstehen kann. Das ist mal eine neue Form einer Kurzgeschichte, aber ein bisschen Bildung tut ja gar nicht schlecht, also darf man auch einmal John Maynard lesen. Kritik oder Lob sind weiterhin erwünscht, auch wenn ich das dieses mal nur in einem Rutsch heruntergeschrieben habe und die Ausschmückung etwas fehlt. Aber das ist meiner Meinung nach hier auch nicht so wichtig. Die Intention zählt. :D Und mal sehen, vielleicht bringt der Weihnachtsmann hier auch noch etwas vorbei.

Andy92
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Beitrag: # 6749024Beitrag Andy92
17.12.2008 - 21:51

Die Idee ist echt gut. Schöne Kurzgeschichte. Ach ja, das Gedicht kenne ich bereits schon ein paar Jahre. :D
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Fus87
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Beitrag: # 6749028Beitrag Fus87
17.12.2008 - 22:07

Für "in einem Rutsch runtergeschrieben" ist das richtig gut. Genau so muss Radsport sein!
Ich finde, die Ausschmückung fehlt nicht - die Geschichte gibt das wieder, was wiedergegeben werden muss - nicht mehr und nicht weniger.

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arkon
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Beitrag: # 6749064Beitrag arkon
18.12.2008 - 10:57

ich finde, die ausschmückung fehlt nicht, aber die sprache. die idee ist sehr löblich, vor allem meinen absoluten helden fontane herzunehmen... ;). aber die umsetzung... seeehr vorhersehbar, gerade wenn man die geschichte schon kennt, und leider nicht sehr packend geschrieben. die ersten absätze waren noch echt gut, zum schluss hin ist es leider ein rennbericht wie tausend andere auch.
wer keine ahnung hat - einfach mal die fresse halten

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Grabba
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Beitrag: # 6749116Beitrag Grabba
18.12.2008 - 16:40

Bei mir löst das Ende, so wie es geschrieben ist, Gänsehaut aus. Das ist halt eine Geschichte, wo Spannung nicht im Vordergrund steht. Deshalb ist es mir egal, ob sie vorhersehbar ist oder nicht. Die Überdeckung mit dem Gedicht ist... fabelhaft. Wirklich ein toller Kurzweil, so wie es eine solche Kurzgeschichte sein sollte. Danke dafür. :)

"das Gedicht kenne ich bereits schon ein paar Jahre."
Das sollte man allerdings auch.

Andy92
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Beitrag: # 6749122Beitrag Andy92
18.12.2008 - 17:36

Ja, von der Schule halt - bin ja erst 16. Haben wir in der achten Klasse mal in ein oder zwei Stunden behandelt (unter irgendeiner Thematik) - da war ich also 14. 8)
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Valverde3007
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Beitrag: # 6803370Beitrag Valverde3007
5.2.2010 - 4:37

Grenzen

„Du würdest alles für dein Land tun? Du würdest für dein Land sterben?“
„Natürlich würde ich das.“
„Dann weißt du, was zu tun ist?“
„Ich werde Alejandro unterstützen, bis zur letzten Runde. Ohne Rücksicht auf Verluste.“
Pedro wandte seinen Blick beschämt ab. Sein Teamchef hatte die Grenzen klar bestimmt. Seine Aufgabe war es allein, Alejandro zum Sieg zu führen, alles andere war unwichtig. Er war zwar in einem französischen Team angestellt, doch das war zweitrangig. Mit den Farben Spaniens auf dem Trikot musste er alle Freundschaften außerhalb seiner Nation aufgeben, nun zählte nur mehr sein Land, seine Nation, sein Herz. Es war ein Weltmeistertitel zu gewinnen und dabei zählte nicht seine persönliche Meinung und seine Zuneigung zu Menschen, die er zu seinen Freunden zählte, sondern nur das Interesse seiner Nation. Alejandro sollte gewinnen und die ruhmreiche Titelsammlung Spaniens um einen weiteren Titel aufstocken. Dazu waren Pedros Kräfte unabdingbar. Bei der Vuelta hatte er sich an den schweren Berg- und Hügelankünften als hervorragender Helfer hervorgetan, der in allen Lagen vollkommen loyal zu seinem Kapitän stand. Dabei hatte sch für die spanische Teamführung nur ein Problem hervorgetan. Er hatte Francois Colomme unterstützt, den französischen Kapitän der Equipe Cofidis, die von einem französischen Unternehmen gesponsert wurde. Fortan hatten beide, sowohl die spanische Nationalmannschaft, der Pedro seit sechs Jahren angehörte, als auch sein Team Cofidis von ihm erwartet, dass Alejandro beziehungsweise Francois auf ihrem Weg zum Titel auf seine, auf Pedros, Hilfe zählen konnten. Dabei hatten sie komplett außen vor gelassen, dass dabei in seinem Inneren ein Konflikt ausgebrochen war, den er selbst nicht zu lösen wusste. Nun am Start glaubte er sich entschieden zu haben, er wollte die Rolle als Alejandros Edelhelfer voll annehmen und alle freundschaftlichen Gefühle zu Francois hinter sich lassen. Gut, er hatte viele Wochen mit jenem Franzosen verbracht, aber letztendlich blieb er für immer ein Spanier. Er konnte seine Wurzeln nicht verleugnen, dazu war er nicht stark genug. Er musste seinem Herz folgen und das schlug für seine Heimat.

Im Laufe des Rennens beruhigte sich Pedro immer mehr. Alles lief zu seinen Gunsten, die Spanier hatten mit Emanuel Amargo einen Fahrer in der vierzehn Fahrer umfassenden Spitzengruppe platziert, im Feld sorgten die Mannschaften aus Italien und Deutschland für das Tempo. Insgesamt sollten vierzehn Runden à achtzehn Kilometern zurückgelegt werden, wobei zwei Anstiege, ein leichter nach fünf Kilometern und ein schwererer, der die Entscheidung in der letzten Runde bringen sollte, nach etwa zwölf Kilometern überquert werden mussten. Im Moment sah es so aus, als würde das Feld längere Zeit gegen die starken Flüchtigen kämpfen, so dass der Kampf um den Sieg erst auf den letzten beiden Runden, die als Alejandros starke galten, entbrennen sollte. Es lief also für die Spanier problemlos, während sich die Franzosen auch noch keine Sorgen machten. Pedro plauderte ein bisschen mit Francois, wobei er von seinen Teamkollegen etwas schräg angeschaut wurde, aber noch störte ihn das wenig. Nach einigen Minuten orientierte er sich zu seinen Landsmännern und nahm Gespräche über das Wetter und Eheprobleme seiner Kumpane auf. Die Wogen glätteten sich wieder und nach wenigen Minuten waren alle Konversationen mit dem Hauptfeind, dem Franzosen, vergessen. Stattdessen widmete sich das Feld nun der Aufholjagd, da das französische Team nun die beiden andern Mannschaften indem Vorhaben, die Ausreißer einzuholen, unterstützte. Der Vorsprung schmolz nun beständig und die Aufmerksamkeit im Feld nahm zu. Pedro wurde nach vorne beordert und achtete darauf, dass Alejandro dem Sturzrisiko aus dem Weg ging und sich nahe der Spitze halten konnte. Immerhin konnten sie wegen Emanuel der Nachführarbeit ausweichen, die sonst zwangsläufig auf sie zugekommen wäre. So beschränkte sich Pedro darauf, Alejandro nahe an die gegnerischen Kapitäne heranzuführen und dort eine abwartende Stellung einzunehmen. Das Rennen war noch jung und er würde erst später seine Kraftreserven opfern müssen.

Als das Feld die letzten zwei Runden erreichte, entstand so langsam etwas Hektik. Die Führungsgruppe hatte immer noch etwa eine Minute Vorsprung, während sich im Feld wenig tat. Deshalb probierte es Maurico Botilla, ein kolumbianischer Kletterer, der durch den Gewinn des Bergtrikots beim Giro auf sich aufmerksam gemacht hatte, am leichteren der beiden Ansteige mit einem Angriff. Pedro nahm sofort Sichtkontakt mit seinem Kapitän auf und verständigte sich mit ihm, sie Verfolgung aufzunehmen. Also erhöhte er das Tempo und saugte sich bis zum Gipfel Meter um Meter wieder an Botilla heran. Als sie die Kuppe überquerten, hatte er den Kolumbianer gestellt und die Gruppe auf sechs Fahrer verkleinert, Francois, Alejandro, Botilla, den Australier McEvens, den Italiner Collini und sich selbst. Als er Botilla erreichte, zog er sofort vorbei und erhöhte die Pace. Die Vorentscheidung des Rennens konnte nun getroffen werden, wenn Alejandro, der als einziger noch einen Helfer an seiner Seite hatte, mit dessen Hilfe Ernst machte. Daher ging Pedro in der folgenden Abfahrt voll in die Offensive und ging die Abfahrt mit höchstem Risiko an. Bis es wieder flach wurde, hatten sie die vorherige Spitzengruppe ein- und überholt und schickten sich an, weiter nach vorne durchzustoßen. Pedro und Emanuel nahmen eine Löwenanteil der Arbeit auf sich und schafften es, den Vorsprung der Spitze auf die Verfolger bis zum Fuß des zweiten Anstieges auf fünfundvierzig Sekunden zu erhöhen. Als sie die Steigung erreichten, verbrauchte Emanuel seine letzten Körner, um das Tempo hochzuhalten, bevor Pedro die Spitze übernahm. Mit einem kraftvollen Antritt schoss er an den andern Fahrern vorbei und nur Alejandro, Francois und Collini konnten ihm folgen. Als er das sah, holte er das letzte aus sich heraus und beschleunigte weiter. Obwohl er absolut am Limit war, schaffte er es, das Tempo bis zum Gipfel zu halten und ließ sich erst zurückfallen, als das Terrain wieder flacher wurde und die anderen die Führung übernahmen. Er hörte noch, wie Francois ihm ein „Formidable“ zurief, dann setzte sich ans Ende der Gruppe und verschnaufte ein paar Sekunden. Er hatte die Vorentscheidung herbeigeführt, nun ging der Titel nur noch über Italien, Frankreich oder Spanien. Den Ausschlag konnte dabei seine Unterstützung geben. Deshalb sollte Alejandro es schaffen, die Krone der Radsportelite zu erobern. Pedro würde sein letztes Hemd dafür geben.

Mit einem Vorsprung von knapp dreißig Sekunden hatten das Spitzenquartett den Zielstrich zum vorletzten Mal überquert, bevor es auf die letzte Runde ging. Wie er es von seinem Idol Jens Voigt, der einige Jahre vorher seine Kapitäne mit vollem Einsatz unterstützt hatte, kannte, gab Pedros auf den Flachstücken alles, um auf den ansteigenden Streckenabschnitten weiter zu beschleunigen. Nach und nach kam ihm sogar der Gedanke, dass er, wenn er Kräfte gespart hätte, selber Chancen auf den Titel gehabt hätte, aber er fightete weiter. Er hatte seinem Teamchef geschworen, Alejandro zum Sieg zu helfen und das war rational gesehen die einzige wichtige Aufgabe, die er momentan hatte. Mit Höchstgeschwindigkeit jagte er in den ersten leichten Hügel herein und vernahm befriedigt, dass sein Kapitän an ihm vorbeischoss und die Gruppe mit seinem Antritt auseinander nahm. Collini ging hinterher, Francois blieb sitzen. Also blieben Pedro sogar noch Chancen auf eine Bronzemedaille, einen Titel, der sein Renommee in der Welt des professionellen Radsports erheblich aufpolieren konnte. Endlich würde er nicht mehr der Helfer sein, sondern der Star, derjenige, der es im Bestbesetztesten Eintagesrennen des Jahres mit den Topfahrern aufgenommen hatte und auf dem Podest gelandet war. Er würde Ruhm erlangen, an der Spitze seiner Zunft stehe. Er würde bewundert werden. Er selbst sollte in den Vordergrund rücken, wenn er nur Francois hinter sich lassen würde. Und doch kam ihm ein Gedanke, den er bislang verdrängen wollte. Ein Gedanke, der gegen alle Prinzipien verstieß, die er bisher predigte. Er würde einen Freund verraten. Einen Freund, mit dem der durch nichts verbunden war, außer durch die bloße Freundschaft. Keine festgelegten Bedingungen, keine juristisch nachvollziehbaren Verträge, nur die reine emotionale Verbundenheit. Auf der einen Seite erinnerte er sich an das Gelünde, das er seinem Temachef vollmundig gegeben hatte, auf der andern Seite fühlte er seinem besten Freund im Rennfahrerzirkus gegenüber verantwortlich. Er konnte ihn jetzt nicht einfach hängen lassen. Daher kam er nicht umher, sich nach hinten umzuschauen und in das verzweifelte Gesicht von Francois zu sehen. Er war kaum mehr in der Lage, zu sprechen, aber Pedro las von seinen Lippen zwei kurze Sätze ab.
„Aide-moi, s’il te plait. Je te prie.“
« Hilf mir bitte. Ich flehe dich an. »
Auf der anderen Seite hörte er aus dem Funk die Anfeuerung seines Teamchefs.
„Venga Alejandro, venga Pedro. Ganais. Sed los fuertos.“
Er war hin- und her gerissen und wusste, dass er sich nun endgültig entscheiden musste. Es gab in solch einer ernsten Sache keine Kompromisse. Die Kluft zwischen den Ländern war zu groß. Es gab nur schwarz und weiß. Die wenigen Fahrer, dies in den letzten Jahren versucht hatten, diese Kluft zu überwinden, waren gescheitert. Selbst der große Laurent Jalabert, der sich jahrelang beim spanischen ONCE-Team eingebracht hatte, hatte mit der heimischen Presse, die ihn vorher und nachher als Helden verehrte, kurzzeitig verscherzt. Ähnliches könnte Pedro nun drohen. Und doch rührten ihn die Hilferufe von Francois. Wie ein Film liefen die Bilder des vergangenen Jahres vor seinen Augen ab. Sein Sieg bei der Dauphine, als Francois ihn unterstützt hatte, dann der Triumph seines Teams, als Francois den ersten Rundfahrtsieg bei einer dreiwöchigen Tour für Cofidis einfuhr und die spaßigen Trainingslager mit seinen spanischen Teamkollegen im Rahmen der Vorbereitung der Nationalmannschaft auf die Weltmeisterschaft. Einige Sekunden überlegte er, dann hatte er seine Entscheidung gefasst. Sein Herz schlug für Spanien, aber Francois war im Laufe der Zeit zu seinem besten Freund geworden. Und deshalb konnte er ihn in dieser Situation nicht hängen lassen. Was seine Landsmänner auch sagen würden, es war Zeit, den Graben zu überwinden. Also ließ er sich zurückfallen und warteten auf Francois. Als er dessen dankbaren Gesichtsausdruck sah, wusste er, dass er richtig gehandelt hatte.

Mit vereinten Kräften schafften sie es, sich bis zum letzten Anstieg auf zehn Sekunden an Collini und Alejandro heranzuarbeiten. Den Funk hatte Pedro aufgrund der lauten und erbosten Schreie seines Teamleiters längst aus dem Ohr genommen, nun fuhr er nur noch nach Gefühl und orientierte sich an den Abstandsangaben von Francois. Gemeinsam attackierten sie den finalen Anstieg und arbeiteten sich Meter um Meter an die Führenden heran, die nun Kräfte sparten und beinahe Stehversuche unternahmen. Pedro nutzte die Chance, schoss mit Tempo an die beiden heran und attackierte an ihnen vorbei, Francois an seinem Hinterrad. Blitzschnell hatte er zwanzig Sekunden zwischen sich und die Verfolger gelegt, bevor Collini nachsetzte. Nachdem Alejandro die Mitarbeit verweigert hatte, weil mit Pedro einer seiner Helfer vorne fuhr, war es nun die Aufgabe des Italieners, die beiden an der Spitze einzuholen. Aber so viel er sich auch bemühte, so hoffnungslos war sein Unterfangen, da sich Francois und Pedros vollkommen einig waren und das Rennen kontrolliert von der Spitze fuhren. Statt den Rückstand zu verkleinern, wurde er immer größer, bis Collini es schließlich aufgab. Fünf Kilometer vor Schluss hatten Francois und Pedros sich dreißig Sekunden herausgearbeitet, ein Vorsprung der auf abschüssigem Gelände kaum noch zuzufahren war. Pedro wagte es kurz, seinen Funk ins Ohr zu stecken, nahm ihn aber sofort heraus, als er seinen Teamleiter hörte, der ihn aufforderte, auf Alejandro zu warten. Stattdessen zog Pedros weiter durch und kämpfte sich mit Francois in Richtung Ziel.

Auf den letzten Tausend Metern gab er noch einmal alles. Er wusste, dass er das Rennen gewinnen würde. Dass er selbst nicht auf dem Siegespodest oben stehen würde, war ihm von Anfang an klar gewesen, aber sein Ziel war es nur gewesen, seinen Kapitän in eine solche Lage zu führen. Ursprünglich war es Alejandro gewesen, nun war es Francois. Francois, sein treuer Freund, mit dem er bei der Vuelta durch Höhen und Tiefen gegangen war, den er in allen Lagen unterstützt hatte. Nun hatte er ihn sogar trotz der erbitterten Feindschaft bei den internationalen Wettkämpfen nach vorne geführt. Dafür hatte er über seinen Schatten springen müssen und einige Vertraute aus Spanien wie seinen Teamchef verprellt, aber letztendlich wusste er, dass es das beste für sich selbst und sein Gewissen war. Er konnte wesentlich ruhiger schlafen, wenn er wusste, dass er einem Freund zum Sieg verholfen hatte, als wenn er einem weitestgehend fremden geholfen hätte, dessen Gemeinsamkeit mit ihm darin bestanden hatte, dieselbe Herkunft zu haben. Daher konnte Pedro locker auf die letzten Meter fahren. Fünfhundert Meter vor dem Ziel zog er den Sprint an, kurz später wollte er herausnehmen, um Francois eine ausgiebige Siegesfeier zu gönnen, als er merkte, dass dieser ihn von der Seite anstupste und vor sich schob. Pedros war etwas überrascht.
“Allez. C’est ta victoire. Toi, tu es le cycliste, le copain le plus grande.”
“Fahr. Es ist dein Sieg. Du bist der größte aller Radfahrer, aller Freunde”
Erst verstand Pedros nicht ganz, was Francis ihm sagen wollte, doch dann begriff er. Er übernahm wieder die Spitze und führte das Duo bis zum Zielstrich. Dann ergriff er die Hand seines Freundes und hielt sie in die Höhe. Gemeinsam überquerten sie den Zielstrich. Entgegen allen Regeln hatte sie die bestehenden Konventionen gebrochen und sich über die ungeschriebenen Gesetzte hinweggesetzt. Pedros hatte seinen Nationalstolz vergessen und Francois geholfen, als er in Not gewesen war. Nun bekam er den Lohn. Er hatte sich zurückgenommen und wurde nun belohnt. Zwar musste er nach dem Zieldurchlauf eine Hasstirade seines Teamchefs in Kauf nehmen, der ihm androhte, ihn für die Zukunft aus dem Nationalkader auszuschließen, weil er nicht der Teamorder gefolgt war, aber spätestens als er an der Site von Collini und Francois das Regenbogentrikot übergestreift bekam, war ihm das egal. Er hatte entgegen der Regeln der Vernunft gehandelt und seinem Gefühl vertraut und es hatte ihn nicht betrogen. Am Ende von allem hatte es sich doch bestätigt. Er hatte sich zurückgenommen und war dadurch ans Ziel seiner Träume gelangt.

Weil in diesem Bereich im Moment nicht so viel los ist und ich nach der Party gestern Abend bzw. heute morgen nicht allzu gut gelaunt bin, versuch ichs mal mit schriftlicher Frustbewältigung in der Hoffnung, dass die Moral der Geschichte herüberkommt und ich trotz Stillegung vieler AARs mal wieder etwas Lesevergnügen bereiten kann. Über PN-Kritik würde ich mich freuen, angesichts der momentanen Uhrzeit und anderer äußerer Umstände wäre sie wahrscheinlich durchaus begründet.

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Flame of Za-i-ba
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Ein Held

Beitrag: # 6822205Beitrag Flame of Za-i-ba
12.7.2010 - 18:43

Ein Held

Der Schweiß perlt, die Sonne brennt, die Hitze bringt einen alleine schon fast um. Viel trinken, das muss sein, wenn dieser Griff zur Flasche nur nicht so anstrengend wäre. Es ist ein Schmerz, doch daraufhin eine Erfrischung. Während selbst das Schlucken schon weh tut, gießt mir ein Fan eine Flasche über den Kopf. Danke mein Freund, das denke ich, sagen tu ich es nicht. Weit kann es nicht mehr sein, bitte, das fünf Kilometer Schild, hinter der Ecke muss es sein … verdammt.

Es ist die letzte Bergetappe der 98. Tour de France. Während das Rennen um den ersten Platz vermutlich entschieden wurde, gibt es jedoch noch einen weiteren Kampf. Der Kampf gegen die Karenzzeit. Kaum einer hatte ihm zugetraut es bisher hin zu schaffen. Alle sagten immer, er würde es nicht aus seinem Vorort heraus schaffen. Er schaffte es und war nun bei der größten Rundfahrt der Welt. Die Frage war, ob er es auch am nächsten Tag noch sein würde.

Aus einem Traum kann nur Wirklichkeit werden, wenn man bereit ist aus dem Traum aufzuwachen und trainieren zu gehen. Vater hat Recht. Ich darf mir nicht vorstellen wie es sein wird in Paris empfangen zu werden, ich muss einfach alles dafür tun um es zu schaffen.

Scheiß Idioten, bauen ihre Zelte ab, laden ihre Sachen ins Auto. Applaus.
Einige bleiben, klatschen, jubeln, feuern mich an. Applaus. Danke.

Die letzten fünf Kilometer waren erreicht. Durch seinen Fahrstil würden es aber noch mehr sein. Wie eine Schlange fuhr er kreuz und quer über die Fahrbahn, sein Rad kaum mehr beherrschend.

Hau rein Alter man, sagt mein sportlicher Leiter, sagt mein Team Kapitän, sage ich. Viel Zeit kann ich nicht mehr haben. Jeder einzelne Tritt brennt, bei jedem Einzelnen muss eine Schwelle überschritten werden. Der innere Schweinehund, noch hat er keinen Weg gefunden um mich zu besiegen, aber er ist nah dran, dennoch: er wird versagen.

Einige Meter hinter ihm fuhr ein Wagen. Ein Wagen, den er nicht von innen sehen wollte.
Im inneren dieses Wagens saß ein Mann. Ein Mann, der oft auf die Uhr schaute.
Das Herzen dieses Mannes hatte Mitleid. Mitleid, dass er die letzten Tage schon in ihn hineingesteckt hatte um ihn im Rennen zu halten.

Ich bin fertig, ich kann nicht mehr.

Für einen Moment stoppte er zu treten. Das Fahrrad kippte um, er darunter. Er wusste nicht wie lange er dort lag, doch er wusste was zu tun war.

Aufstehen verdammt. Ich muss es schaffen.

Blut floss seine Knie und seine Ellbogen entlang und tropfte auf den glühenden Asphalt. Langsam stand er auf, hob das Rad hoch und stieg wieder auf. Es ging nicht. Er konnte nicht lostreten.

Der Mann aus dem Wagen sah noch einmal auf die Uhr, dann stieg er aus. Traurig hatte er das Szenario vor ihm beobachtet. Junge, es ist vorbei, die Uhr ist abgelaufen. Heute ist das Ende, wir können das nicht mehr weiterlaufen lassen.

Eine Chance noch, bitte.

Sein Blick brachte ihn beinahe zum weinen. Er war flehend, aber dennoch kämpferisch und voller Bitte. Nach einem Moment des Schweigens nickte er und brachte den Fahrer durch anschieben wieder in Bewegung.
Mit neu geschöpftem Mute setzte er sich wieder in Bewegung.

Es klappt, es wird gehen, es muss gehen.

Zwei weitere Kilometer überstand er. Dann kam sie, die Serpentine. Die Serpentine, von der der Radsport das Jahr über geredet hatte, von der jeder Respekt hatte.

Seine Lunge brannte, seine Beine zitterten bei jedem Tritt aufs neue. Blind vor Anstrengung fuhr er weiter, nicht fähig die Welt um sich herum wahr zu nehmen, nicht fähig eine Entscheidung zu treffen, nicht fähig aufzugeben. Er fuhr weiter, wurde langsamer, fiel.

Es war aus. Er wusste es. Eine Träne kullerte aus einen Augen und lief die schweißnassen Wangen herunter. Das Ende seines Traumes musste geträumt werden. Sein großes Ziel konnte er nicht erreichen. Jemand half ihm und legte ihn abseits der Straße ins Gras. Sein Rücken schmerzte, die Sonne brannte auf seinen Kopf. Das Rad wurde verstaut, eine Ärzteteam gerufen, er schickte sie weg.

Stunden später kam er im Ziel an. Zu Fuß, gefolgt von hunderten Radsportfans.
"Alle lachen mich aus, weil ich anders bin - Ich lache sie aus, weil sie alle gleich sind."

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Grabba
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Beitrag: # 6827621Beitrag Grabba
8.8.2010 - 12:47

Flame of Za-i-ba, [i]Motivation[/i], Schaer-Preis Winter 2009 ([url=http://www.cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6757808#6757808]Link[/url]) hat geschrieben: Motivation

Letzte Nacht kam es zu neuen Angriffen der USA auf kleine Dörfer in Turkmenistan. Die Gewaltbereitschaft scheint damit einen neuen Höhepunkt gefunden zu haben. Etwa 30 Bomben schlugen alleine in der Hauptstadt Asgabat ein. Mehrere hundert Menschen starben, der Großteil davon war Zivilbevölkerung. Aufgrund dieser Tatsache stehen inzwischen viele Länder den USA kritisch gegenüber. Einige beschimpften sie nun sogar schon als Massenmörder, deren Ziele willkürlich gewählt werden. Es scheint als sei es den Amerikanern wert den Tod von Tausenden in Kauf zu nehmen …


Weiter wollte er nicht lesen. Er hatte genug. Tränen flossen ihm langsam aus den Augen, liefen die Wangen entlang und klatschten auf die Tastatur. “Jeden kann es treffen”, dachte er sich noch, bevor er das Internetfenster schloss und den Bildschirm abschaltete. Neben dem Computer stand ein Bild seiner Familie. Eine Frau und zwei Kinder, die freundlich in die Kamera lächelten. “Jeden kann es treffen”, dachte er noch einmal. “Wirklich jeden.” Aus der Ecke seines Raumes holte er einen kleinen Teppich. Diesen rollte er vor sich aus und kniete sich auf ihn. Dann betete er gen Mekka in der Hoffnung, dass der Schrecken endlich ein Ende haben- und seine Familie verschont bleiben solle. Noch eine letzte Träne huschte an ihm herab. Mit einem Taschentuch trocknete er seine Augen. Er atmete tief durch und dann öffnete er die Türe. Vor ihm saßen drei Männer.

“Was gibt es Neues?”, fragten sie ihn sofort. Er ignorierte sie.
“Du hast geweint.” Sie ahnten das es nicht besser geworden war. Wie schlimm wussten sie jedoch nicht. Die TV- und Radio Sperren zum Dank, ansonsten könnten sie ihr Unternehmen gleich vergessen.

“Männer,”, begann der Coach. “heute ist der Tag. Ihr bekommt die Chance, und glaub mir, sie ist einmalig, etwas Außergewöhnliches zu tun. Keiner eures Landes hat je etwas Vergleichbares erreicht, doch das kann sich ändern, wenn ihr an euch glaubt. Natürlich seid ihr keine überbezahlten Profis, die Unmengen an Geld fürs Training ausgeben, aber das ist heute irrelevant. Heute zählt nur was ihr euch über Jahre angeeignet habt - die Leidenschaft für den Radsport. Das ist das Wichtigste. Schaut in die Geschichte: Viele Andere, scheinbar chacenlose Sportler haben Großes vollbracht, weil sie ganzen Herzens dabei waren und sich nicht zu schade waren alles aus sich herauszuholen, wirklich alles. Vielleicht seid ihr die Drei, die als Letzte ankommen, aber gebt nicht auf. Kämpft bis zum bitteren Ende und schafft das, wovon ihr nie zu träumen gewagt habt. Träume, ich glaube keiner von euch träumte die letzten Tage vom Sieg oder allgemein vom Radsport. Wer mag es euch verübeln …
Es geschehen zurzeit schreckliche Dinge, aber vergesst sie …, oder nein … Vergesst sie nicht! Nimmt sie als Ansporn, als Motivation um den Leuten euren Protest zu zeigen. Lasst sie spüren was ihr von ihnen haltet, denn das gleiche werden sie tun. Kriegt keine Angst, wenn ihr als Arschlöcher, Mörder, Attentäter oder Terroristen beschimpft werdet. Das denken sie von euch, zumindest viele. Ihr werdet Plakate mit einem Zielfernrohr sehen. Menschen, die euch drohen und welche, die euch töten würden, wenn sie es denn dürften.

Genauso gut gibt es aber auch diejenigen, die euch bejubeln. Sie respektieren euch, sie sind wahrscheinlich sogar begeistert, dass ihr unter diesen Vorraussetzungen startet. Das sind die Menschen, die wirklich Frieden in der Welt wollen. Die Anderen können euch gestohlen bleiben. Lasst euch bloß nicht provozieren. Ignoriert dumme Sprüche und rüde Gesten. Vor allem gegenüber den Fahrern. Was meint ihr was die Welt denken wird, wenn ihr drei bei der Radsport Weltmeisterschaft auf die Amerikaner losgeht, sie vom Rad zerrt und niederschlägt? Sie werden sich bestätigt fühlen und eine ganze Nation an den Pranger stellen. Denn ihr präsentiert euren Staat, euer Land, unser Turkmenistan. Soweit soll es nicht kommen. Es gibt bessere Arten um ihnen zu zeigen was ihr von ihnen haltet. Faire-, respektvollere-, sportlichere-, und vor allem erfolgreichere Möglichkeiten. Schlagt sie, oder zumindest zeigt ihnen, was in euch steckt. Dies könnt ihr jedoch nur als Team. Schaut euch einmal bitte in die Augen. Seht das Feuer bei den anderen. Wenn ihr das erblickt wisst ihr, dass ihr euch immer auf die anderen zwei verlassen könnt. Sie werden alles für euch geben, sich opfern. Wir haben keinen Kapitän, wir brauchen auch keinen. Ihr fahrt nicht für euch selber, ihr fahrt füreinander, nicht gegen die anderen, für euch!

Auf euch darf man nicht herumtreten! Ihr seid auf keinen Fall weniger wert als sie. Ihr habt nicht weniger Rechte und ihr habt nicht den Vertrag unterschrieben hinter ihnen anzukommen! Die Amerikaner sind euch in der Zahl dreifach überlegen. Sie haben die optimalen Trainingsbedingungen und sie sind schlichtweg besser. Sie sind aber nicht stärker als ihr, nicht heute. Nicht an dem Tag, wo ihr zeigen werdet was eure Nation wert ist. Es ist die einmalige Chance euer Land ein Lächeln zu schenken, das erste seit langer, sehr langer Zeit. Wenn die Nachricht eures Sieges umher geht und die Menschen euch als Helden Feiern werden sie eins denken und ich bitte euch, macht es: “Ihr habt gekämpft, und zwar ohne Waffen.” Schenkt euren Brüdern, euren Schwestern, euren Väter und Müttern ein Licht in dieser absoluten Dunkelheit. Glaubt an euch, denn das tun sie!






Valverde3007, [i]Von Leben und Tod[/i], Schaer-Preis Winter 2009 ([url=http://www.cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6757857#6757857]Link[/url]) hat geschrieben:Von Leben und Tod

Langsam aber beharrlich stieg die Anspannung und sein Puls beschleunigte. Sein Magen zog sich zusammen und ließ das Gefühl der Angst, das ihn so lange verfolgt hatte, wieder aufkeimen. Die weißen Wände des Wartezimmers bedrückten ihn, da er bei jedem Aufenthalt in diesem Bereich des Krankenhauses unweigerlich an seinen ersten Besuch in diesem Gebäude denken musste. Während er überlegte, wie oft er sich in den vergangenen Monaten in diese Enge begeben musste, fuhr er sich langsam über seinen Kopf. Anstelle seines prachtvollen Haupthaares, auf das er immer stolz gewesen war und das die Chemotherapie vernichtet hatte, spürte er nur die verkrusteten, dicken Narben auf seiner kahlen Kopfhaut, die die Überbleibsel eines operativen Eingriffes waren, mit dem ein gefährlicher Tumor an seinem Gehirn entfernt worden war. Die Operation war die letzte Chance gewesen sein Leben zu retten, eine Chance, an die er nicht mehr geglaubt hatte.
Nach der ersten Diagnose seiner Krankheit und den folgenden Gesprächen mit den Ärzten war seine Moral schon gebrochen gewesen. Die Wahrscheinlichkeit zu überleben war so gering, dass er nicht mehr an die Möglichkeit einer erfolgreichen Behandlung geglaubt hatte. Als er das Besprechungszimmer damals mit der Information verlassen hatte, schwer krank zu sein, war er so geknickt gewesen, dass er sich kaum auf seinen eigenen Beinen halten konnte. Seine heile Welt, in der er gelebt hatte, war mit einem mal zusammen gebrochen, alles woran er geglaubt hatte, war vom einen Moment auf den anderen verschwunden. Zu Beginn, als sein Arzt ihm gesagt hatte, dass er Krebs habe, hatte er sich grauenvoll gefühlt. Schreckliche Bilder von kranken und trauernden Menschen waren ihm durch den Kopf geschossen. Nach der Diagnose hatte er minutenlang stumm da gesessen, bis er von dem Arzt vorsichtig aus seiner Lethargie gerissen wurde. Bei ihm war äußerst aggressiver Lymphdrüsenkrebs festgestellt worden, der schon in einem fortgeschrittenen Stadium war, weshalb ihm sein Arzt dazu riet, ihn sobald wie möglich mit einer Chemotherapie zu bekämpfen. Er empfahl ihm einige Krankenhäuser, die fortschrittliche Krebsbekämpfung anboten und notierte ihm deren Adressen.
Wie in Trance hatte er sich in sein Auto gesetzt und war zurück zu sich nach Hause gefahren. Es waren die dunkelsten Stunden seines Lebens gewesen. Zuerst hatte er kaum einen klaren Gedanken bilden können und fassungslos vor sich hingestarrt. Er hatte sich gefragt, warum es ausgerechnet ihn treffen musste, doch er fand keine Antwort. Warum hatte es ihn erwischt? Er war Leistungssportler, er war in seinen besten Jahren. Ausgerechnet in der Phase seines Erfolges sollte ihn der Krebs berufsunfähig machen oder sogar töten? Stumm klagte er vor sich hin, dass er das Schicksal nicht verdient hätte und überlegte, wieso Krebszellen in seinem Körper entstehen konnten. Stunden saß er wie versteinert da, bis er wieder zu sich kam.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, rief er seine Eltern an, dann seine Geschwister und seine besten Freunde. Mit zitternder Stimme erzählte er ihnen von seiner Diagnose und den Folgen, die sie für ihn hatte. Alle waren geschockt von der schlechten Nachricht und versicherten ihm ihre Hilfe. Seine Eltern wollten sofort anreisen und seine Schwester kündigte ihren Besuch an.
Während einer unruhigen Nacht machte er einen innerlichen Wandel durch. Lange dachte er über sein Schicksal nach und darüber, was die neue Situation für ihn und sein Leben bedeuten würde. Er müsste seinen Beruf aufgeben und würde körperlich stark eingeschränkt sein, wenn er überhaupt überlebte. Bisher hatte er es immer als selbstverständlich angesehen, dass sein durchtrainierter, starker Körper gesund war. Niemals hatte er darüber nachgedacht, was das eigentlich bedeutete. Nie war er in seine Grenzen gewiesen worden und in seinem jugendlichen Leichtsinn hatte er geglaubt, dass ihm alle Türen offen standen und er ein langes, erfülltes Leben vor sich hätte. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass er noch mehrere Jahrzehnte sein glückliches Dasein fristen durfte. Er war gesund gewesen, doch hatte er den guten Zeiten nicht genug Beachtung geschenkt. Das Gefühl des Wertes der Gesundheit erwarb er erst durch seine Krankheit.
Vorher war er ein bekannter Radsportler gewesen. In den letzten Jahren hatte er eine rasante Entwicklung genommen und er war kurz davor gewesen den Durchbruch in die absolute Weltspitze zu schaffen, als er davon erfuhr, dass er Krebs hatte. Seit der frühesten Jugend hatte er stets um Anerkennung gekämpft, er wollte in allen Wettkämpfen der beste sein. Genau in dem Moment, als sein Ziel so nah war, als er die Chance ergreifen konnte, einer der besten Rennfahrer Welt zu werden, erwischte ihn der Schock.
Bei einer Massage nach einem Radrennen hatte ihn sein Masseur darauf hingewiesen, dass er an seinem Hals eine dicke Schwellung sehen konnte. Zunächst hatte er es ignoriert und sich weiter auf sein Training konzentriert, bevor ihn auch seine Mutter darauf hinwies und ihn dazu drängte, zum Arzt zu gehen, der schließlich die schlimme Diagnose stellte.
Trotz dieses Schicksalsschlages wollte er die Krankheit mit aller Kraft in Angriff nehmen. Er wusste, dass seine Chancen nicht die besten waren, dennoch war er fest entschlossen, den Krebs zu besiegen. Viele Menschen waren an ihm zugrunde gegangen, allerdings gab es immer wieder Beispiele wie sein großes Vorbild Lance Armstrong, der es geschafft hatte, gesund zu werden. Er verglich den Krebs mit einem Radrennen. Die Krebszellen waren seine Gegner und er musste das Rennen so schwer machen, dass sie alle krepieren würden. Motivationsprobleme würde er keine bekommen, es war kein normales Rennen, es ging um sein Leben.
Als seine Familie eintraf, saß er als ein veränderter Mensch vor ihnen. Sie hatten ihn immer als lebenslustigen, launischen Menschen gekannt und am Vorabend seine depressive Stimmung mitbekommen, deshalb überraschte es sie, dass er sie so ruhig und emotionslos empfing. Er erläuterte ihnen sachlich die Situation und erklärte, wie er gegen den Krebs vorgehen wollte. Innerlich fühlte er sich zwar immer noch elend, doch jetzt schob er es auf die bösartigen Zellen in seinem Körper. Seine Zuversicht überraschte seine Angehörigen positiv und war der Startschuss für den Kampf um seine Gesundheit.
Obwohl er die Sache optimistisch anging, hatten sich in der Folge viele Menschen von ihm abgewendet und ihn aufgegeben, als sie erfuhren, wie schlecht es um ihn stand. Nur einige wenige hatten ihn weiter unterstützt. Seine engsten Freunde und seine Familie blieben an seiner Seite, alle anderen schienen ihn vergessen zu haben. Sponsoren, Kollegen und auch sein Arbeitgeber hatten sich von ihm distanziert, ihn aufgegeben und seine Verträge mit der Begründung gekündigt, dass er mit seiner Krankheit nie wieder in der Lage wäre, Rad zu fahren. Zuerst hatten seine Angehörigen versucht, ihn vor diesen Nackenschlägen zu schützen, bis er nach und nach erfahren musste, dass alle ehemaligen Partner ihn fallen gelassen hatten. Deshalb schätzte er diejenigen, die geblieben waren umso mehr. Die Treue und die Aufrichtigkeit ihn in der schweren Zeit zu unterstützen, hatte ihm Kraft gegeben, weiterzukämpfen. Seit er denken konnte, hatte er immer viele Freunde gehabt. Er war von Haus aus relativ wohlhabend gewesen und kam mit allen Menschen klar. Als er nun schwach und krank war, blieben ihm nur seine wahren Freunde, die ihm dafür noch wichtiger wurden.
Bevor seine Behandlung beginnen konnte, hatte er eine Reihe von Operationen hinter sich zu bringen. Die entzündeten Lymphknoten wurden entfernt und die Ärzte führten in der Folge weitere Untersuchungen zu seinem Gesundheitszustand durch. Dabei versicherten sie ihm, dass er wegen seines durchtrainierten Körpers wahrscheinlich widerstandsfähiger als viele andere Patienten sein würde, die Chemotherapie ihn trotzdem so schlauchen würde, dass er an ihrem Ende kaum mehr in der Lage sein würde, selbstständig nur einen einzigen Schritt zu gehen. Zusätzlich musste er sich einer Operation am Kopf unterziehen, damit ein Tumor an seinem Gehirn entfernt werden konnte. Die behandelnden Ärzte drängten ihn dazu, möglichst schnell mit der Behandlung zu beginnen, damit der Krebs sich nicht noch weiter ausbreitete, weshalb er schon zu Beginn der nächsten Woche sein Zimmer im Krankenhaus bezog.
Danach begann seine Leidenszeit. Es war schlimmer als er es sich vorgestellt hatte, aber er ertrug alles ohne Murren. Egal wie schlecht es ihm ging, er durfte nicht aufgeben. Die harten Radrennen über die höchsten Pässe Europas hatten ihm immer stark zugesetzt, doch er hatte sie alle bezwungen und in seiner Karriere keine Sekunde an eine Aufgabe gedacht. Diese Einstellung musste er auf seine Krankheit anwenden. Die Schmerzen, die er hatte, musste er ertragen. Im Hinterkopf hatte er immer den Gedanken, dass jede Sekunde des Schmerzes ihn seinem Ziel näher brachte und er die Krebszellen Stück für Stück vernichtete. Wenigstens verfolgten ihn in den nächsten Wochen wie in seinem Leben vor dem Krebs Kurven und Werte, an denen er sich orientieren konnte. Der Unterschied war, dass es diesmal keine Etappenprofile waren, sondern Diagramme, die beispielsweise die Anzahl an Krebszellen anzeigten. Jedes mal, wenn die Werte nicht sanken oder nur stagnierten, versuchte er die Bemühungen zu verstärken. Täglich setzte er sich neue Ziele und war zufrieden, wenn er sie erreichen konnte. Obwohl es ihm rein medizinisch besser gehen sollte, verschlechterte sich sein gefühlter Zustand immer weiter. Die Blutwerte, die früher noch seine Leistungsfähigkeit angezeigt hatten, sanken in den Keller und er musste sogar sonst verbotene Mittel wie Erythropoetin benutzen, um seine Blutwerte in einem gesunden Rahmen zu halten.
Nachdem er zunächst standhaft blieb, forderte die Behandlung durch die Chemotherapie bald ihren Tribut. Dauernd war ihm übel und ab dem Beginn der zweiten Phase seiner Chemotherapie schaffte er es kaum noch sich aus seinem Bett fortzubewegen. Nachts, wenn er es nicht schaffte zu schlafen, dachte er oft über den Tod nach. Manchmal ging es ihm so elend, dass er sich mit seinem Schicksal anfreunden wollte. Es gab Phasen, in denen die Schmerzen so groß wurden, dass er gar nicht mehr bewusst wahrnahm, wie oft er sich übergeben musste.
Seine Leiden zu lindern schaffte erst ein Mensch, der im schwierigsten Moment an seine Seite trat. Während seiner Chemotherapie traf er eine Frau, gegenüber der sich eine Bewunderung entwickelte, die er in seinem Leben noch nie gespürt hatte. Sie war an einer unheilbaren Art von Lungenkrebs erkrankt und lebte in dem Wissen, dass ihr nur wenige Monate oder Wochen blieben. Die Ärzte hatten ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie keine Chance hatte, die Krankheit zu überstehen. Ihr Aussehen entsprach genau ihrem Gesundheitszustand. Ihr Kopf war ebenso kahl wie seiner und sie war stark abgemagert. Dafür machte sie das Beste aus der Situation und versuchte den kurzen Rest ihres Lebens so würdevoll wie möglich zu verbringen. Selbst wenn ihre Schmerzen so groß wurden, dass sie trotz ihrer Medikamente beinahe ohnmächtig wurde, beklagte sie sich nicht und versuchte den Anfall schnell hinter sich zu bringen, um ihre Familie und bald auch ihre neuen Freunde nicht zu beängstigen.
Bald erkannte er, dass nur Menschen wirklich trösten können, die durch Leid gebeugt wurden und die fähig sind die schlimmen Erfahrungen nachvollziehen, weil sie sie selbst gemacht haben. So gab seine Leidensgenossin ihren Mitpatienten Auftrieb und heiterte sie in den Phasen, in denen sie nicht durch schwere Krämpfe oder Übelkeit an ihr Bett gefesselt war, auf, indem sie mit ihnen scherzte und lustige Geschichten erzählte. Die anderen Patienten bewunderten sie dafür. Sie drängte die Krankheit beiseite und wollte keinen ihrer Mitmenschen dadurch belästigen.
Stundenlang redete er mit ihr, meist über vergangenes, da die Zukunftsaussichten zu schlecht waren, um überhaupt über den nächsten Tag hinaus zu denken. Doch die tief greifenden Diskussionen schafften es, die Tristesse der Krankenzimmer und die Grenzen der körperlichen Beeinträchtigung für kurze Zeit auszublenden. In ihren Unterhaltungen erfuhr er ein Gefühl, dass er in dieser Form nie zuvor gefühlt hatte, echte Liebe. All die Gefühle, die er versucht hatte zu unterdrücken, weil er sich keinen falschen Hoffnungen hingeben wollte, kamen jetzt wieder hervor. Er spürte zum ersten mal wieder Sehnsucht, Sehnsucht nach einem gesunden Leben mit einer Familie und guten Freunden. Erinnerungen an lang vergangene, glückliche Tage kehrten in sein Gedächtnis zurück und jeder Moment, den sie zusammen waren, nahm dem Krebs an Wirkung. Es gab etwas, das stärker war als die Krankheit, für wenige Minuten konnte er sein schweres Schicksal ausblenden und sein Leben wieder genießen. Leider blieb ihnen zu wenig Zeit.
Während er im Wartezimmer wartete, wusste er, dass sie wahrscheinlich genau in diesem Moment wieder einen ihrer Krämpfe hatte. Seit er sie kennen gelernt hatte, war ihre Krankheit schnell schlimmer geworden und als er bei sich selber eine stetige Besserung der Blutwerte feststellen konnte, wurden ihre immer schlechter. Er spürte eine Träne über seine Wange rinnen. Oft hatte er das Schicksal verdammt, dass sie sich genau unter diesen Umständen kennen lernen mussten. Es hatte nicht lange gedauert, bis ihn ihr Lachen in den Bann gezogen hatte. Hatte er früher oft auf das äußere der Personen geachtet, zeigte ihm das Elend des Krankenhauses, dass man innere Werte durch keine Form des Auftretens überbieten konnte. Erst als er dem Tod nahe war, begriff er, was im Leben zählte. Als es ihm gut ging, hatte er die Umstände nicht zu schätzen gewusst. Dauernd hatte er sich wegen Nichtigkeiten geplagt und war ständig am Nörgeln gewesen. Jetzt, wo es ihm wirklich schlecht ging, bemerkte er, wie gut es ihm immer gegangen war und welche schlechten Seiten das Leben zu bieten hatte. Obwohl die Ärzte ihm versicherten, dass er die Krankheit ohne bleibende Folgen überstehen würde, wusste er, dass sie ihn verändert hatte.
Er hatte den Wert eines Menschen kennen gelernt und er bewunderte die, die in den schlimmsten Phasen ihrer Krankheit ihre Würde bewahrten und sie ertrugen. Der Tod war sein ständiger Begleiter geworden, deshalb fürchtete er ihn nicht mehr. Dafür achtete er das Leben umso mehr. Jede Sekunde, die ihm gemeinsam mit ihr vergönnt war, genoss er aus vollen Zügen, jede Erinnerung an sie sog er in sich auf, um sie nie zu vergessen. Sie zeigte ihm, wie man in den schlimmsten Zeiten leben musste und er zog seine Lehren. Sie lachten über vergangene Tage, über ihre Ängste und ihre vielen vergebenen Chancen. Oft hatten sie früher ihre Gefühle zurückgehalten, weil sie sich ihrer nicht sicher waren. Nun wurde ihnen bewusst, dass sie vieles anders machen würden. Die Krankheit ließ sie viel lockerer werden. Auf einmal erschien es ihnen lächerlich, sich nicht zu trauen, ein Mädchen anzusprechen, oder sich zu schämen, weil man anders war, als es erwartet wurde.
Seine Gedanken wurden von einer Arzthelferin unterbrochen, die ihn aufrief, mit dem Doktor zu sprechen. Lethargisch setzte er sich in Bewegung, um den entscheidenden Bericht über seinen Gesundheitszustand entgegenzunehmen. Vielleicht hatte er den Krebs vorerst besiegt. Vielleicht könnte er leben. Richtig wohl wollte ihm bei dem Gedanken nicht werden. In seiner neuen Beziehung hatte er den Sinn gefunden, warum es sich lohnte zu leben, er hatte jemanden gefunden, für den er sich bis in alle Ewigkeit aufopfern wollte, mit dem er Leid und Freude teilen wollte. Jetzt war es ihm nicht vergönnt, diese Träume zu zweit in Erfüllung gehen zu lassen. Tief in seinem inneren wollte und konnte er das Krankenhaus nicht verlassen.
Noch am Vorabend war er bei ihr gewesen, um sie in ihrem Todeskampf zu unterstützen. Auch wenn körperliche Kontakte kaum möglich waren und ihre Liebe rein platonisch war, war ihre Beziehung dennoch inniger und intensiver gewesen als jede zuvor. Nun musste er mit ansehen, wie die Krankheit sie zu Grunde richtete. Als sie davon gehört hatte, dass er möglicherweise vollständig geheilt war, hatte sie erleichtert ausgesehen. Sie hatte sich mit aller Kraft gefreut, die sie noch hatte darüber, dass wenigstens einer der beiden die schlimme Zeit überstanden hatte.
Gleichzeitig hatte sie ihm klar gemacht, dass sie wollte, dass er ging und sie alleine ließ. Sie wollte, dass er glücklich wurde, dass er sich eine neue Frau suchen und ein neues Leben beginnen würde. Keinesfalls sollte er sie bis zu ihrem Tod leiden sehen. Sie wusste, dass ihre Zeit bald abgelaufen wäre und sie wollte, dass er sie so in Erinnerung behielt, wie sie sich kennen gelernt hatten. Verzweifelt hatte er ihr zugehört und ihr versprochen, dass er alles tun würde, was sie von ihm wünschte. Ohnmächtig musste er akzeptieren, dass es keine Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft gab.
Zögernd öffnete er die Tür des Büros des Arztes und trat ein. Der Doktor begrüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck und einem breiten Grinsen. Er zeigte ihm einige Unterlagen, aus denen hervorging, dass die Anzahl der Tumormarker rapide gefallen war und nun keine mehr vorhanden waren. Es war geschafft, der Krebs war besiegt und wenn es keinen Rückfall geben würde, wäre er für immer geheilt. Er durfte die Klinik verlassen. Es war vorbei. Ein riesiger Stein fiel ihm von herzen, die ganze Anspannung und Furcht, die sich in der letzten zeit in ihm aufgestaut hatten, lösten sich auf. Die positive Nachricht traf ihn ähnlich intensiv wie die Diagnose einige Wochen zuvor. Mit einem lauten Seufzer ließ er sich auf einen Stuhl fallen, da ihn seine Beine nicht mehr tragen wollten. Das Ziel, auf das er alle Kraft konzentriert hatte, war erreicht.
Gleichzeitig musste er an all die anderen Patienten, deren Behandlung nicht erfolgreich verlief. Er stand an einem Scheideweg. Sein Glück begann dort, wo das von anderen endete. In den letzten Wochen hatte er viel Tod gesehen und unglaubliche Schmerzen gelitten und trotzdem oder gerade deshalb schaffte er es nicht, das Krankenhaus ohne weiteres zu verlassen. Einerseits hatte er die schlimmsten Tage seines Lebens hier verbracht, auf der anderen Seite hatte ihm der Krebs geholfen, die wichtigen Werte im Leben zu erkennen.
Er verließ das Besprechungszimmer und ging ein letztes mal durch die vertrauten Flure. In der Eingangshalle erblickte er den Aufzug, der ihn nach oben zu den Krankenzimmern fahren konnte und ging auf ihn zu. Kurz bevor er ihn erreichte, blieb er stehen und erinnerte sich an die Mahnungen des Vorabends. Es war vorbei, sie war nicht mehr zu retten. Diese Welt war für ihn Geschichte. Sprungartig drehte er sich um und rannte durch die Ausgangstür des Krankenhauses.
Er genoss die frische Luft in seiner Lunge, den leichten Windhauch auf seiner bloßen Kopfhaut. Einige Minuten stand er einfach nur da und genoss seine Freiheit. Der Duft der Bäume im Vorgarten des Hospitals erleichterten seine Seele, zum ersten mal seit Wochen konnte er befreit aufatmen. Nur ein negatives Gefühl blieb, die Angst um seine Freundin.
Er drehte sich um und sah, dass sie am Fenster ihres Zimmers stand. Sogar über die große Entfernung glaubte er zu erkennen, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie versuchte zu lächeln, schaffte es aber nur krampfhaft den Mund zu verziehen. Nach einem letzten Winken verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er verließ das Krankenhaus, aber er hatte keine Ähnlichkeiten mehr mit der Person, die es vor Wochen betreten hatte. Menschlich war er gereift, doch er hatte auch einen großen Teil von sich zurück gelassen.
In diesem Moment fiel ihm auf, dass er weinte. Einerseits weinte er aus Trauer, weil er einen lieb gewonnenen Menschen, vielleicht die Liebe seines Lebens verloren hatte, andererseits weinte er aus Glück. Erleichtert schickte er ein kurzes Dankesgebet gen Himmel. Er hatte den Tod überwunden, es begann ein neuer Lebensabschnitt. Er hatte seine zweite Chance bekommen, er durfte von vorne anfangen. Er lebte.






Grabba, [i]Ein Grauer Schatten[/i], Schaer-Preis Winter 2009 ([url=http://www.cyclingmanager.de/viewtopic.php?p=6758067#6758067]Link[/url]) hat geschrieben:Ein Grauer Schatten

Graue Wolken bedecken den Himmel. Die Straße ist voll. Das ewige Plätschern feiner Regentropfen. Die monotonen Pedalumdrehungen. Die stete Rotation der Kettenblätter. Das gelegentliche Klicken einer Gangschaltung. Das hastige Schnaufen eines Fahrers. Das gierige Saugen an einer Wasserflasche. Die immer gleichen Geräusche erfüllen meine Ohren. Es ödet mich an. Die frenetischen Jubelrufe der Zuschauer nehme ich kaum mehr wahr. Es sind Töne, nichts als nackte Töne, deren Sinn mir verborgen bleibt. Ich verstehe nicht - ich werde nicht verstanden.
Ich verteile Wasserflaschen. Ich bin hinten, will nach vorne. Die Menge, der Pulk. Ich fahre hindurch, mitten hindurch, so als wären sie gar nicht da. Wie Schatten ziehen sie an mir vorüber. Ich wate durch ein Meer grauer Schatten. Doch es kümmert mich nicht. Das hat es nie getan.

Die Spitze. Ich habe sie erreicht. Was soll ich tun? Weitermachen? Sie hinter mir lassen? Handeln, entgegen allen Regeln, entgegen allen Verstandes? Nein? Oder am Ende doch? Wo ist nur mein Mut? Doch was ist schon Mut? Wo ist die Grenze zu ziehen, die Grenze zwischen Mut und Verzweiflung, zwischen Verwegenheit und Narretei? Wie gerne würde ich all diese Grenzen ignorieren. Doch es fällt schwer, so unsagbar schwer.
Denn die Regeln sind hart. Niemand spricht sie aus, doch man kennt sie. Man weiß, was man tun darf, und was nicht. So lange man nur so handelt, wie alle anderen auch, geht man keine Gefahr ein. Doch man muss schweigen. Reden darf man nicht. Kein Wort. Und dem festgelegten Verlauf darf man sich nicht widersetzen. Die Strafe wäre hart: Ausgrenzung, Verachtung, Verfolgung und sogar Vernichtung. Man muss aufpassen, was man tut. Die Regeln darf man nicht brechen.

Ein Wagen fährt vor mir. In seiner Heckscheibe erblicke ich mich selbst, mein Spiegelbild. Um mich herum ist alles grau. So monoton fließt das Peloton als eine graue Masse dahin, wie ein breiter, mächtiger Strom, der unaufhörlich dem großen Meer zuströmt, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Auch das sonst so grell leuchtende, ja beinahe strahlende gelb verkommt hier zu einem tristen und gänzlich glanzlosen Farbton.
Ich fokussiere mich auf mein Spiegelbild. Ein Punkt im grauen Fluss bin ich, weiter nichts. Ich starre es an, starre mich an. Mich? Bin nicht auch ich ein Schatten? Kann ich von mir reden, wenn ich doch nur dazugehöre, mitfahre? Wer bin ich, was bin ich? Gibt es mich überhaupt? Wer war ich, was war ich? Gab es mich je? War ich irgendwann einmal mehr als der namenlose Schatten, dem ich nun ins Auge blicke? Ich starre ihn an, versuche ihn zu ergründen. Mich selbst zu ergründen. Doch da ist nichts. Nichts was ich ergründen könnte. Keine Erinnerungen. Keine Gedanken. Keine Sorgen und Wünsche. Diese Augen sind leer. Einfach nur leer. Diese Leere ängstigt mich. Was ist das für ein Leben, was für eine Existenz?
Ich falle in ein Loch. Es ist schwarz um mich, schwärzer als die Nacht, und ich sinke hinab in eine abgrundlose Tiefe. Nichts scheint mich halten zu können. Tief und immer tiefer sinke ich, so elend ist doch alles. Was sollte der Ausweg sein? Gibt es einen? Kann es überhaupt einen Ausweg geben? Was könnte mich jetzt noch aufhalten, mich retten? Ich weiß es nicht. Es gibt nichts.

Ohne zu denken handle ich schließlich. Ich mache mich davon, breche aus, gehe das Wagnis ein. Ein Wagnis, das größer ist als jedes Andere zuvor. Ich breche die Regeln. Ich widersetze mich. Meinen Kollegen. Meinen Chefs. Den Regeln. Ich tue nicht länger, was sie sagen. Ich greife an. Ich kämpfe. Und fühle mich frei.
Ich blicke wieder in die Scheibe. Was ich sehe erstaunt mich nicht mehr. Hinter mir fließt die graue Masse noch immer wie zuvor. Selbst die Aufregung Einzelner, ja gar die Aufregung des Gesamtgebildes, ändert nichts an dessen Erscheinung. Sie ist gleich. Sie wird es immer sein. Langsam entfernt sich der Pulk, verschwimmt, beginnt im Hintergrund zu verblassen.
Doch etwas hat sich verändert. Ruckartig bewegt sich ein Punkt aus der Masse heraus nach vorne, gewinnt an Größe, nimmt Form an. Es dauert einen Moment, doch dann begreife ich, dass ich selbst dieser Punkt bin. Und in diesem Moment durchbrechen zum ersten Mal einige Sonnenstrahlen die so düstergrau und undurchdringlich anmutende Wolkendecke am Himmel, und auch der Regen scheint für einen Moment auszusetzen. Und ich merke, wie sich aus dem Punkt ein Wesen bildet und schließlich, im Schein der Sonne, sogar Farbe annimmt. Und in meinen Augen sehe ich nun endlich ein Funkeln, ein Glitzern. Sie sind nicht mehr leer, und ich bin nicht mehr grau.

Ich höre wütende Schreie in meinem Ohr. Ich spüre stechende Blicke, kann die Wut und den Hass, die in der Luft liegen, förmlich fühlen, so schwer drücken sie auf mich. Ich habe mich widersetzt. Das darf nicht geduldet werden. Ich höre Drohungen. Doch ich mag nicht argumentieren. Ich reiße den Stöpsel aus dem Ohr. Endlich ist es ruhig.
Ein Gefühl der Freiheit durchströmt mich. Jetzt kann ich tun, was ich will. Jetzt kann ich tun, was richtig ist. Endlich kann ich reden. Und ich werde reden. Über alles. Es wird keine Geheimnisse mehr geben. Schonungslos werde ich sein. Sie werden mich hassen, mich verdammen. Doch ich werde stark sein, ganz so, wie in diesem Moment. Ich werde kämpfen. Werde triumphieren. Und schließlich werden auch sie verstehen, dass ich sie alle gerettet habe.
Doch plötzlich höre ich eine Stimme in meinem Kopf. Sie scheint aus der Tiefe meines Herzens zu dringen, aus dem Innersten Punkt meines Seins. Die Stimme will mir etwas sagen. Sie kommt mir vertraut vor. Sie fragt mich, warum. Sie fragt mich, was ich davon hätte. Ob ich mir meiner Verantwortung bewusst sei. Und vor meinem inneren Auge sehe ich nun meine Tochter, wie sie im heimischen Garten auf der Schaukel sitzt. Doch der heimische Garten gehört ihr nicht mehr. Ein letztes Mal noch sitzt sie auf der Schaukel. Wo Papi sei, fragt sie. Doch ihre Mutter weint nur und antwortet ihr nicht.

Meine Knie werden weich. Ich zittere. Kriege Angst. Bin mutlos. Wieder wird es dunkel um mich herum. Ein gleißender Blitz zuckt am Himmel, der Donner grollt. Es wird kalt, so bitter kalt. Auch in mir. Ich will weglaufen, weg, einfach fort. Doch wohin? Es gibt kein Ziel, kein Refugium. Ich fürchte mich. Ich werde schwach. Immer schwächer. Und gebe schließlich auf.
Ich nehme das Tempo heraus. Langsam lasse ich mich zurückfallen. Von hinten rauscht die graue Masse heran. Und dann hat sie mich. Ich bin kleinlaut, suche nach den richtigen Worten, meine Schuld abzutun. Suche nach Ausreden. Nach Lügen. So sind die Regeln. Ich weiß, dass ich sie nicht brechen darf.

Ich verrichte wieder meine Arbeit an der Spitze des Feldes. Ein letztes Mal starre ich mein Spiegelbild an. Es ist noch immer farbenfroh, doch das allgegenwärtige düstere grau hat sich an seinen Rändern festgesetzt. Schnell breitet es sich aus, immer schneller, und gewinnt schließlich die Überhand, bis von all den prachtvoll leuchtenden Farben nur noch eine Erinnerung verblieben ist. Und noch während ich mich in die Tiefen des Pelotons zurückfallen lasse sehe ich ein letztes verzweifeltes Aufblitzen in meinen Augen, ganz so, als wollten sie sagen, ich solle doch bleiben. Aber ich kann nicht. Nicht mehr. Habe nie gekonnt. Nie werde ich. Doch dieses letzte Aufblitzen ist es, das ich von nun an auf ewig in Erinnerung behalten werde.
Es regnet wieder. Wie schon den ganzen Tag tropft das Wasser vom bedrückend düsteren Himmel. Alles ist nass, nass und kalt. Ich fühle mich nicht mehr wohl. Ich fühle gar nicht mehr. Und ein letztes Mal werfe ich aus den Tiefen des Pelotons, dessen Gesamtheit mich in seiner tief grauen Tristesse nun wieder voll umschlossen hält, aus der Ferne einen Blick auf die Heckscheibe des Wagens. Ich suche nach mir, sehne mich nach dem Leuchten und Funkeln meiner eigenen Augen. Doch alles, was ich dort noch sehe, ist ein grauer Schatten.

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