Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Andy92
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Beitrag: # 6773249Beitrag Andy92
22.6.2009 - 20:43

Sven, Tino und ich zwängten uns gegen sechs Uhr abends in das glutofenartig aufgeheizte Auto und machten uns am wohl heißesten Tag des Jahres auf gen Norden in Richtung Basel, verließen dort die Schweiz und folgten ab dort dem Rhein bis nach Mainz und trafen ihn wieder – bereits bei Nacht – bei Köln folgten ihm bis ins Ruhrgebiet und bogen dann ab gen Osten und erreichten Bochum kurz nach Mitternacht. Dass wir so spät losgefahren waren, hatte gleich mehrere Gründe: Zum einen hatte sich Alexander nicht entscheiden können, ob er bei seinem Halbbruder in Deutschland oder beim Großteil des Internats in der Schweizer bei den nationalen Meisterschaften mit dabei sein sollte und hatte sich letztendlich doch dazu durchgerungen, seinen „Verpflichtungen“ als Person des öffentlichen Lebens in der Schweiz nachzukommen. Zum anderen hatten wir uns anschließend nicht für das richtige Material entscheiden können, das Packen hatte insgesamt sowieso länger gedauert als erwartet und so war die Abfahrt Stunde um Stunde nach hinten verschoben worden.
Immerhin konnten wir unser Hotelzimmer beziehen. Nichts luxuriöses, aber für den Zweck allemal ausreichend. Morgen, oder besser gesagt schon heute, denn es war ja schon nach 24 Uhr, standen auf verschiedenen Strecken die Zeitfahren, der Elite, der U23 und der Junioren auf dem Programm – offiziell waren wir für unseren Heimatverein unterwegs, von dem Hans zu uns stoßen würde. Auf dieses Wiedersehen war ich genauso gespannt, wie auf das mit Jörg, der mir vor der Abfahrt am Telefon zugesichert hatte, das ganze Wochenende vor Ort zu sein. Das hörte sich doch mal nach viel Gesprächszeit an!
Am Freitag ging es dann ins Straßenrennen – zwar nicht hundertprozentig auf den Kurs der Profis, aber immerhin lagen Start und Ziel, sowie die wichtigsten Anstiege auf ein und den selben Straßen. Ich freute mich richtig darauf, endlich mal wieder auf einem anspruchsvollen Kurs in einer Stadt zu fahren. Wenn ich so darüber nachdachte, dann hatte ich das eigentlich noch nie so richtig erlebt, zwischen den Häusern eine Rampe hoch zusausen. Das dürfte so ziemlich einmalig sein und war zudem eine willkommene Abwechslung zu den langweiligen und doch recht eintönigen Kriterien auf irgendwelchen flachen Rundkursen.
Noch immer war ich mir nicht darüber im Klaren, ob dieses Wochenende nicht zu hart für mich werden sollte. Autofahrt am Mittwoch, Zeitfahren am Donnerstag, Straßenrennen am Freitag, Autofahrt und Ruhetag am Samstag und am Sonntag der absolute Härtetest beim Gersauer Bergcup. Ich freute mich mittlerweile zwar wirklich auf dieses Rennen, doch ich hatte Angst in dieser Woche total zu überziehen. Seit dem Kriterium in Luzern hatte ich nicht mehr gezielt trainiert und das war wohl auch ganz gut so. Trotzdem, auf diese Herausforderung am Sonntag war ich echt heiß. Schon jetzt, in meinen jungen Jahren, schien ich es zu lieben, neue, zuvor scheinbar noch die da gewesene Herausforderungen anzunehmen und sie zu meistern! Ja, genau das war es, was mich am Radsport so faszinierte! Nicht in Monotonie verfallen und irgendwelchen Alltagsgeschäften nachgehen, als übe man einen ganz normalen Beruf aus. Nein! Mittlerweile war ich der Auffassung, als Radsportler Extremsportler zu sein und sich immer wieder neuen Hindernisse stellen zu müssen, bis man die Schwelle zum vorher noch nie da Gewesenen, noch nie Erreichten, ja, sogar zum noch nie Versuchten zu überschreiten und nicht als Profisportler, sondern als Held gefeiert zu werden!
Ich wusste zwar, dass es im heutigen Profigeschäft kaum noch Plätze für solche „Großen“ gab – erinnere man sich da nur an Fausto Coppi, der wohl einzig Wahre dieser Zunft –, doch wenn es sein musste, dann würde ich mir eben über Jahre hinweg erst einmal einen Namen verschaffen, mir Respekt verschaffen, um irgendwann komplett freie Hand zu bekommen und meine eigenen Ziele und Träume als Kämpfernatur zu verfolgen und zu verwirklichen! Welche das waren, konnte ich im Moment noch nicht wirklich sagen. Möglich wäre zum Beispiel ein Radsportmonument zu gewinnen, oder eine der drei großen Landesrundfahrt! Das sah ich zumindest noch als realistische Ziele an. Abgehoben waren dagegen die verrückten Ideen meiner nächtlichen Träume, alle drei großen Landesrundfahrten in einem Jahr zu gewinnen, oder gleich alle fünf Monumente des Radsports – oder doch gleich alles zusammen! Merckx Siegerekord zu knacken, Armstrongs Rekord von sieben, jetzt vielleicht sogar möglicherweise acht Toursiegen zu knacken! Sich bei jedem namhaften Rennen einmal in die Siegerliste eingetragen zu haben, oder gleich überall die ewigen Listen anzuführen!
Nein! Das alles war nun wirklich größenwahnsinnig und wenn ich ehrlich war, dann wäre so eine Karriere ohne Tiefen, sondern ausschließlich mit Höhen, äußerst langweilig. Wer weiß, vielleicht würden mir Rundfahrten aufgrund von mangelnder Regenerationsfähigkeit auch gar nicht liegen und ich konnte dort jegliche Träume sofort begraben. Dennoch, erste Erkenntnisse würde ich nach diesem Wochenende ziehen können, dass ja einer dreitägigen Rundfahrt fast schon entsprach, und dann natürlich im August bei der viertägigen Jugendrundfahrt durch die Zentralschweiz.
Aber jetzt wartete erst einmal die Deutsche Meisterschaft im Einzelzeitfahren auf mich, bei der ich mit viel Glück von rund 100 Startern unter die besten 50 fahren konnte. Um mich besser einschätzen zu können, sollte ich meine Ziel vielleicht doch zunächst etwas weiter unten ansetzen, als es mir mein Bauchgefühl zu verstehen geben wollte. Später, mit einem, vielleicht auch zwei Jahren mehr Erfahrung, würde ich sicherlich besser wissen, zu was ich wirklich im Stande war und mir dann natürlich auch hohe, aber dennoch realistische Ziele setzen...
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Andy92
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Beitrag: # 6773407Beitrag Andy92
23.6.2009 - 20:00

Jörg sollte ich am darauf folgenden Tag zwar noch nicht treffen, dafür war die neuerliche Begegnung mit Hans etwas wirklich Wunderbares. Er war nun mal der Vater des Erfolges, ihm musste ich meine Grundlagenausbildung zurechnen, die ich in nicht einmal einem halben Jahr scheinbar ganz hervorragend hinter mich gebracht hatte. Hans war stolz auf mich und natürlich auch auf Sven, man sah es ihm jede Sekunde an. Er brachte uns die Startnummern, nahm uns zusammen mit Tino allen Organisationskram ab – auch die beiden wirkten recht harmonisch – und legte den Grundstein für einen recht erfolgreichen Tag.
Zeitfahren – die Stunde der Wahrheit. Ja, dieser Satz galt wohl auch heute. Es war mein erstes Zeitfahren unter echten Wettkampfbedingungen. Die kleineren Wettbewerbe im Internat konnte man ja eigentlich nicht wirklich für voll nehmen. Jeder Starter hatte ein Begleitfahrzeug und aufgrund des großen Abstandes zwischen Svens und meiner Startnummer – ich ging fast eine Stunde früher auf die fast 20 Kilometer lange Strecke – konnten Tino und Hans bei jedem von uns im Begleitfahrzeug sitzen. Funk war leider nicht erlaubt, beziehungsweise technisch und logistisch so gut wie unmöglich. Schon im Startbereich merkte man, dass unser Jugendrennen sehr viel weniger Aufmerksamkeit bekam, als das große Profieinzelzeitfahren „neben an“.
Trotzdem schlug mir vor Aufregung das Herz bis zum Hals, als ich auf die Startrampe gebeten wurde. Als ich dann an der Reihe war und der Zeitnehmer die letzten 10 Sekunden ansagte, musste ich schwer Schlucken. Ich war total nervös!
Beruhig dich, beruhig dich, dachte ich. So wichtig ist dieses Zeitfahren nicht, rief ich in mich hinein, doch es half überhaupt nichts. Der Adrenalinpegel stieg ins Unermessliche als der Countdown endlich sein Ende nahm und ich die Rampe hinunter sauste, sofort hoch beschleunigte und bloß so schnell wie möglich weg von diesem Ort wollte, die Strecke am liebsten schon längst hinter mich gebracht hätte.
Ich versuchte mich auf meinen Rhythmus zu konzentrieren. Fand ihn überraschend schnell, trat relativ flüssig. So oft hatte ich von Profis bei Fernsehübertragungen oder im Internet gehört, dass man bei einem Zeitfahren gleich nach den ersten Metern wusste, ob man einen guten Tag hatte oder nicht. Genauso erging es mir gerade auch. Ich spürte mit ein bisschen Erleichterung, aber auch einem Funken Enttäuschung, dass ich weder einen guten, noch einen schlechten Tag erwischt hatte. Die Beine liefen zwar rund und flüssig, stellenweise sogar richtig angenehm, aber phasenweise auch wieder mit leichten Beschwerden, ja fast schon zum Kotzen langsam.
Nach drei Kilometern nahm ich den ersten Schluck aus meiner Trinkflasche, nach sechs noch Mal einen. Kurz darauf jagte ich über den Strich der ersten Zwischenzeit. Ich erwartete keine Reaktion aus dem Teamwagen, denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich bei weitem nicht der schnellste sein konnte, obwohl ich gerade mit einem Schnitt von fast 41 Stundenkilometern unterwegs war. Ich wusste aber auch, dass der zweite Teil der Strecke etwas welliger war – ich hatte zwar meinen Rhythmus gefunden, dennoch war ich mir sicher, dass dort mein Schnitt noch ordentlich gedrückt werden würde.
Nach ungefähr einer Minute hörte ich hinter mir plötzlich ein Geräusch – es war ein Schrei von Tino: „Klasse! Weiter so! Bestzeit! Bestzeit! Bestzeit!“ Ich war schier überwältigt! Ein unglaubliches Glücksgefühl keimte in mir auf und plötzlich, als ich 10 Kilometer hinter mich gebracht hatte, fühlte sich alles fast noch leichter an. Ich schaffte, auf relativ langen Geraden, eine Spitzengeschwindigkeit von fast 50 Stundenkilometern! Ich war im Rausch! Ich hatte schon längst den Tunnelblick und konnte am Ende der wohl längsten Geraden dieses Zeitfahrens bereits den vor mir gestarteten Fahrer erblicken!
Doch dann ging es rechts ab, der technisch anspruchsvollere Teil der Strecke stand auf dem Programm. Bei der zweiten Zwischenzeit spielte sich wieder das gleiche Szenario ab – wieder Bestzeit! Logisch, denn auf dem Flachstück der ersten 11, 12 Kilometer hatte ich wohl unglaublich viel Zeit rausholen können. Ich war mir ziemlich sicher auch im Ziel die vorläufige Bestzeit – die Betonung lag hier jedoch auf vorläufig – übernehmen zu können, nahm deshalb aber trotzdem nicht die Beine hoch, sondern gab wirklich alles, holte nach eigner Auffassung das letzte aus mir heraus und schloss auf der Zielgeraden fast noch zum vor mir gestarteten Fahrer auf!
Ich rollte im Zielbereich locker aus bis Tino und Hans plötzlich vor mir standen und mich freudestrahlend umarmten – Tino grinste natürlich wie ein Honigkuchenpferd, immerhin hatte ich mit ihm das Zeitfahren besonders intensiv trainiert und wohl aus einer meiner größeren Schwächen eine Stärke gemacht.
Für eine ganze Viertelstunde war ich Erster von 72 Fahrern mit einem Vorsprung von 47 Sekunden auf den Zweitplatzierten! Ich hatte die 19,8 Kilometer in 29 Minuten und 35 Sekunden absolviert – ein Stundenmittel von 40,17! Doch dann kam ein Fahrer, der meine Zeit um acht Sekunden unterbot, während Sven schon auf der Startrampe stand und auf seinen Countdown wartete. Ich setzte mich mit in das Begleitfahrzeug und beobachtete meinen Freund bei seiner schier unfassbaren Vorstellung.
Sven war etwas kleiner und kräftiger als ich, brachte sogar mehr auf die Waage und konnte seine Zeitfahrmaschine daher so richtig in Schwung bringen. Nachdem er bei der ersten Zwischenzeit die Führung mit fast zwanzig Sekunden Vorsprung übernommen hatte, wies er fast schon spöttisch mit seiner rechten Hand auf seine Beine, die bei einer relativ niedrigen Kadenz trotzdem perfekt kreiselten und zeigte mit dem Daumen theatralisch nach oben. Er schien wohl die besten Beine zu haben, die man sich vorstellen konnte. Im Ziel übernahm er als elfletzter Fahrer die Führung mit sage und schreibe 40 Sekunden vor dem derzeit Führenden und war genau eine Minute und 31 Sekunden schneller gewesen als ich. Wir freuten uns bereits ausgelassen über unsre persönlichen Erfolge, mussten dann aber dennoch mit ein bisschen Enttäuschung dabei zuschauen, wie Svens Bestzeit, vor allem vom Vorjahressieger, förmlich pulverisiert wurde! Dieser legte die Strecke in nur 26 Minuten und 6 Sekunden zurück!
Doch das war uns egal. Sven lag am Ende auf Platz sieben mit 1’59 Minuten Differenz! Und ich hatte meine Erwartungen sowieso übertroffen: Zwar hatte ich für den Kurs 3 Minuten und 29 Sekunden länger gebraucht als der Sieger, aber mit Platz 21 war ich mehr als zufrieden...
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commandercharly
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Beitrag: # 6773591Beitrag commandercharly
24.6.2009 - 20:37

immer wieder spannend. Freue mich schon auf die Fortsetzung. Spiele selber mit dem Gedanken einen AAR zu verfassen, weiß nur nicht ob der bei mir als blutiger Anfänger so gut wird wie Eure.

Andy92
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Beitrag: # 6773598Beitrag Andy92
24.6.2009 - 21:35

Danke für dein Lob. Ich muss euch allerdings mitteilen, dass es jetzt gut eine Woche dauern könnte, bis ich wieder was schreiben kann. Ich habe in der Schule grad die letzte Phase mit zwei Schulaufgaben und zwei Referaten innerhalb von 4 Schultagen und am Wochenende bin ich vorraussichtlich auch nicht da :roll: .
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derottimito
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Beitrag: # 6773601Beitrag derottimito
24.6.2009 - 21:40

Wünsche dir viel Glück
Wer kämpf kann verlieren wer nicht kämpf hat schon verloren!!!!
Zweiter der Tippspiel Tour de France 2010. :)

commandercharly
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Beitrag: # 6773606Beitrag commandercharly
24.6.2009 - 21:58

Viel Glück und wird schon schiefgehen. Wird sicher schwerfallen auf die Fortsetzung zu warten aber wir haben ja Geduld.

Andy92
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Beitrag: # 6774102Beitrag Andy92
27.6.2009 - 22:25

Tja, da erlebt ihr wohl mal was anderes von mir. Hier kommt nämlich schon der nächste Teil. :D

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Sofort nach der Siegerehrung gingen wir rüber zum Zielbereich des Profizeitfahrens. Auch dort war das Rennen bereits beendet und es hatte laut Anzeigetafel einen ebenso klaren Sieger wie beim Juniorenrennen gegeben. Andreas Klöden wurde unter tosendem Applaus auf die Bühne gebeten. Er war ganze 48 Sekunden schneller als Bert Grabsch und 1 Minute und 38 Sekunden als Stefan Schumacher gewesen.
Während dem in diesem Jahr alleinigen Astana-Kapitän bei der Tour – Contador und Leipheimer konzentrierten sich ja auf die Vuelta beziehungsweise auch andere Rennen, da sie zurzeit eine Formschwäche hatten – zum ersten Mal in seiner Karriere das deutsche Zeitfahrmeistertrikot übergestreift wurde, suchte ich irgendwo weiter vorne im Zuschauerbereich und hinten bei den Teamwagen fieberhaft nach Jörg. Ich brannte förmlich darauf ihm zu erzählen, dass ich meine eigenen Erwartungen heute maßlos übertroffen hatte. Außerdem hatte er noch eine viel herausragendere Leistung vollbracht: Fünfter mit fast zwei Minuten Rückstand! Das musste gefeiert werden! Doch wie gesagt, sollte ich ihn heute noch nicht zu Gesicht bekommen.
Andererseits zeigte dieser Rückstand auch deutlich, wie hervorragend die Form eines Andreas Klöden war. Nicht nur, dass er zum ersten Mal ein Zeitfahrtrikot tragen durfte, nein, überraschenderweise schien ihm neuerdings seine Rolle als alleiniger Kapitän ziemlich zu gefallen. Er strahlte von der Bühne herab wie ein Honigkuchenpferd und genoss seinen Triumph. Man sah es ihm an, dass er genau wusste in der Form seines Lebens zu sein, vielleicht sogar in seinem stärksten, besten Jahr überhaupt...

Die deutsche Straßen-Juniorenmeisterschaft tags darauf war schnell erzählt. Das Rennen begann am Morgen und wurde für Sven und mich zu einer Kaffeefahrt – zumindest in der zweiten Rennhälfte. Zuvor hatte es unzählige Attacken gegeben, mehrere ständig wechselnde Spitzengruppen auf einem nicht allzu schweren Kurs. Dennoch ging der kleine Anstieg von Mal zu Mal schwerer in die Beine. 80 Kilometer waren zurückzulegen, das entsprach 10 Runden auf einem 8 Kilometer langen Rundkurs. Zudem führte die Zielgerade ebenfalls leicht bergauf, was uns in Runde 5 schließlich zum Verhängnis werden sollte.
Nachdem wir schon in zwei drei Spitzengruppen vertreten waren, so wie eigentlich jeder Fahrer, denn es gab kein Team, welches das Rennen einigermaßen kontrollieren konnte, hielten wir uns irgendwo im Pulk der rund 100 Teilnehmer auf. Das Tempo verschleppte zusehends, zunächst wusste keiner warum, doch dann kam die Meldung, dass sich eine 20 Mann starke Gruppe am Zielhügel abgesetzt hatte und bereits 2 Minuten voraus war. Die stärksten Teams waren vorne vertreten, und somit war es für die wenigen schwach besetzten Mannschaften, wie wir es eine waren, unmöglich wieder nach vorne zu kommen. Als wir uns schließlich an die Spitze des Feldes vorgearbeitet hatten, war der Rückstand schon auf drei Minuten angewachsen und so nahmen wir doch lieber gleich die Beine hoch.
Unsere Ziele hatten wir bei diesen deutschen Meisterschaften sowieso schon erfüllt beziehungsweise übertroffen. Außerdem wertete ich den Gersauer Bergcup am Sonntag sehr viel höher und so beschlossen wir gemütlich ins Ziel zu rollen. Am Ende betrug der Vorsprung der zerpflückten Spitzengruppe knapp über fünf Minuten! Mich interessierte nicht einmal wer gewonnen hatte, sondern ging gleich rüber zum Profilager – Sven natürlich auch. Vor dem Gerolsteiner Teambus hatte ich mich mit Jörg verabredet, doch wir trafen ihn schon auf dem Weg dorthin.
„Na, das lief heute aber nicht wirklich gut.“ Er kam lachend auf uns zu. „Hi, Andreas!“, rief er und wir begrüßten uns beinahe brüderlich. Ich war wirklich froh ihn endlich einmal wiederzusehen. Auch wenn ich mit der ersten Begegnung nicht nur positives verband...
„Mensch, wie lang ist das jetzt schon wieder her!?“
„Ein gutes halbes Jahr, die Zeit vergeht echt wie im Flug“, antwortete er. Das konnte ich zwar nicht wirklich behaupten, dennoch konnte ich es auch nicht wirklich glauben, dass wir uns fast vor einem halben Jahr zum letzten Mal persönlich gesehen hatten.
„Da hast du Recht, ja. Ach ja, das ist Sven, der Halbbruder von Alexander Gruber, vielleicht sagt dir der Name was.“
Sven und Jörg schüttelten flüchtig die Hände. „Hm, flüchtig, wenn wir über den Profi sprechen. Ich glaube das war sogar noch vor meiner Zeit und nicht wirklich eine schöne Sache, was mit ihm passiert ist, deswegen hab ich’s wahrscheinlich auch schnell wieder vergessen. Aber über sein Internat kennt ihn so gut wie der ganze Profizirkus. Immerhin wird er nächstes Jahr nicht all seine Leute übernehmen können, da spekulieren einige Teammanager schon sich einen der jungen Fahrer zu sichern. Und außerdem macht er dort wirklich klasse Arbeit, man sieht es ja an den Ergebnissen.“ Er legte eine kure Pause ein, in der irgendein Prozess in seinem Kopf ablief – er musterte Sven, dann machte es plötzlich Klick. „Sven von Klavsen richtig?“
„Genau, woher-?“
„Und ich dachte schon ein Niederländer hätte das Rennen gewonnen! Glückwunsch! Klasse Leistung! Das ist immerhin das schwerste Juniorenrennen in Europa, soweit ich weiß. Wenn sich das mal in den Palmarés nicht gut liest.“
Und damit war das Eis, wenn es überhaupt zwischen Sven und Jörg existiert hatte, gebrochen. Er führte uns zum Teambus von Gerolsteiner und traute uns ein paar Ersatzräder an, mit denen wir dann zu dritt eine kleine Runde drehten. Ganz locker, auch wenn das Rennen gerade eben nicht allzu anstrengend schien, waren wir dennoch vorsichtig. Wir unterhielten uns über unsre gestern und heute bestrittenen Rennen, gratulierten uns gegenseitig zu unseren Leistungen, sprachen über die Wettkämpfe am Sonntag, die Tour und über das Internat. Irgendwann während dieser ausgedehnten Unterhaltung lud uns Jörg auch noch in den Teambus ein, der allerdings, wie sollte es auch anders sein leer war, immerhin waren die Jungs der Mannschaft gerade entweder noch oder wieder zu Hause oder im Hotel. An den Gedanken dort öfters zu sitzen, hätte ich mich glatt gewöhnen können. Doch wir verließen den Bus schneller wieder als gedacht, denn mittlerweile pochten unsere Mägen doch mit äußerster Dringlichkeit auf Nachschub. So endete dieser Tag mit Jörg schließlich in einer Pizzeria. Wir bedankten uns für die Einladung zum Essen und gingen dann zurück zum Hotel, immerhin wollten wir noch an diesem Nachmittag zurück in die Schweiz fahren...
Zuletzt geändert von Andy92 am 19.7.2009 - 18:39, insgesamt 2-mal geändert.
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Andy92
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Beitrag: # 6778484Beitrag Andy92
11.7.2009 - 18:39

So, eigentlich hätte ich ja jetzt wieder Zeit zum Schreiben, nachdem ich die doch recht anstrengende vorletzte Woche, getreu dem Motto: "Ich leide so lange unter Motivationsproblemen bis ich Zeitprobleme bekommen", hinter mich gebracht hab und die restlichen vier Wochen, mittlerweile ja schon drei, Schulwochen bei uns eigentlich wie jedes Jahr überhaupt nichts mehr auf dem Programm steht - Absitzen ist wohl ein besserer Ausdruck dafür. Tja, aber leider mangelt es mir zurzeit ein bisschen an der Motivation, aber vor allem an den Ideen. Eigentlich stünde jetzt der "Gersauer Bergcup" auf dem Programm, aber ich hab überhaupt keine Lust dazu irgendwann mal mit dem Schreiben anzufangen und genauso interessant wird es dann auch die nächsten Teile zu lesen. Jetzt habe ich eine Woche lang vergeblich auf die Motivation gewartet, das heißt sie wird auch so schnell nicht wiederkommen, was wiederum bedeutet, dass hier jetzt erstmal Flaute herrschen wird. Sorry, aber das, was dabei jetzt rauskommen würde, will wirklich niemand lesen, also bitte ich um Geduld, ihr werdet in einigen Wochen sicherlich nicht enttäuscht werden, wenn es wieder weiter geht. Bis dahin werde ich mich meiner zurzeit außerordentlich hohen Trainingslust witmen, sowie vielleicht ab und zu etwas schreiben, ein bisschen vorarbeiten und wenn ich dann zufrieden bin auch wieder etwas posten. Keine Sorge, der AAR ist auf keinen Fall beendet, nur pausiert.
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commandercharly
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Beitrag: # 6778565Beitrag commandercharly
12.7.2009 - 0:39

Dann werden wir mal warten.

Andy92
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Beitrag: # 6780845Beitrag Andy92
19.7.2009 - 18:34

:D Motivation, Lust und Ideen sind wieder da! Ich wünsch euch viel Spaß bei diesem radsportlichen Feuerwerk in drei Teilen - der Gersauer Bergcup!

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10.Kapitel - 3500 Höhenmeter, 4 Stunden und 100 Kilometer

Der Samstag, der Tag vor dem Gersauer Bergcup, wollte einfach nicht vorübergehen. Dazu herrschte heute auch noch trostloses Wetter – mal war der Himmel von dunklen Wolken bedeckt, mal öffnete dieser seine Schleusen und ein ordentlicher Schauer prasselte herab. Während eines längeren trockenen Abschnittes kurz nach dem Mittagessen hatten wir bereits eine kleine Regenerationsausfahrt als Vorbereitung auf das morgige Rennen absolviert. Der restliche Tag galt jetzt ausschließlich der passiven Regeneration – abwechselnd vor dem Fernseher oder der Playstation.
Auch heute während der wenigen Kilometer, die ich im Sattel gesessen hatte, spürte ich deutlich, dass sich meine körperliche Verfassung gegenüber des Vortags noch einmal stark verbessert hatte. Schon von Donnerstag auf Freitag hatte ich diesen Effekt verspürt, aber bei weitem nicht so deutlich wie heute. Möglicherweise lagen mir Etappenrennen ja tatsächlich – andererseits war es wohl auch ganz normal, dass die Form bei drei, vier direkt aufeinanderfolgenden Rennen stark nach oben zeigte. Entscheidend waren jedoch die noch verfügbaren Kraftreserven nach dem fünften Tag, oder sogar in einer zweiten, dritten Woche. Oder hatte ich heute einfach nur einen perfekten Tag erwischt? Mit Blick auf morgen wäre das aber wohl der Supergau, denn normalerweise folgte bei mir auf einen superguten Tag ein relativ schlechter, schlimmstenfalls ein absoluter Tiefpunkt. Da man aber alles sowohl physisch als auch psychisch relativ empfindet, kam es mir wohl doch nur immer so vor, als erlebte ich nach so einer bestechenden Tagesform einen Einschnitt.
Kurzum: Wie so oft konnte ich mich für den nächsten Tag so gut wie gar nicht einschätzen. Auch morgen würde das Spiel mit der Tagesform reine Glückssache sein und wohl am meisten davon abhängen, wie gut ich heute Nacht schlafen werde, wie viel oder besser wie wenig Stress ich vor dem Rennen haben werde.
Ursprünglich hatten Sven und ich vor uns am Vormittag auf den Gipfel oder zumindest kurz davor zu begeben, um Melinda im Frauenrennen anzufeuern. Doch das hatte uns Alexander schließlich persönlich untersagt. Nur während der ersten Runde (die Frauen fuhren nur eine und nicht drei wie die Männer) konnten wir Melinda so vom Internat aus anfeuern, vor dessen Haustür das Rennen ja vorbeiführte, bevor wir uns dann hinunter nach Gersau begeben mussten, wo unser Rennen um 13 Uhr gestartet werden sollte. Für den mehr als anspruchsvollen Kurs war ein Schnitt von rund 25 Stundenkilometern berechnet worden – wie ich finde immer noch viel zu hoch gegriffen – was wiederum eine Fahrzeit von ungefähr vier Stunden ergäbe.
Während unsrer heutigen Ausfahrt hatten wir noch einmal die Abfahrt nach Lauerz in Augenschein genommen. Zumindest den oberen Teil durch den Wald, der technisch sehr anspruchsvoll war – wirklich was für Mountainbiker, sprich nichts für mich. Ein eher verwundener, ungefähr 800 Meter langer Weg führte zwischen den Bäumen hindurch und verband die Straße von Gersau mit der von Lauerz aus. Zwar hätte es auch einen breiten Forstweg gegeben, doch diesen Wanderweg wollte die Rennorganisation unbedingt einbauen, um den Schwierigkeitsgrad noch einmal zu erhöhen, als ob die Messlatte nicht schon hoch genug gelegen hätte...


Ich erwachte gegen acht Uhr. Melinda war wohl schon längst auf den Beinen, denn ihr Rennen begann bereits in rund zwei Stunden. Sie war mal wieder das erste, was mir direkt nach dem Aufstehen in den Sinn kam. Nicht ich selbst, nein, sie – aber das war ja auch verständlich, immerhin war sie das hübscheste Mädchen auf diesem Planeten. Da konnte auch ihre Abfuhr von vor zwei Wochen nichts ändern. Nur war sie jetzt auf eine andere Art und Weise wichtig und unverzichtbar für mich geworden, als Freundin. Und dennoch wusste ich genau, dass ich sie immer noch liebte, ja richtig liebte. Ich konnte einfach nicht auf ihre schiere Gegenwart verzichten, da war mir sogar ihre Freundschaft für relativ lange Zeit wichtiger als völliges Auseinanderleben. Das war auch so gut wie unmöglich in der jetzigen Situation. Immerhin fehlte bald nicht mehr viel und sie würde hier bei uns als Schülerin in der Talentschmiede richtig mittrainieren. Sicher würde ich irgendwann vor Verlangen verrückt werden, aber soweit, und da war ich mir sicher, würde ich es nicht kommen lassen.
Sicherlich wusste ich auch, dass meine Beziehung zu ihr auch Gefahren mit sich bürgte. Theoretisch hätte sie mich gnadenlos ausnützen können, denn ich war ihr sprichwörtlich ergeben. Kaum war sie in meiner Nähe, schon war ich wie betäubt. Aber genug davon, jetzt musste ich mich auf das Rennen vorbereiten.

Eine Viertel Stunde später saßen Sven und ich gemeinsam unten am Frühstückstisch und bestaunten einmal mehr, wie schnell sich das Wetter im Gebirge ändern konnte. Strahlend blauer Himmel – in der Ferne eine hohe Wolkenschicht. Alexander sagte uns, dass es heute wohl sehr schwül werden würde – am Nachmittag würde der Himmel höchstwahrscheinlich bedeckt sein, aber Regen war nicht vorausgesagt worden. Aber gerade ein wenig Abkühlung, vielleicht nicht gerade in Form eines Gewitters, wäre mir deutlich lieber gewesen, als schier unerträgliche Hitze. Mit unmenschlichen Wetterbedingungen aller Art kam ich hier im Internat zwar am besten zurecht – ein Kämpfer musste so was ja auch können – aber dennoch, musste man genau das auch wieder relativ sehen. Viel lieber hätte ich mich heute Nachmittag bei etwas angenehmeren Umständen am Rigi abgestrampelt. Nun ja, da war nichts zu machen. So musste ich meine Vorteile bei diesen Wetterbedingungen eben ausspielen. Und schon jetzt spürte ich, dass es heute gegen die Erwartungen ein guter Tag werden sollte. Ich hatte gut geschlafen, mir tat nichts weh, kein verspannter Hals und keine Nachwirkungen eines krummen Rückens während des Schlafs. Jetzt galt es vorerst so viel wie möglich zu essen, um die Energiereserven auf das absolute Maximum aufzufüllen.

Gegen halb elf standen wir schließlich in Vollversammlung draußen vor dem Internat – auch so hätte es durchaus genügend Zuschauer gegeben, die äußerst zahlreich und euphorisch am Streckenrand zu finden waren – die Radsportevents erlebten bei dieser perfekten Organisation einen echten Boom in dieser Region. Und da kam auch schon das Feld, noch geschlossen! Melinda und zwei weitere Mädels von uns, die am Rennen teilnahmen, fuhren ziemlich weit vorne – das sah wirklich gut aus. Weit vorne zu fahren war bei diesem Rennen wohl auch das A und O. Alexander schärfte uns das schon seit Wochen ein – von Anfang an vorne zu fahren, vor allem beim Schlussanstieg, denn Überholen war auf dem doch recht schmalen Schotterweg nicht gerade leicht.
Während wir nicht nur unseren Frauen, sondern auch allen anderen Teilnehmerinnen zujubelten und sie anfeuerten, fiel mir eine von ihnen besonders auf. Trotz Helm – sie trug keine Sonnenbrille – kam mir ihr Gesicht äußerst bekannt vor. Das Feld war schon längst vorbei, da fiel es mir wieder ein. Das war die Kommissarin, die im Fall meiner Mutter ermittelt hatte! Oh nein! Daran wollte ich heute nicht erinnert werden. Bloß nicht daran! Seit Wochen hatte ich die Geschehnisse innerhalb meiner Familie erfolgreich verdrängt, erst Anfang August hätte ich alles noch einmal aufrollen wollen und nach der Verurteilung meiner Mutter, die ja wohl hoffentlich nur noch Formsache war, endlich alles hinter mir gelassen, Abstand gewonnen und, sollte ich irgendwann noch Zeit haben, das Hirngespinst aus meinem Kopf befreien, das mich eine ganze Weile lang glauben lies, dass mein Vater noch leben würde.
Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, ob ich heute auch den Kollegen der Kommissarin sehen würde. An die Namen konnte ich mich schon längst nicht mehr erinnern – oder doch? Hagen, und...und Besson! Genau! So hießen die beiden. Jetzt bekam ich sie während des Essens um elf, des anschließenden Packens, Umziehens und Bereitmachens zum Rennen schon erst recht nicht mehr aus dem Kopf. Erst als wir runter nach Gersau rollten – das Rennen der Frauen war hier schon zum zweiten und letzten Mal vorbeigekommen – erhielt ich endlich wieder einen klaren Kopf und vergaß scheinbar alles um mich herum. Trotz der unglaublich drückenden Schwüle, als läge mein Schädel in einer Zange!

Endlich unten angekommen, ging es ein letztes Mal auf die Toilette, dann reihten wir uns gemäß der Startnummern, um die es im Vorfeld einen richtigen Kampf, sozusagen ein Rennen um das Rennen gegeben hatte, im vorderen Drittel ein. Das war zwar nicht optimal, aber das Beste was Alexander überhaupt erreichen konnte. Und er hatte uns wohlgemerkt bereits eine halbe Stunde nach der Ausschreibung angemeldet!
Ich traute meinen Augen nicht! Direkt vor mir mit der Startnummer 21 (ich hatte die 33) wartete Pierre Besson auf den Start – gerade hatte er sich umgeschaut. Zwar trug er im Gegensatz zu seiner Kollegin, mit der er, so reimte ich es mir jetzt zusammen, wohl auch trainierte, eine Sonnenbrille, aber sein doch recht markantes französisches Kinn erkannte ich sofort. Er hatte mich auch sofort entdeckt.
„Viel Glück, Junge“, rief er mir mit ernstem und konzentrierten Gesichtsausdruck zu. Anscheinend hatte er sich heute etwas vorgenommen. Seinen Ehrgeiz und seinen Willen konnte man ihm förmlich aus seinem „Pokerface“ herauslesen.
„Danke, ebenso“, antwortete ich – keine fünf Sekunden später ertönte der Startschuss, heute zugleich der scharfe Start...
Zuletzt geändert von Andy92 am 19.7.2009 - 22:01, insgesamt 1-mal geändert.
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Andy92
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Beitrag: # 6780923Beitrag Andy92
19.7.2009 - 22:01

Es gab kaum geschlossene Mannschaften oder Teams, zumindest keine, die ernsthafte taktische Manöver drauf hatten. Das war nun mal eher ein Jedermannrennen. Dafür gab es aber etliche stramme Burschen, die sich im Anstieg sofort profilieren wollten und schon unten im kurzen Kopfsteinpflasterbereich voll reinhielten. Sven folgte dem hohen Tempo, ich beschloss heute lieber eine andere Taktik zu wählen (wir hatten uns kurz vor dem Start abgesprochen) und suchte meinen eigenen Rhythmus, den ich zumindest über die drei Runden halten konnte. Dafür büßte ich jetzt allerdings einige Positionen ein, die Straße war aber auf den ersten gut 85-90 Kilometern breit genug um überholen zu können, abgesehen vom technischen Abschnitt oben im Wald, den ich aber auf keinen Fall auch nur in irgendeiner Form ausgepumpt erreichen wollte. Am Ende legte ich mich dort nämlich noch auf die Nase und dann war das Rennen wohl gelaufen. Also schön sachte und den eigenen „Rausch“ suchen.
Nach Gersau lag ich soweit ich das Rennen überblicken konnte ungefähr an fünfzigster Position und in der zweiten Gruppe. Die Tempoverschärfung, die eher einem Angriff oder besser gesagt einem sinnlosen Kräfteverschleiß glich, hatte bereits seine Wirkung gezeigt. Nicht alle Teilnehmer waren konditionell so gut, wie ich erwartet hatte. Einige würden bei diesem Rennverlauf das Ziel wohl nie erreichen, denn eine Jury bestimmte bei drohender Überrundung über Weiterfahren und Aufgabe eines Fahrers.
Besson erblickte ich auch noch in der ersten Gruppe – gut fünfzehn Ränge vor mir. Sein Fahrstil sah extrem gut aus, anscheinend war sein konzentrierter Gesichtsausdruck vor dem Start durchaus berechtigt gewesen. Zudem schien er eine ähnliche Taktik wie ich zu verfolgen, hatte aber bisher noch von seiner niedrigeren Startnummer profitiert. Möglicherweise war er heute sogar ein ernstzunehmender Gegner in Sachen Top 20 – mein persönliches Ziel für das Rennen.
Ich beschloss mich an ihm zu orientieren. Die Meter zu ihm hatte ich bis zum Internat locker und immer noch im gleichen Rhythmus fahrend aufgeholt. Dort grölten uns die Jungs mit einem ohrenbetäubenden Lärm zu! Bei dem bereits stark aufgefächertem Feld war es auch keine große Kunst Sven und mich zu erblicken. Von meinem Kumpel hatte ich aber seit dem Start nichts mehr gesehen. Hoffentlich war der Vorsprung der Spitzengruppe nicht schon zu groß. Danilo erledigte die Denkarbeit für mich – er hielt doch glatt ein Schild aus Pappe mit dem eigens gestoppten Abstand nach vorne hoch, als er mich erblickte, lief einige Meter neben mir her, konnte aber unmöglich mithalten und rief den Abstand noch einmal laut hinterher: 30 Sekunden. Das war in Ordnung. Mittlerweile fuhr ich neben Besson, fast an der Spitze der Verfolgergruppe. Zusammen überholten wir laufend weitere Fahrer, beinahe schleichend, aber dennoch eiskalt und einen nach den anderen. Diese wiederum hielten dann aber unser Tempo, oder versuchten es zumindest, bis sie schließlich einsahen, dass wir zu schnell waren. Schließlich fuhren wir an der Spitze der Gruppe.
„Dafür, dass du der jüngste Teilnehmer bist, hältst du aber verdammt gut mit“, meinte Besson plötzlich.
Ich musste grinsen. „Glauben sie mir, das ist noch lange nicht das Maximum. Ich hab mir vorhin nur gedacht, dass die sich da vorne erst mal austoben sollen.“
„Genau, lieber den eigenen Rhythmus suchen.“
Das Gespräch bestand im Grunde genommen mehr aus abgehackten Satzteilen, da wir trotz der geringen Anstrengung das Atmen nicht vergessen sollten. Und das war hier unglaublich wichtig. Ich fuhr heute ausnahmsweise nur mit Pulsuhr und hatte den Tacho im Internat gelassen. Schon während des Trainings hatte ich auf sämtliche Daten wie Geschwindigkeit und Trittfrequenz verzichtet, heute und für die Taktik, die ich mir vorgenommen hatte, zählte alleine die Pulsuhr – alles andere war unbrauchbares Zusatzgewicht, weswegen ich den ganzen Firlefanz gleich ganz weggelassen hatte.
Auf dem Display leuchtete im Moment eine große 142. Das war perfekt. Meinen Grundlagenbereich konnte ich bergauf sowieso unmöglich hallten (bis 138/139) und höher als 155 wollte ich auch nicht, denn das wäre dann schon eher etwas für höhere Tempi gewesen. Der Wert stieg bis zum Sattel noch ein wenig an – bis auf 150. Der Rückstand auf die Spitze war mittlerweile wohl noch größer geworden.
Schließlich wurde es flacher und ich führte eine ungefähr zwanzig oder dreißig Mann starke Gruppe (so weit hatte ich nicht nach hinten schauen können) in den technischen Abschnitt hinein. Ich hatte freie Fahrt und gute Sicht – es gab zwar einige Licht-Schatten Wechsel, aber dennoch jagte ich wie in Irrer über die Hubbel hinweg und zwischen den Bäumen hindurch, wo ab und zu wirklich nicht viel mehr als ein Rad Platz hatte. Die Abfahrt war im Wald durch einige Serpentinen noch relativ anspruchsvoll, dann ging es aber am Hang entlang in gewundenen Kurven rasant auf die grünen Wiesen hinaus – zwischen Hütten, Häusern und Almen hindurch nicht minder steil hinab nach Lauerz. Für den tiefblauen See direkt unter uns hatte ich leider kaum einen Blick übrig. Viel zu schnell waren wir unten im Tal, es ging um eine scharfe Kurve auf die Nationalstraße 2 am See entlang, die mir noch vom Ausflug mit Melinda durchaus bekannt war und um den Rigi herum. Immerhin hatten wir hier wieder Sichtkontakt zur Spitzengruppe. Es waren wohl ungefähr vierzig Sekunden, jetzt aber mit sinkender Tendenz. Zwanzig Fahrer lagen vorne, ungefähr zehn davon beteiligten sich ernsthaft an der Führungsarbeit, hier hinten waren das schon einige mehr. Hier im Flachen war das auch absolut notwendig für eine gute Abwechslung in der Führung zu sorgen. Und da sich nach dem ersten Anstieg bereits die Crème de la Crème dieses Rennens in den vorderen Gruppen befand, verstand dieses System auch wirklich jeder.
Jetzt bogen wir auf die Straße ab, auf der Melinda und ich vom Gewitter überrascht wurden. Als wir die Hütte am Straßenrand passierten, in der wir Schutz gesucht hatten, wurde meinem Herzen ein kleiner Stich versetzt. Ja, hier hatte ich einen Fehler begangen, aber das war jetzt auch schon wieder zwei Wochen her, also weg damit und Konzentration aufs Rennen, befahl ich mir!
Plötzlich ging es rechts ab und ein Stückchen den Berg hinauf. Die Steigung war aber kaum spürbar, da die Straße extrem schmal war und uns schließlich am Hang entlang hinunter zum Vierwaldstättersee führte. Dort folgten wir wieder der Nationalstraße 2 nach Gersau – ein schier endlos langer Streckenabschnitt im Vergleich zum Anstieg. Hier würde auch während der dritten Runde wieder viel zusammenlaufen, da war ich mir absolut sicher...
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Andy92
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Beitrag: # 6781055Beitrag Andy92
20.7.2009 - 12:51

Laut Danilos Schild betrug der Vorsprung der Spitzengruppe immer noch rund 50 Sekunden. Fünf Fahrer aus dieser waren mittlerweile zu uns zurückgefallen und auch unsre Gruppe war stark geschrumpft. Besson und ich würden wohl bald als Duo unterwegs sein, wenn das Rennen weiterhin so selektiv sein würde. Von den 150 gestarteten Fahrern waren die rund 130 Teilnehmer hinter uns wohl nur noch mehr oder weniger Einzelkämpfer. Mit Sicherheit waren noch nicht mal alle Starter am Internat vorbeigekommen, was zwangsläufig darauf hinauslaufen würde, dass einige das Rennen gezwungenermaßen aufgeben mussten.
Diesmal führte Besson die Gruppe in den technischen Abschnitt hinein und die Abfahrt hinunter. Sechs Mann konnten uns noch folgen und ich war mir sicher, dass einige von denen stärker waren als ich. Das zeigte sich schon im Flachen, als zwei Konkurrenten ordentlich aufs Tempo drückten. Ich beschloss mich an dieser Jagd nicht zu beteiligen, dafür hatte ich schon auf der ersten Runde zu viel Führungsarbeit übernommen und hängte mich einfach nur in den Windschatten. Zu meiner Überraschung folgte Besson meinem Beispiel. Mittlerweile schien sich er an mir zu orientieren und nicht umgekehrt. Seit ich auf der ersten Runde zu ihm aufgeschlossen hatte, war er am Berg keinen Meter in die Führung gegangen. War ich hier in der Region mittlerweile schon so bekannt? Zumindest in Radsportkreisen?
Nach gut zwei Stunden und fünfzehn Minuten Fahrzeit erreichten wir zum dritten Mal das Internat. Dort reichte mir (Verpflegung von Dritten war so gut wie überall auf der Strecke erlaubt) Alexander zwei neue Trinkflaschen. Schon während der vorigen Durchfahrt hatte ich von ihm zwei neue bekommen – insgesamt würde ich heute also sechs Stück benötigen. Trotz der drückenden Hitze – der Himmel war mittlerweile tatsächlich bedeckt – reichte mir das vollkommen aus. Andere Fahrer um mich herum schwitzten da schon um einiges mehr und verbrauchten nicht proportional, sondern scheinbar quadratisch mehr Trinkflaschen. Was ich überhaupt nicht verstehen konnte, war, wie man sich den Inhalt einer Flasche über den Kopf schütten konnte. Das war doch ein alarmierendes Zeichen dafür, dass man zu schnell unterwegs war und am Limit kratzte. Von solchen Maßnahmen zur Körperkühlung wollte ich wenn dann erst im Schlussanstieg Gebrauch machen.

Der Abstand zur Spitze war leicht gesunken – 35 Sekunden. Ich beschloss, da ich noch kaum Ermüdungserscheinungen verspürte, das Tempo ein wenig zu erhöhen. Schon alleine diese kleine Tempoverschärfung dezimierte unsre Gruppe auf vier Fahrer. Besson war natürlich weiterhin dabei und übernahm kurz vor dem Sattel die Führung. Ein letztes Mal folgten wir der holprigen Strecke durch den Wald und der schmalen und steilen Straße hinunter ins Tal. Physisch spürte ich zwar noch kaum etwas von nachlassender Leistung, aber meine Psyche hatte schon deutlich gelitten. Ich musste mich jetzt bei jeder Kehre aufs neue konzentrieren, ja mich sogar regelrecht aufwecken. Im Flachen wäre ich meinem Vordermann sogar fast aufs Hinterrad gefahren – ein unangenehmer Hallo-Wach Effekt, der mich fast zu Fall gebracht hätte. Die Strecke bis nach Gersau zog sich schier endlos in die Länge. Doch dann geschah etwas völlig unerwartetes.
An der 15 Kilometer Marke – also rund 5 Kilometer vor Gersau – beschleunigte Besson und zog davon. Ich überlegte kurz – sollte ich ihm folgen? Die anderen beiden in der Gruppe sahen sich verdutzt an, einer von ihnen schüttelte sogar niedergeschlagen den Kopf und verlor den Anschluss, da ich und der andere mir völlig unbekannte Fahrer das Tempo ein wenig erhöhten. Besson hatten wir mittlerweile völlig aus den Augen verloren. Doch ich wollte unbedingt an meiner Taktik festhalten und nicht zu früh attackieren – ich würde jedes Quäntchen Kraft auf den letzten drei Kilometern brauchen, wenn es endlich auf den geschotterten Weg hinauf zur Rigi Scheidegg ging.
Endlich erreichten wir Gersau. Sofort als es in den Schlussanstieg hinein ging, ab jetzt gab es kein einziges flaches Stück mehr, geschweige denn eine Abfahrt, erhöhte ich noch einmal die Schlagzahl. Schon auf dem ersten Kilometer holte ich drei Fahrer ein. Demnach dürften noch ungefähr 15 Fahrer vor mir liegen und somit hätte ich mein Tagesziel schon längst erreicht. Doch ich wollte auf Nummer Sicher gehen, außerdem hatte mich jetzt die Faszination dieses Rennens gepackt! Jetzt wollte ich aufs Ganze gehen und das Maximum herausholen!
Ich schaute mich um und war einmal mehr total überrascht – ich war Solist! Das Internat war erreicht und die mittlerweile absolut bewährte Abstandsanzeige von Danilo beflügelte mich zusätzlich – 20 Sekunden! Jetzt durfte ich bloß nicht überziehen. Doch nach bereits 500 Metern erreichte ich eine größere Gruppe – es waren zehn Fahrer – Sven war auch unter ihnen. Als ich ihn überholte erkannte ich sofort an seinem schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck, dass er am Limit war. Er zwang sich dennoch zu einem Lächeln und schickte mich mit einem Handzeichen an, meine Aufholjagd fortzusetzen.
Vorerst setzte ich mich nur an die Spitze der Gruppe und legte noch einmal eine Schippe nach. Sofort sprengte ich die Gruppe und eine weitere kleine Beschleunigung – heute wohl mein erstes angriffsähnliches Manöver legte die entscheidenden Meter zwischen mich und den Fahrern hinter mir, um ein für alle Mal wegzukommen. Schon tauchte vor mir der nächste Fahrer auf, auch er am Limit – hatte es hier vorhin etwa einen Angriff gegeben? Auch das nächste Duo kämpfte, als hätte es gerade erst den Anschluss verloren. Ich hatte augenscheinlich genau den richtigen Zeitpunkt getroffen, um das Feld von hinten aufzurollen, denn alle, die ich überholte, waren noch im absolut roten Bereich, fanden also keinen Rhythmus und konnten auch mir so nicht folgen. War es Besson gewesen, der hier attackiert hatte? War er so schnell vorne gewesen? Nein, das war so gut wie unmöglich.
Schneller als gedacht erreichte ich die Abzweigung nach links auf den Schotterweg, der am Hang entlang hinauf zu den in schier unendlicher Ferne liegenden Häusern führen sollte. Ich konnte es mir kaum vorstellen! Noch unglaublicher war es, dass der gesamte Höhenunterschied von rund 400 Metern auf einer Distanz von etwas mehr als 3 Kilometern zurückzulegen war – eine Steigung von fast 12 Prozent im Schnitt!
Ich schien förmlich zu stehen und musste jetzt auf das kleinste von meinen drei Blättern vorne schalten. Hier unten schaffte ich noch gute 14 Stundenkilometer – wohlgemerkt geschätzt. Ich richtete meinen Blick nach vorne und versuchte mich auf den nächsten Fahrer zu konzentrieren. Das war hier oben aufgrund der etwas geringeren Zuschauerzahl auch sehr gut möglich. Trotzdem hatte ich das Gefühl durch ein enges Spalier von unzählbaren Menschenmassen zu kriechen, was wohl daran lag, dass ich alles um mich herum nur noch verschwommen wahr nahm. Ich hatte den Tunnelblick, also noch keine schmerzenden, brennenden Oberschenkel, aber die Anstrengung war nicht nur spürbar, sondern schier übermannend.
Doch der Blick nach vorne beflügelte mich einmal mehr! Besson lag ungefähr 50 oder 60 Meter vor mir, davor lag noch ein Duo mit ungefähr 70 Metern Vorsprung auf Besson! Fieberhaft suchte ich den Weg weiter oben ab, aber da war niemand! Das konnte doch nicht wahr sein! Vierter! Ich war aktuell Vierter in diesem Rennen! Und obendrein auch noch deutlich schneller als das Duo an der Spitze. Auf Besson machte ich eher weniger Boden gut, doch sollte er zu den beiden Spitzenreitern aufschließen, dürfte er sie vorerst nicht überholen können, was mir wiederum in die Karten spielen dürfte.
Vorsichtshalber warf ich einen Blick zurück, doch von hinten schien niemand mehr heran zu kommen. Es folgte die erste Biegung, in der ich den Gipfel und meine drei Kontrahenten aus den Augen verlor. Nun ging es endgültig aufs freie Feld hinaus und ausschließlich zwischen den grünen Almwiesen hindurch. Doch auf der gesamten Wegstrecke bis zur nächsten Abzweigung gab es keine einzige Biegung. Der Gipfel schien währenddessen überhaupt nicht näher zu rücken. Noch immer thronten die Häuser in schier unerreichbarer Höhe vor mir auf dem dunklen Grün des Berges – im Hintergrund das gleichmäßige Grau der dünnen hohen Wolkendecke. Es war zwar eine düstere, aber dennoch keine unschöne Stimmung. Das Wetter löste viel mehr Erinnerungen an längst vergangene ausgedehnte Bergtouren aus. Damals hatte ich in solchen Situationen stets eine zweite Luft bekommen – so auch heute! Ich konnte noch einmal Kräfte mobilisieren und hielt das Tempo bis zur Abzweigung auf einen noch schmäleren, steileren und steinigeren Weg nach rechts direkt in den Hang hinein. Hier betrug die Steigung stets ungefähr 20 %! Ich schaltete vorsichtshalber auf meine zweitkleinste Übersetzung runter, nur um festzustellen, dass der allerkleinste Gang der richtige war. Es war brutal steil! Und dennoch schmolz der Vorsprung der Spitzengruppe rapide zusammen!
Mit ungefähr 9 Kilometern pro Stunde schlich ich jetzt wohl den Berg hinauf, konnte sogar wieder zwei Gänge höher schalten. Tatsächlich hatte Besson zum Duo vorne aufschließen können, und obwohl er wohl eindeutig schneller gewesen wäre, konnte er einfach nicht vorbei fahren. Und so kam ich immer näher und näher. Als ich endlich den Gipfelgrad erreichte, warf ich noch einmal einen letzten Blick zurück – dort unten, 100 Höhenmeter unter mir und rund 500 Meter zurück bog erst jetzt der nächste Fahrer in den unglaublich steilen Abschnitt. Für diese Wand hatte ich fast vier Minuten benötigt! Jetzt waren es noch gute 2 Kilometer bis ins Ziel, soweit ich das noch im Kopf hatte und noch klar denken konnte, denn diese Distanz erschien mir schon wieder wie eine Utopie. Zwar war klar, das jetzt niemand mehr von hinten herankommen würde, dennoch, der Gipfel schien jetzt plötzlich wie zum greifen nah und trotzdem waren es noch verdammte 2 Kilometer! Wie konnte das sein?
So ähnlich musste man sich am Mont Ventoux wohl auch fühlen, dachte ich. Dort sah ja auch alles so flach aus, und der Gipfel war ständig zum greifen nah, doch in Wirklichkeit lagen noch etliche Biegungen und vor allem unglaubliche Steigungsprozente dazwischen, zwar nicht so extrem wie hier, aber dennoch unsichtbare Höhenmeter und im schlimmsten Falle verbunden mit einem mächtigen Gegenwind, der einen zur Verzweiflung trieb.
Noch zehn Meter Rückstand! Gleich war ich dran. Gleich hatte ich es geschafft und das Rennen begann von Neuem. Ich quälte mich die letzten Meter an Bessons Hinterrad heran, dann endlich, als wir den Gipfelgrad wieder verließen und es spürbar flacher wurde. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie steil es hier jetzt wirklich war, denn das einzige, an was ich jetzt noch denken konnte, war, bloß dran zu bleiben. Mit Sicherheit betrug die Steigung hier auch noch so um die 8 %, doch im Gegensatz zu mehr als einen Kilometer mit 20 %, war das eine echte Erlösung. Schnell schaltete ich auf das höhere Blatt, um den Anschluss zu halten. Jetzt begriff ich auch, warum es noch zwei Kilometer waren. Bis zum Gipfel war es immer noch ein gutes Stück, nur hatte sich dieser etwas flachere Abschnitt, eine Art Hochplateau, hinter den steilen Rampen von eben versteckt.
Und plötzlich – an der 1000-Meter-Marke – standen wieder unzählige Zuschauer am Streckenrand. Wir passierten das erste Haus, rechts oben, an diesem sehr, sehr steilen Hang, oder besser gesagt an diesem Hügel auf dem Berg, klebte der Rest dieser Sommersiedlung, dort war die Gipfelstation der Seilbahn, mit der ich nachher zurück ins Tal konnte, so wie die meisten anderen Zuschauer und Rennfahrer auch, und dort oben konnte ich auch für einen kurzen Augenblick zwischen den Giebeln das Zielbanner aufleuchten sehen.
Die angenehme Stimme eines Rennmoderators drang an meine Ohren – es war unglaublich laut hier oben! Das ganze Geschrei verzerrte sich zusehends, da wir wieder etwas schneller unterwegs waren. Der Weg wurde wieder breiter und der Untergrund verleitete zu Höchstgeschwindigkeiten. Es waren in Sand von unzähligen Wanderern festgestampfte feine Kieselsteine, ja fast schon ein Asphaltimitat. Im Gegensatz zu eben, rollte es jetzt nur noch so dahin.
Schon als wir die Bergstation erreichten, wo es rechts ab und in den allerletzten steilen Bereich ging, erwartete ich den ersten Angriff von einen der Dreien. Doch noch immer machte der vorhin für Besson viel zu langsame Fahrer das Tempo. Der Weg machte einen Knick nach rechts und es ging um eine scharfe Kehre wieder nach links. Jetzt begannen die Qualen von Neuen! Direkt unterhalb des Gipfels entlang und wieder sehr viel steiler als noch gerade eben. Trotzdem konnte oder besser gesagt musste ich das mittlere Kettenblatt halten, denn am Ende dieser „Geraden“ verschärfte der Fahrer an zweiter Stelle das Tempo – er ging aber nicht aus dem Sattel. Besson schnappte sich sein Hinterrad, während ich ihm um die Biegung herum hinterher raste. Es folgte die nächste Gerade – und wir waren nur noch zu dritt. Zwar verschleppte der Führende das Tempo jetzt, da er merkte das Besson und ich das Tempo „locker“ mitgehen konnten. Der gerade abgehängte Fahrer schien seinen Rhythmus beizubehalten und kam wieder näher. Besson scherte nach rechts aus und sah sich über seine rechte Schulter um – danke! Ich nutzte die einmalige Chance und jagte zwischen den beiden Führenden hindurch – im Sitzen natürlich! Jetzt hätte ich doch gerne einen Tacho gehabt – meine Pulsuhr zeigte einen Wert jenseits der 180er! Ich war am Limit, das wusste ich, aber jetzt zählten vielleicht nur wenige Meter Vorsprung!
Ich schaute mich um, es waren ungefähr sieben Meter, die ich durch den Überraschungsmoment zwischen mich und Besson gebracht hatte. Der dritte im Bunde hatte sich an dessen Hinterrad geklemmt und hatte den deutlich runderen Tritt als sein Vordermann. Ich versuchte noch einmal zu beschleunigen. Es kam eine T-Kreuzung und eine beinahe 180-Grad-Kurve nach rechts, in der ich viel Geschwindigkeit verlor. Die beiden waren wieder dran und ich nahm ein wenig an Tempo raus, wollte ihnen aber keine Ruhe gönnen. Außerdem wollte ich mir das Podium absichern und den vierten Mann hinter uns nicht wieder wie vorhin näher rankommen lassen!
Jetzt erreichten wir die ersten Ferienhäuser. Es war die letzte ungefähr 100 Meter lange Gerade, dann ging es zwischen Häusern und einigen Nadelbäumen hindurch, um die erste Kehre, wieder vom Grad weg. Ich schaute mich um, keiner wollte die Führung übernehmen. Na super! Durfte ich den Sprint jetzt also von vorne anfahren?
Es war wieder super steil. Dennoch schätzte ich unsre Geschwindigkeit auf ungefähr 18 Stundenkilometer, Tendenz fallend, denn ich wollte jetzt keine Kräfte mehr investieren, außerdem kam der Viertplazierte noch immer nicht um die vorige Kehre, während wir schon die nächste in Angriff nahmen. So wie ich das in Erinnerung hatte war es die vorletzte! Jetzt schoss mir auch schon das Adrenalin in die Adern! Die Spannung war förmlich spürbar, ständig schaute ich mich um – wann trat einer der beiden an?
Die Zuschauer jubelten uns zu, feuerten uns an. Mit Sicherheit war es hier oben steil, doch wie gesagt war es nichts im Vergleich zu den 20-25% von vorhin. Hier konnte man sich beinahe schon wie in der Ebene fühlen.
Und da schoss er an mir vorbei! Besson hinterher! Ich beschleunigte hoch! Musste aufs große Blatt schalten, um dran zu bleiben – ging sogar aus dem Sattel! Doch die Lücke wurde immer größer – zwei Meter, drei Meter, schleichend, und dennoch konnte ich nichts dagegen machen. Wir rasten mit gefühlten dreißig Stundenkilometern um die letzte unglaublich langgezogene Kehre! Der Moderator schrie sich die Kehle aus dem Leib und ich bemerkte im Augenwinkel doch tatsächlich eine Art Tribüne! Nein, das war jetzt egal! Gleich waren wir auf der Zielgeraden – und ich musste vorher doch den Kontakt wiederherstellen. Doch meine Oberschenkel brannten wie verrückt! Gleich machten meine Beine zu, ich konnte die Sekunden schon runterzählen – da sickerte das Gefühl der totalen Übersäuerung in meine Lunge! Oh! Ich hätte kotzen können!
Ein Blick zurück – keiner in Sicht! Das Podium war gesichert, denn überraschenderweise war die Zielgerade kürzer als ich dachte, oder kam es mir aufgrund des Sprints und der abnormal hohen Geschwindigkeit nur so vor? Der unbekannte Fahrer hatte gute zehn Meter auf Besson gut gemacht und reckte die Arme in die Luft. Ich hatte letztendlich ungefähr vier oder fünf Sekunden Rückstand – hier oben war es wenigstens absolut flach. Völlig entkräftet warf ich mich über die Ziellinie, nahm nur noch im Augenwinkel die Zahl 198 auf dem Display meiner Pulsuhr wahr! Maximale Pulsfrequenz? Mit Sicherheit....

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Der Gipfel der Rigi Scheidegg - ganz rechts die Zielgerade und links die letzten drei Kehren.
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Andy92
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Beitrag: # 6781202Beitrag Andy92
20.7.2009 - 21:28

Ich rollte mehr oder weniger locker aus, während ich mir ernsthaft über die Wichtigkeit dieses Rennens Gedanken machte. War das hier wirklich ein Jedermannrennen? Ich schätzte die Zuschauerzahl jetzt mal grob auf 5000 – und das alleine hier oben auf dem Berg, der ja so groß nun auch wieder nicht war. Auf alle Fälle waren es viel mehr als noch vor rund drei Monaten auf dem Ächerlipass, das war absolut klar.
So langsam kam ich wieder runter, nahm einen Schluck aus meiner Trinkflasche und warf einen Blick auf meine Fahrzeit: Die Uhr lief zwar noch (ich stoppte sie), aber so ungefähr kam das wohl hin – 4 Stunden und 2 Minuten. Ich blickte hinüber zum Podium, wo auf einer kleinen Anzeigetafel der Rückstand mitlief. Mittlerweile waren eine Minute und 20 Sekunden vergangen. Der Vierte, den wir drei kurz vor dem Ziel abgehängt hatten, war wohl auch schon ins Ziel gekommen. Sofern der Rückstand von vier Minuten zu den Fahrern hinter mir noch stimmte, so mussten wir wohl noch lange auf das restliche Teilnehmerfeld warten – ich war sowieso gespannt wie viele von den ursprünglich 150 gestarteten Fahrern das Ziel erreichen würden.
Jemand klopfte mir auf die Schulter. „Klasse Rennen“, keuchte Besson und lächelte mir zu. Er war aus der Spitzengruppe der einzige gewesen, der nicht angegriffen hatte, doch der Sieger war heute eindeutig zu überlegen gewesen.
„Kennen Sie den Sieger? Der hat ja immerhin zweimal angegriffen – so viel Kraft hatte kein anderer.“ Ich musste husten, ein deutliches Zeichen dafür, dass ich total überzogen hatte. Doch wie sagte Lance Armstrong? – Jedes Mal wenn ich Leide, werde ich besser –
„Den kennst du nicht?“ Besson wirkte leicht überrascht, fast entrüstet. „In Mountainbikekreisen ist der eigentlich sehr bekannt, aber ich glaube du konzentrierst dich ja mehr auf die Straße. Das war Victor Kiefer, 20 Jahre jung, letztes Jahr der große Shootingstar aus Martigny in Sachen Mountainbikesport.“
„Der war aber nicht in Topform heute, oder?“, fragte ich verdutzt.
„Nein, ich glaube nicht. Er bereitet sich dieses Jahr eigentlich ausschließlich auf die olympischen Spiele vor, soweit ich informiert bin. Und lässt dabei eigentlich alle großen Mountainbikeereignisse aus.“
„Und warum war er dann hier dabei?“
„Weil er vom Veranstalter eingeladen wurde, gegen Bezahlung natürlich. Deswegen waren die Startplätze auch so begehrt, weil alle einmal gegen einen der großen Stars antreten wollten. Ich natürlich auch“, lachte Besson.
Genau in diesem Moment kam der Fünfte ins Ziel – rund fünf Minuten Rückstand für ihn. Gleich würde wohl auch Sven das Ziel erreichen, da wollte ich natürlich dabei sein.
Ich versuchte das Gespräch, nichts gegen Besson, ich fand ihn eigentlich äußerst sympathisch – zumindest privat – so schnell wie möglich zu beenden, doch das erübrigte sich völlig unerwartet wie von selbst.
„Hey, Andreas!“, klingelte es wie Musik in meinen Ohren. Ich wusste sofort wem diese wunderschöne Stimme gehörte!
„Mal wieder der Beste aus dem Verein!“, rief Melinda und rollte mit einem milden Lächeln auf den Lippen auf ihrem MTB sitzend zu uns herüber. Nach und nach hatte sich der Zielraum doch zusehends gefüllt, da jetzt immer mehr und mehr Fahrer das Ziel erreichten.
„Also, wir sehen uns dann bei der Siegerehrung“, grinste Besson. Ich nickte ihm kurz zu, dann war er auch schon im Gedränge verschwunden.
„Du weißt gar nicht wie hart das zum Schluss war“, raunte ich Melinda zu und täuschte dabei noch ein wenig mehr Erschöpfung vor, als ich eigentlich verspürte.
„Das glaub ich dir. Allerdings vergisst du, dass ich den Berg auch hochgefahren bin.“
„Oh ja, welcher Platz?“
„Achte!“, rief sie und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wir umarmten uns kurz und klopften uns gegenseitig auf die Schultern.
„Sau geil“, stieß ich hervor – sie schien die Doppeldeutigkeit wenigstens nicht zu bemerken –und schüttelte bloß noch den Kopf. So gut hätte ich uns alle niemals eingeschätzt, vor allem mich selbst nicht. „Komm, wir schauen mal nach Sven.“

Wir rollten die Zielgerade zurück fast bis vor zum Zielstrich. Die Zeit auf dem Podium war mittlerweile bei rund acht Minuten angelangt. Laute Musik begann zu spielen und lies förmlich den ganzen Berg erzittern.
„Wo ist eigentlich Alexander?“, wollte ich wissen.
„Der müsste eigentlich auch gleich kommen. Der saß glaube ich auf der Tribüne, aber da seh’ ich ihn jetzt gerade nicht mehr“, meinte Melinda.
Jetzt waren schon neun Minuten seit meiner Zieldurchfahrt vergangen! Und da kam endlich Sven um die letzte Kehre. Sehr viel langsamer als ich – aber dafür war er auch als Solist unterwegs und musste nicht mehr sprinten. Er erblickte uns sofort und kam neben uns zum stehen, lehnte sich völlig entkräftet auf den Lenker. Ich klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. „Zwölfter! Klasse, Mann!“, rief ich.
„Ja, so fühlt es sich auch an“, entgegnete Sven – Melinda und ich mussten lachen.

Ab einem Rückstand von zehn Minuten erreichten schließlich auch größere Gruppen das Ziel. Erst als die Uhr bei 15 Minuten angelangt war, stieß schließlich auch Alexander zu uns – er war völlig baff. Von jedem einzelnen. Vor allem von seinem Halbbruder war er sehr überrascht worden, wie er fand, da er ihn an solch langen Anstiegen nie so stark eingeschätzt hätte – ihm lagen nun mal die kurzen knackigen Hügel mehr.
„So, jetzt möchte ich euch Jungs auch gleich noch etwas ankündigen, was den nächsten Sommer anbetrifft. Dazu muss ich aber erst noch wissen, ob euch das heute überhaupt `Spaß´ gemacht hat:“
„Klar! Ich liebe solche selektiven Rennen!“, rief ich sofort. Sven nickte bloß und setzte ein fettes Grinsen auf.
„Na, zum Glück. Ich denke mal, ihr rechnet beide nicht unbedingt damit nächstes Jahr in die Continental-Mannschaft aufgenommen zu werden. Das wäre eine ziemliche Utopie und ich würde euch bloß verheizen. Sven du bist nächstes Jahr zwar 18 und du Andreas bist 17 beziehungsweise dann im Sommer auch schon 18, aber trotzdem wäre das noch zu, ja, es wäre wohl einfach zu hart für euch. Deshalb habe ich aber ein anderes Highlight für euch. Ich weiß noch nicht genau, wie es aussehen wird, aber zwei Etappen sind schon mal gesichert. Das Rennen, von dem ich spreche, findet Mitte August statt, glücklicherweise, denn man muss dort über 18 sein, um teilnehmen zu können. Es gibt wohl auch ein nicht gerade unbedeutendes Preisgeld. Die Strecke ist noch nicht genau draußen, aber letztes und dieses Jahr führte es von Lauterbrunnen nach Grindelwald und am zweiten Tag von dort auf das Faulhorn – alles Offroad versteht sich. Da jetzt aber ein neuer großer Sponsor mit einsteigen soll, gibt es angeblich einige Veränderungen. Hoffen wir mal, dass es am Ende nicht zu viele Etappen sind, dann können wir das ganze nämlich wieder vergessen. Und wie wär’s, hört sich doch eigentlich ganz interessant an. Ich denke mal als Ziel könnten wir uns einen Platz unter den Top 20 vornehmen.“
„Wenn dort nicht Fahrer teilnehmen, die stärker sind als der heutige Sieger, aber sicher doch“, entgegnete ich. Man konnte fast sagen, dass für mich ein Traum war wurde. An so einem Event hatte ich schon immer mal teilnehmen wollen. Zwar vielleicht etwas später, aber wenn diese Chance schon früher kommen sollte – Nein würde ich mit Sicherheit nicht sagen.
„Hm, da muss ich dich wohl enttäuschen. Aber ich bin mir sicher, dass Victor Kiefer dort nächstes Jahr teilnehmen wird. Das Rennen ist ein unabhängiges Event, keiner speziellen Serie wie dem Weltcup untergeordnet, aber es gibt massig Preisgeld zu gewinnen und es gilt mittlerweile als ein Prestigerennen. Da werden sich auch einige Profis Rennhärte holen wollen.“
„Oh, oh“, lachte ich.
„Wer ist denn dieser Kiefer?“, fragte Sven, immer noch mit schweißüberströmten Gesicht.
„Der Sieger von heute“, antwortete ich.
„Achso, auf welchem Platz bist du eigentlich gelandet?“
„Dritter“, gluckste ich – eigentlich konnte ich es immer noch nicht fassen. Das Rennen war heute so grandios verlaufen und meine Taktik perfekt aufgegangen. Einen Podestplatz hätte ich mir wirklich nie im Leben erträumt.
„Wow!“, stieß Sven bloß hervor.

Plötzlich tauchte ein Rennkommissar auf und bat mich, ihm zur Siegerehrung zu folgen. Ich verabschiedete mich kurz von den anderen und erklomm bereits vier Minuten später mit einem breiten Grinsen das kleinste der drei Podeste auf der Bühne!
„Meine Damen und Herren! Andreas Wagner ist mit gerade mal 16 Jahren – so weit ich informiert bin wird er in gut einem Monat 17 – der jüngste Teilnehmer im Feld! Der Dritte Platz für ihn eine absolut herausragende Leistung, wie ich finde!“ Applaus brandete auf...


Sage und schreibe 130 Teilnehmer erreichten das Ziel auf der Rigi Scheidegg. Und so kamen wir erst gegen 20 Uhr vom Berg runter und ins Internat zurück. Und so ging auch endlich dieser lange, schwere Tag zu Ende. Alexander hatte uns für morgen frei gegeben. Doch vor dem Zubettgehen wollte ich noch nach den Ergebnissen der Nationalen Meisterschaften im Internet recherchieren, vor allem interessierten mich natürlich die Deutschen. Und da gab es eine unglaubliche Überraschung – Andreas Klöden schien in Topform zu sein und hatte sich so aus der goldenen Ausreißergruppe des Tages heraus zum zweiten Mal in seiner Karriere nach 2004 den Titel des deutschen Meisters gesichert. Jetzt war er sogar zum ersten Mal Doppelmeister geworden! Unglaublich – der Deutsche schien seit dem Tourverzicht seiner Teamkollegen Contador und Leipheimer einen zweiten Frühling zu erleben und zählte jetzt neben einem gewissen Lance Armstrong vom Team Columbia zu den absoluten Topfavoriten auf den Toursieg 2008! Hatte mich der Profiradsport im Juni doch relativ wenig interessiert, so konnte ich jetzt den nächsten Samstag kaum noch erwarten. Oh Mist! Nächstes Wochenende stand ja das Spezialtraining über den Klausenpass, das Kriterium in Walenstadt, dort ein Ruhetag und anschließend die Heimfahrt über den selbigen Pass zurück ins Internat an. Na ja, die ersten drei Etappen dürften in Sachen Gesamtwertung ja noch keine allzu große Überraschung bringen, vielleicht das Zeitfahren am Dienstag, aber so schlimm war das jetzt auch wieder nicht. Den Rest der Tour würde ich aber voll und ganz genießen können. Dann nämlich hatten wir Sommerferien und darüber hinaus auch noch keine Rennen mehr.
Der nächste Termin war erst die Gerichtsverhandlung im Fall meiner Mutter, anschließend mein Geburtstag am 8. August. – da fiel mir gerade auf, dass ich während des Etappenrennens Geburtstag hatte! Dieses lief vom 7. bis zum 10. August. Auch nicht schlecht, dachte ich mir und schaltete den Computer wieder aus.


In der folgenden letzten Schulwoche standen zumindest hier im Internat noch einmal Prüfungen an, die ich aber alle relativ gut meisterte. Radsporttechnisch gesehen diente diese Woche zur Regeneration. Tino war nämlich der Meinung, dass wir meine Form jetzt wieder neu aufbauen müssten – und spätestens am Donnerstag, als ich die erste etwas längere Ausfahrt zusammen mit Melinda bestritt, spürte ich es schließlich auch am eigenen Leib. Sie hängte mich nämlich hinauf zum Internat locker ab. Am letzten Sonntag hatte ich wohl tatsächlich den letzten Tag meiner bereits über Wochen andauernden Topform erwischt. Oh je, dachte ich mir, das Sprichwort, nach dem hohen Flug kommt der tiefe Fall, traf wohl in Sachen Radsporttraining durchaus zu. Der Klausenpass und das Kriterium in Walenstadt würden mir aber sicherlich dabei helfen meine Form wiederzuerlangen, da war ich mir sicher...
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Andy92
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Beitrag: # 6781486Beitrag Andy92
21.7.2009 - 20:05

Vor dem Klausenpass hatte ich doch ein wenig Bammel. Gerde deshalb, weil ich meine Kräfte überhaupt nicht mehr einschätzen konnte. Noch letzten Sonntag hatte ich mich unschlagbar gefühlt – und jetzt das! Diesmal lag es wenigstens nicht an der Psyche, das stand fest, denn Melinda und ich kamen uns immer näher – zumindest geistig gesehen. Körperlich vielleicht auch, aber das spürte ich im Moment nicht.
Viel wichtiger war es jetzt, im Formaufbau für das Etappenrennen Mitte August keine Fehler zu machen – mein persönliches Highlight in diesem Jahr. Doch da war ich mir nach dem vergangenen Sonntag gar nicht mehr so sicher. Ich hatte mich auf der Rigi Scheidegg zwar völlig verausgabt, aber ein geiles Rennen war es trotzdem gewesen. Nicht nur wegen der grandiosen Stimmung von den Zuschauern her. Es war einfach genau die Art von Rennen, die ich liebte. Selektiv, gnadenlos, das letzte aus jedem Mann fordernd! Da konnte ich meine Stärken ausspielen. Auch wenn es am Sonntag nicht gereicht hatte – Kiefer hatte das Rennen übrigens souveräner gewonnen, als es zunächst aussah – so hatte ich mich doch in solche „Rad-Events“ verliebt. Es wäre vielleicht ganz anders gekommen, wenn ich weit abgeschlagen, als 100. oder so ins Ziel gekommen wäre. Dann hätte ich wohl gesagt: „Einmal und nie wieder! Adieu dem Mountainbikesport! Gepriesen sei das Rennrad!“
Doch jetzt würde es nicht mehr dazu kommen. Ich war mir im Moment sogar nicht mal darüber im Klaren, auf welche Art des Radsports ich mich konzentrieren wollte. Als Event Jäger ein, zwei Jahre rumziehen, Preisgelder einsacken und sonst ein absolut freies Leben genießen, das wäre schon cool. Allerdings brauchte man für so etwas ja auch Sponsoren, also ganz ohne Verpflichtungen ging es dann wohl doch nicht.

Während ich mich also in einem Formtief befand, erlebte Melinda gerade ein Hoch. Kein Wunder, denn sie hatte ja erst vor ein paar Wochen mit dem Training angefangen. Ich dagegen befand mich gerade wohl eher im Übertraining – die Anzeichen waren schon deutlich zu sehen. Deshalb sollte ich das Wochenende schön ruhig angehen – schon nach der Hälfte des Passes verlor ich den Anschluss an den großen Rest der Gruppe. Sven, Danilo, Michael und noch drei andere Jungs waren vorne, ich schlug mich den restlichen Anstieg zusammen mit Melinda durch. Irgendwann fuhren wir so langsam, dass wir uns unterhalten konnten und stießen mit rund sieben Minuten Rückstand auf der Passhöhe zu den anderen – das Auto mit Tino und Alexander erreichte den Pass noch mal fünf Minuten später, da die beiden etwas später losgefahren waren und brachten die ersehnte Verpflegung mit. Jetzt gab es erst mal in herrlichem Ambiente, mit Alpenpanorama und Blick auf die Gletscherwelt des Tödis Mittagessen.
Am Nachmittag ging es hinunter zu den Churfirsten, die wie eh und je in ihrer ganzen Pracht über dem Walensee thronten. Wir folgten dem Seeufer bis nach Walenstadt, übernachteten dort und am nächsten Morgen stand dann auch schon das Kriterium an. Ein absolut „billiger“, flacher Rundkurs in der Stadt. Das Wetter war leider schon nicht mehr ganz so gut, wie gestern auf der Hinfahrt, für Montag war sogar etwas Regen voraus gesagt worden und noch wussten wir nicht, ob wir überhaupt wieder mit dem Rad zurück fahren sollten.
Das Rennen verlief ziemlich ruhig. Ich hatte bei relativ geringem Tempo kaum Probleme meine Arbeit für unseren Sprinter zu verrichten. Wir hatten immer einen Mann in den Ausreißergruppen, kontrollierten das Rennen also schier nach belieben. Zum Schluss musste dann doch auch noch tatsächlich ich den Sprint anziehen, da ich bis dahin im Gegensatz zu den anderen noch keine Kräfte verschwendet hatte. Für die zwei Runden, auf denen ich keinen Ausreißer mehr weglasen durfte, reichte das auch so gerade noch – 500 Meter vor dem Ziel ging ich entkräftet aus der Führungsarbeit und lies mich zurückfallen. Und wie sollte es anders sein – die Konkurrenz war nicht wirklich stark – siegte unser Sprinter beinahe souverän.
Mit einem Lächeln auf den Lippen ging es so gleich wieder am nächsten Morgen – die Sonne schien entgegen allen Erwartungen noch bis Mittag – zurück über den Klausenpass per Rad. Den Ruhetag am See konnten wir uns leider nicht mehr gönnen, da ab Dienstag Dauerregen vorausgesagt wurde.
Doch der Regen setzte schon kurz nach dem Mittagessen auf der Passhöhe ein. Hektisch hatten wir dort oben das Essen abgebrochen, da der Himmel plötzlich zu zog – über den Bergkamm des Tödis war das schlechte Wetter urplötzlich herüber gezogen – und so jagten wir im einsetzenden Regenguss ins Tal hinab. Die Straße war zum Glück noch nicht ganz nass und so hatten wir noch die Hoffnung relativ trocken ins Tal zu kommen. Doch diese Hoffnung wurde jäh unterdrückt, als es plötzlich richtig zu schütten begann. Wir hielten an und zogen uns die Regenjacken über. Jetzt ging die Fahrt etwas langsamer und vorsichtiger weiter. Als ich endlich unter uns den Vierwaldstättersee erblicken konnte, verlies mich für einen Moment die Konzentration und ich bremste auf die vorletzte Kehre viel zu spät an. Sofort erkannte ich, dass ich die Kurve unmöglich kriegen würde und fokussierte bereits die Leitplanke, um mich abzufangen – ich sah das Unheil auf mich zu kommen, konnte aber nichts dagegen machen! Es war ein schreckliches Gefühl, doch bevor ich die Leitplanke überhaupt erreichte, riss es plötzlich mein Vorderrad weg! Ich knallte auf den Asphalt und rutschte noch ein ganzes Stück weiter – zum Glück war nicht allzu viel Verkehr und hinter mir fuhren eh Alexander und Tino, die stets etwas Abstand ließen. Ich schlitterte mitsamt dem Rad und eingeklemmten Bein in die Böschung und verhakte mich glücklicherweise in einem Strauch, sonst wäre ich wohl ungefähr vier, fünf Meter hinunter auf die nächste Serpentine gestürzt!
Geschockt von dem plötzlichen Sturz und gleichzeitig mit viel, viel Wut über meine eigene Unachtsamkeit, versuchte ich mich aus den Fängen des Strauchs und des Rads zu befreien. Ich zerrte das Stück Metall hoch auf die Straße, wo schon Alexander und Tino mit regelrecht schockiertem Blick auf mich warteten – das Ersatzrad schon parat, wenigstens hatten wir daran gedacht, denn mit den Resten des Schaltwerks von meinem konnte man jetzt nichts mehr anfangen. Zum Glück hatte ich nicht mein eigenes mitgenommen – das von Jörg hatte nämlich schon Kultstatus erreicht und wurde nur zu ganz besonderen Anlässen aus dem Keller des Internats geholt.
Ich setzte mein linkes Bein auf den Asphalt, mein Rad im Schlepptau und spürte sofort, dass mit meinem Fuß etwas nicht stimmte. Ich heulte auf, zog das Bein zurück und versuchte mich mit den Händen abzustützen – doch auch das ging schief, denn meine linke Hand knickte förmlich unter der Belastung weg. Ich wusste sofort, dass ich mir das Handgelenk gebrochen hatte! Na super!
„So eine Scheiße! Geht’s nicht oder?”, rief Alexander und stütze mich. Tino befestigte derweil das Ersatzrad wieder auf dem Dach und mein demoliertes gleich noch dazu. Ich schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf und humpelte mit Hilfe meiner beiden Trainer zur Autotür und warf mich auf den Rücksitz.
„Mann, so ein Mist! Was muss des heute auch Regnen!“, rief Alexander wutentbrannt. Tino sagte nichts, wirkte nicht wie Alexander wütend, sondern eher geschockt.
Genau in dem Moment, als ich mich auf den Sitz fallen lies, spürte ich auch, dass ich mir wohl den Beckenknochen und das Steißbein geprellt hatte – es dauerte Minuten bis ich endlich eine angenehme Sitzposition gefunden hatte, während wir schon längst wieder unterwegs waren. Wahrscheinlich fragten sich die anderen schon längst, wo ich und das Auto plötzlich hin waren. Tatsächlich warteten sie schon unten am Ortseingang von Altdorf auf uns. Tino lies die Scheibe herunter und rief etwas von „Selbstständig ins Internat zurück fahren“ und „Wir fahren gleich ins Krankenhaus nach Luzern.“ Das hörte sich ja gar nicht gut an, war aber wohl die einzig richtige Entscheidung. Während der ganzen Fahrt fühlte ich mich richtig elend – hätte ich den Sturz nicht verhindern können? Das Etappenrennen im August, auf das ich mich so gefreut hatte, konnte ich jetzt wahrscheinlich vergessen – warum ausgerechnet jetzt?! Gestern zeigte die Formkurve doch schon wieder leicht nach oben – ganz plötzlich schien all die Leichtigkeit der letzten Wochen gänzlich verflogen...
Zuletzt geändert von Andy92 am 22.7.2009 - 20:03, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag: # 6781619Beitrag CrazyCruser
22.7.2009 - 10:41

Am Nachmittag ging es hinunter zu den Churfürsten, die wie eh und je in ihrer ganzen Pracht über dem Walensee thronten.
Die heissen Churfirsten und das, weil sie einst nach den Kurfürsten benannt wurden.
Ansonsten ganz grosse Klasse, mach weiter so!

Mal ne Frage zu deinen Ortskenntnissen in der Innerschweiz. Warst bzw. bist du öfters dort?

Andy92
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Beitrag: # 6781880Beitrag Andy92
22.7.2009 - 20:02

Also Churfirsten mit "i"? :D Danke für den Hinweis, werde es ausbessern, war wohl eher ein Tipp-/Denkfehler, weil ich die eigentlich schon ganz gut kenn.
Ich war bisher einmal auf den Churfirsten und bin viermal dran vorbeigefahren, weil ich schon zweimal am Vierwaldstättersee war. ;)
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Beitrag: # 6782104Beitrag CrazyCruser
23.7.2009 - 16:10

Ursprünglich war es einmal ein "ü" (vor ca. 500 Jahren oder so), aber im Laufe der Zeit wurde ein "i" draus.

Ich komm aus der Ostschweiz, ne knappe Autostunde von den Churfirsten entfernt und gehe im Winter ab und zu dort hinauf zum Skifahren. Ist ne traumhafte Gegend.

Andy92
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Beitrag: # 6782244Beitrag Andy92
23.7.2009 - 20:55

11.Kapitel - Ein schnelles Ende


Ein verstauchter Zeh, Zerrung eines Fußgelenkbandes, aber das Schlimmste war wohl das gebrochene Handgelenk. Einen, vielleicht auch zwei Monate würde ich kaum oder nicht im vollen Umfang trainieren können und in den nächsten Wochen war ich wohl komplett außer Gefecht gesetzt. Die Saison war somit gelaufen! Aus und vorbei war das Jahr für mich, das Etappenrennen im August konnte ich vergessen – das war wohl das Schlimmste an der ganzen Sache!
Tatsächlich, war es das? Ich würde mit Melinda keine Ausfahrten mehr unternehmen können – war das nicht noch viel schlimmer? Es waren Sommerferien, und ich konnte nicht Rad fahren! Das war schrecklich! Wenigstens konnte ich den Tag auch so noch mit mehr als genug Radsport ausfüllen – die Tour war am Samstag in Brest gestartet worden und bot dort mit dem Sieger Erik Zabel (mit 7 Sekunden Vorsprung auf das Hauptfeld) schon mal eine aus deutscher Sicht richtig gute Nachricht. Auf der dritten Etappe von Saint-Malo nach Nantes, dann für viele Fahrer der Schock – rund 11 Kilometer vor dem Ziel in einer scharfen Rechtskurve ein Massensturz, eine Kettenreaktion, der ein großer Teil des Feldes zum Opfer fiel – darunter einige Stars: Oscar Freire, Stefan Schumacher, doch der absolute Knüller war der große Rückkehrer, der zweite der diesjährigen Tour de Suisse, der ehemalige Weltmeister und siebenmalige Gewinner der Großen Schleife durch Frankreich – Lance Armstrong verlor 3 Minuten! Ausgerechnet er, der von vielen Experten ausgemachte größte Widersacher von Topfavorit Andreas Klöden war bereits vor dem ersten Zeitfahren sprichwörtlich aus dem Weg geräumt worden. Genau an dem Tag, als es mich auch auf die Straße gelegt hatte! Ein unglaublicher Zufall!

Heute saß ich also, zusammen mit den anderen, Melinda, Sven und Danilo bei verregnetem Wetter, vor dem Fernseher und verfolgte das Einzelzeitfahren von Cholet. Und das begann gleich mit einer kleinen Überraschung: Als wir einschalteten lagen José Ivan Gutierrez und Lance Armstrong nur wenige Zehntelsekunden voneinander getrennt an der Spitze der vorläufigen Tageswertung. Würde sich der „Tourminator“ der Jahre 1999 bis 2005 etwa schon heute die verlorene Zeit wieder zurückholen? Mit Nichten! Ein unglaublich starker Sylvain Chavanel übernahm nur wenige Minuten später die Führung mit beinahe einer halben Minute Vorsprung auf Gutierrez und Armstrong. Kurz darauf erreichte Stefan Schumacher als bislang bester Deutscher des Tages das Ziel mit 50 Sekunden Rückstand, was bis dato noch Rang 8 bedeutete.
Und dann schon sehr früh, da zurzeit als 64. des Gesamtklassements geführt, rollte Andreas Klöden von der Startrampe. Die Regie blieb jetzt lange beim Deutschen, der große Favorit dieser Rundfahrt, wie schon auf den vorigen Etappen auch heute im Trikot des Deutschen Meisters unterwegs. Klöden zeigte einmal mehr eine großartige Vorstellung in Sachen Fahrstil – er sprengte beide Zwischenzeiten um Welten und lag schließlich im Ziel ganze 50 Sekunden vor Chavanel! Auf gerade mal rund 30 Kilometern eine echte Hausnummer – doch noch wichtiger war wohl der Vorsprung auf Lance Armstrong, der somit eine Minute und 18 Sekunden betrug! Danach geschah nicht mehr allzu viel. Cancellara war nun einmal nicht am Start, Zabriskie und Vandevelde schon mit großem Rückstand im Ziel, die hier als große Favoriten auf den Tagessieg gehandelt worden waren. Doch so wie das hier aussah, würde Klöden heute nicht nur den Tagessieg, sondern auch das gelbe Trikot übernehmen dürfen! Immerhin konnte sich Linus Gerdemann noch vor Lance Armstrong schieben, dagegen war die Vorstellung von einem der Mitfavoriten ein wahres Desaster – Denis Menchov verlor mehr als zwei Minuten auf Klöden. Der letzte richtig interessanter Fahrer war aus meiner Sicht natürlich Jörg, der immerhin unter zwei Minuten Rückstand bleiben konnte – ein absolut respektables Ergebnis, wie ich fand!
Doch einer sollte heute noch aufs Podium fahren und zumindest Chavanel von seinem zweiten Platz verdrängen: Stijn Devolder holte sich Rang zwei mit immerhin nur 33 Sekunden Rückstand zu Klöden. Erik Zabel verlor natürlich sein gelbes Trikot, das er zuvor zwei Tage lang getragen hatte und übergab es an einen Landsmann: Andreas Klöden, der die Gesamtwertung nun mit 33 Sekunden vor Stijn Devolder und einer Minute und neun Sekunden vor Michael Rogers, da Chavanel bereits durch den Sturz auf der vorigen Etappe einiges an Zeit verloren hatte. Gerdemann auf Rang 6, Jörg auf Rang 12, Armstrong auf Platz 76 mit vier Minuten und 15 Sekunden Rückstand und möglicherweise ausschließlich deutsche Träger des gelben Trikots – das konnte sich doch sehen lassen!
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Andy92
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Beitrag: # 6782636Beitrag Andy92
25.7.2009 - 13:38

Zum Glück war das Wetter hier in der Schweiz immer noch so schlecht wie schon lange nicht mehr. Es regnete ohne Unterlas, was mir aber sehr dabei half über mein eigenes Schicksal hinwegzukommen. Doch ich wusste, dass, sobald die Sonne wieder vom Himmel strahlte und alle anderen ihre Trainingseinheiten wieder draußen auf den Straßen rund um den See absolvierten, ich in einen schweren Gewissenskonflikt geraten würde. So war es mir schon immer ergangen. War das Wetter unbeständig oder seit langem erwartete man mal wieder einen schönen Tag, ärgerte ich mich, wenn ich mich nicht entschlossen hatte eine Runde zu drehen oder wegen der Schule, einem Termin oder eben wie jetzt aufgrund einer Verletzung nicht trainieren konnte.
Mittlerweile hatte ich auch schon mit Tino und Alexander darüber gesprochen, die mir beide mehrmals ausdrücklich versichert hatten, dass es wirklich alle verstehen konnten und auch ich dadurch keinen Nachteil haben würde, wenn ich jetzt einige Wochen ausfiele. Ich sollte die Verletzungen einfach auskurieren, wobei mir die Physiotherapeuten und der Arzt des Internats halfen, der eigentlich mehr oder weniger eine Art Hausarzt war und lediglich den Verband am Fuß täglich kontrollierte. Wegen meiner Hand musste ich wöchentlich zur Kontrolle bei einem Spezialisten in Luzern. Bis zum Beginn der Reha in ungefähr 5-6 Wochen, musste ich jetzt durchgängig eine Schiene am rechten Unterarm tragen, der meine Hand und somit auch das Gelenk stabilisierte, welches zusätzlich noch mit einem Verband geschützt war. Mit der rechten Hand konnte ich, außer die Finger unter leichten Schmerzen, sowieso nichts bewegen, weder schreiben, noch etwas greifen, noch die Fernbedienung halten, wenn ich wie in diesen Tagen eigentlich durchgängig vor dem Fernseher saß und mir das volle Programm der Tour de France reinzog.
Wenigstens war es aus deutscher Sicht eine äußerst spannende und interessante Tour. Klöden in gelb, Heinrich Haussler gestern im Massensprint in Châteroux nach einem fünften Platz auf der zweiten Etappe (Sieger Robbie McEwen), einem zweiten (hinter Mark Cavendish) auf der „Sturzetappe“ drei, erneut unter den Top 5 mit Rang vier hinter dem nun bereits zweifachen Etappensieger Cavendish, sowie Zabel und Freire. Zabel übernahm dadurch mit 87 Punkten das Grüne Trikot von Thor Hushovd, der gestern nur als achter die Ziellinie überquerte, mit einem Punkt Vorsprung auf diesen und Cavendish – eine unheimlich knappe Wertung! Zudem lagen Haussler und Boonen auf Rang 4 direkt dahinter mit 76 Punkten ebenfalls gleich auf! In diesem Jahr würde wohl alles darüber entscheiden, welcher Sprinter bei leicht welligen Etappen besser über die Anstiege kommen würde – ein Cavendish zählte mit Sicherheit nicht zu diesen – denn dort könnten die entscheidenden Punkte vergeben werden. Dennoch, knapp würde es in der Wertung Grün auf alle Fälle werden – vielleicht ganz im Gegensatz zum gelben Trikot.
Zu den restlichen Wertungen sei noch ein Wort gesagt: Seit der ersten Etappe führte in der Bergwertung der Norweger Kurt-Asle Arvesen mit acht Zählern, in der Nachwuchswertung führte der Russe Mikhail Ignatiev vom Team Tinkoff Credit Systems und in der Teamwertung lag die Mannschaft des Gesamtführenden, Astana, an der Spitze.
Heute stand die erste selektive Etappe auf dem Programm. Im Zentralmassiv ging es hinauf in den Wintersportort Super-Besse und zuvor über den Col de la Croix Morand einem Pass der zweiten Kategorie – somit würde es heute Abend mit Sicherheit einen neuen Träger des Bergtrikots geben. Und auch das könnte ein Deutscher sein! Fabian Wegmann und Enrico Poitschke befanden sich zurzeit in einer sechsköpfigen Spitzengruppe zusammen mit Righi (Lampre), Gerrans (Credit Agricole), Echevarria (Agritubel) und Schwab (Quick Step) mit einem Vorsprung von knapp neun Minuten 100 Kilometer vor dem Ziel. Bisher hatte Wegmann zwar nur einen Punkt in der Bergwertung sammeln können, doch noch standen zwei, vielleicht auch drei Bergwertungen aus, die von der Spitzengruppe noch vor dem Feld erreicht werden könnten.
Doch nun erhöhte Astana sukzessive das Tempo im Hauptfeld und der Vorsprung des Sextetts schmolz so langsam dahin. Erfreulich war es zu sehen, dass sich Jörg schon jetzt sehr weit vorne im Feld präsentierte – hatte er heute vielleicht gute Beine? Die schien sein Teamkollege, Fabian Wegmann, zu haben, denn er sicherte sich souverän die zweite Bergwertung der vierten Kategorie und hatte jetzt somit 4 Punkte auf seinem Konto. Als die Spitzengruppe schließlich den 7,4 Kilometer langen und im Schnitt 4,8 % steilen Anstieg zum Col de la Croix Morand erreichte, gesellten sich endlich auch Sven und Danilo zu mir vor den Fernseher, nachdem sie ihr Krafttraining absolviert hatten. Melinda war heute mit Alexander über ein paar Tage zu Verwandten gefahren, doch wenn ich ehrlich war, so richtig interessierte es mich nicht – vielleicht würde es mir sogar ganz gut tun, wenn ich mal für ein paar Tage ein wenig Abstand zwischen mich und Melinda bringen könnte.
Aber zurück zur Etappe, denn dort tat sich nun so einiges! Direkt am Fuße des Anstiegs attackierte Devolder, der zweite der Gesamtwertung, Klöden lies seine Teamkollegen nun ordentlich aufs Tempo drücken, die allerdings auch nicht verhindern konnten, dass Gomez Marchante, sowie Valjavec, Monfort und der Gesamtzweite des diesjährigen Giro d’Italias Danilo Di Luca zusammen mit Devolder davon stiefelten. Vorne konnte sich Wegmann leider nur den dritten Platz bei der Bergwertung sichern, ein wenig überraschend, genauso, nur im umgekehrten Sinne, wie stark heute Jörg an der Seite des gelben Trikots fuhr, er wirkte sogar etwas relaxter und entspannter als Andreas Klöden, der schon ordentlich auf die Zähne beißen musste, als nun auch Denis Menchov und Jens Voigt attackierten. Somit meldete sich auch der Kapitän des CSC-Teams zu Wort – Carlos Sastre schickte einen Aufpasser mit nach vorne. Doch dann der Paukenschlag: Lance Armstrong, der Mann der hier bei dieser Tour zum Angreifen verpflichtet war, wenn er die Rundfahrt zum achten Mal gewinnen wollte, stapfte dem Russen hinterher!
In der Abfahrt vom Corix Morand verlor das Rennen weiterhin an Übersichtlichkeit, was durch eine Werbepause auch noch zusätzlich verstärkt wurde. Als das Livebild dann endlich wieder auf den Bildschirm flackerte zeigte sich das Geschehen weitaus geordneter: An der Spitze Wegmann und Schwab, 17 Sekunden dahinter Righi, Poitschke und Gerrans, es folgte eine große Lücke von fast einer Minute und dreißig Sekunden zu Echevarria und Valjavec, weitere rund dreißig Sekunden zurück lag das Quartett um Di Luca, Devolder, Monfort und Gomez Marchante und mit einer ganzen dreiviertel Minute Rückstand folgte schließlich das Hauptfeld, welches somit immer noch rund 3 Minuten hinter der Spitzengruppe lag.
Die dritte Bergwertung der vierten Kategorie am heutigen Nachmittag sicherte sich diesmal doch noch Wegmann in einem kraftraubenden Sprint gegen seinen Begleiter Hubert Schwab. Auch in der Verfolgung veränderte sich so einiges: Als es in den Schlussanstieg hinauf nach Super-Besse ging, befanden sich Devolder, Monfort und Gomez Marchante rund 30 Sekunden hinter der Spitze alleine auf der Verfolgung. Di Luca und alle anderen Ausreißer gingen nun in einer Welle von Attacken aus dem Hauptfeld unter. Wiedereinmal ergriff Denis Menchov die Initiative, jetzt reagierten Andreas Klöden und Lance Armstrong sofort und klemmten sich an das Hinterrad des Russen. Ich jubelte auf! Auch Jörg hatte die Gruppe erwischt und folgte dem Leader der Rundfahrt in den Schlussanstieg hinein!
Kaum hatten sich Wegmann und Schwab zu den Verfolgern umgeschaut, so waren sie im Angriffsregen auch schon untergegangen. Die Regie konzentrierte sich gänzlich auf die relativ große Spitzengruppe um Klöden, Armstrong, Vandevelde, Anton, Jaksche und den nun schwächelnden Devolder, Monfort und Gomez Marchante, sowie Menchov, Popovych und irgendwo zwischen den Favoriten und ehemaligen Ausreißern steckte mit Sicherheit auch noch Carlos Sastre – der wohl wie immer schleichend den Sprung in die Spitzengruppe schaffte.
Doch noch tauchte er nicht auf – dafür sah man jetzt im steilsten Abschnitt kurz vor dem Ziel immer wieder Andreas Klöden an der Spitze, direkt dahinter Armstrong, Jaksche, Menchov, Devolder, der sich jetzt scheinbar wieder gefangen hatte – kurz vor der Flamme Rouge attackierte Popovych und konnte sich wenige Meter absetzen. Jörg versuchte zu reagieren, konnte dem Tempo aber nicht mehr zusetzen und wartete so am Hinterrad des anderen Deutschen in dieser Gruppe, dem Mann in Gelb.
Der Ukrainer eröffnete von vorne den Schlusssprint, unwiderstehlich hielt er Klöden auf Distanz, der allerdings immer näher zu kommen schien – Jörg hatte nicht die Sprintfähigkeit, das wusste ich und verlor einige Positionen, konnte sich aber dennoch in der Gruppe halten. Vorne wurde es verdammt knapp – Popovych kämpfte gegen Armstrong, Menchov und Klöden, der hier allerdings nicht mit aller Macht zu sprinten schien, immerhin würde er sein Trikot verteidigen können. Der Ukrainer sehnte die Ziellinie förmlich herbei, doch der Weg schien immer länger und länger zu werden! Plötzlich tauchten die Streifen auf dem Asphalt auf und Popovych richtete sich erleichtert auf, völlig platt war er, keuchend, aber dennoch mit unglaublicher Freude jubelnd, rettete er sich über den Zielstrich! Es war sein erster Tour de France Etappensieg!
Einige Fahrer passierten den Zielstrich, darunter auch Jörg, alle würden sie die gleiche Zeit des Siegers bekommen, dann klaffte die erste Lücke. Christian Vandevelde, der hier überraschend stark gefahren war, erreichte schon mit einigem Rückstand das Ziel. Monfort führte eine weitere Gruppe über den Strich, mit Oscar Pereiro, dem kletterstarken Carlos Sastre, Pellizotti, Gomez Marchante und auch zwei ehemalige Ausreißer, nämlich Schwab und Gerrans befanden sich in der Gruppe. Zu den nächsten Fahrern, Nocentini, vier von Gerolsteiner nämlich Kohl, Sinkewitz, Schumacher und Wegmann, sowie einigen anderen, klaffte eine noch viel größere Lücke und mit fast zwei Minuten Rückstand erreichte schließlich das Feld das Ziel! So große Abstände hätte ich auf dieser Etappe nie im Leben erwartet. Aber dennoch freute ich mich unbändig für Jörg, der hier seine Fahne richtig hoch gehalten hatte! Klasse!
Einer der großen Verlierer des Tages war wohl Michael Rogers, bis dato der dritte der Gesamtwertung, verlor zusammen mit dem Gruppetto mehr als eine Viertelstunde!

Tageswertung:
1.Popovych (Silence-Lotto) 4h44’33“
2.Klöden (Astana) s.t.
3.Armstrong (Columbia) s.t.
4.Menchov (Rabobank) s.t.
5.Anton (Euskatel) s.t.
6.Jaksche (Gerolsteiner) s.t.
7.Devolder (Quick Step) s.t.
8.Casar (FdJeux) s.t.
9.Vandevelde (Garmin) s.t.
10.Monfort (Cofidis) + 26“
12.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 35”
35.Di Luca (LPR) + 1’56”

Beim Blick auf die Gesamtwertung machte mein Herz noch einmal einen Hüpfer! Zwei Deutsche auf dem Podium! Jörg, weiter so!

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 23h53’18“
2.Devolder (Quick Step) + 33“
3.Jaksche (Gerolsteiner) + 1’53“
4.Vandelvelde (Garmin) + 1’53“
5.Menchov (Rabobank) + 2’07“
6.Monfort (Cofidis) + 2’15“
7.Hushovd (Credit Agricole) + 2’35“ (Tageswertung: + 1’16“)
8.Casar (FdJeux) + 2’46“
9.Pereiro (Caisse) + 2’48“
10.Ignatiev (Tinkoff) + 3’13“
16.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 3’29”
24.Armstrong (Columbia) + 4’15”
32.Di Luca (LPR) + 4’47”
34.Popovych (Silence-Lotto) + 4’48”
39.F.Schleck (CSC-Saxo Bank) + 5’27” (Tageswertung: + 1’56“)

Bergwertung:
1.Popovych (Silence-Lotto) 20 Punkte
4.Wegmann (Gerolsteiner) 15 Punkte

Punktewertung:
1.Zabel (Milram) 87 Punkte
2.Cavendish (Columbia) 86 Punkte
3.Hushovd (Credit Agricole) 86 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 23h55’33“
2.Ignatiev (Tinkoff) + 58“
3.Anton (Euskatel) + 1’06“

Teamwertung:
1.Astana
2.Columbia + 37”
3.Cofidis + 1’49”
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Andy92
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Beitrag: # 6782855Beitrag Andy92
25.7.2009 - 23:16

Noch einen Tick spannender sollte die siebente Etappe über den Pas de Peyrol nach Aurillac sein. Doch dabei war mit Sicherheit das Interessanteste die lange Abfahrt hinunter ins Ziel und nicht der Anstieg zuvor. Dort nämlich attackierten nach und nach einige Favoriten aus dem Hauptfeld und vermischten sich langsam mit der ehemaligen Spitzengruppe, bis schließlich das Gelbe Trikot reagieren musste und hinterher zog. Rund 3 Kilometer vor dem Ziel, dann die entscheidende Rennsituation: Bailetti (LPR) ein ehemaliger Ausreißer hatte sich einige Meter absetzen können, dahinter befand sich plötzlich eine sechsköpfige Verfolgergruppe mit Hushovd, der hier einen Angriff auf das Grüne Trikot startete, Monfort, Pereiro, Sastre, Menchov und der Wichtigste von ihnen: Devolder! 19 Fahrer befanden sich bei unglaublich hohem Tempo auf der Verfolgung, darunter Klöden und auch wieder Jörg, der hier den Sprint für Heinrich Haussler anzog, der den Sprung in diese Gruppe ebenfalls geschafft hatte. Doch einer, der all die letzten Jahre einer der aufmerksamsten Fahrer im Peleton gewesen war, schien in diesem Jahr wie ausgewechselt, seit seinem Sturz völlig von der Rolle – Lance Armstrong war nicht vorne mit dabei und sollte heute noch einmal viel Zeit verlieren.
Den Tagessieg erkämpfte sich in einem dramatischen Finish Devolder vor Menchov, Pereiro und einem etwas enttäuschten Hushovd, der sich aber dennoch über jede Menge Punkte und über das Grüne Trikot freuen konnte. Doch die große Frage lautete, reichte es für den belgischen Etappensieger auch noch ins Gelbe Trikot zu schlüpfen? Zur Erinnerung: Seit der diesjährigen Tour gab es keine Zeitgutschriften mehr, somit würde der reine Abstand zwischen Klöden und Devolder zählen und der betrug vor dieser Etappe genau 33 Sekunden!
Die Zeit schien gegen den Deutschen zu laufen – dann endlich eröffnete Weltmeister Paolo Bettini den Sprint der Verfolgergruppe und zog das Tempo dadurch deutlich an! Haussler schien, ähnlich wie Hushovd in der Spitzengruppe, überrascht und konnte sich am Ende nur noch den dritten Platz dieser Gruppe sichern. Doch wie sah es mit dem Rückstand dieser Gruppe aus? Die Uhr überschritt bereits die 30 Sekunden Marke, da erreichte Bettini endlich die Markierungen vor dem eigentlichen Zielstrich – uns blieb fast das Herz stehen, dann endlich: Bei 31 Sekunden überquerte der Weltmeister die Ziellinie und verhalf somit unfreiwillig Andreas Klöden im gelben Trikot zu bleiben. Leider hatte Jörg heute seine Podiumsplatzierung an Menchov verloren, trotzdem fuhr er bisher eine klasse Tour!

Tageswertung:
1.Devolder (Quick Step) 3h49’46“
2.Menchov (Rabobank) s.t.
3.Pereiro (Caisse) s.t.
4.Hushovd (Credit Agricole) s.t.
5.Monfort (Cofidis) s.t.
6.Bailetti (LPR) s.t.
7.Sastre (CSC-Saxo Bank) s.t.
8.Bettini (Quick Step) + 31“
9.F.Schleck (CSC-Saxo Bank) s.t.
10.Haussler (Gerolsteiner) s.t.

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 27h43’35“
2.Devolder (Quick Step) + 2“
3.Menchov (Rabobank) + 1’36“
4.Monfort (Cofidis) + 1’44“
5.Jaksche (Gerolsteiner) + 1’53“
6.Hushovd (Credit Agricole) + 2’04“
7.Pereiro (Caisse) + 2’17”
8.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 2’58”
9.Pavel Brutt (Tinkoff) + 3’25“
10.Valjavec (AG2R) + 4’03“
21.Armstrong (Columbia) + 5’21“ (Tageswertung: + 1’37”)

Punktewertung:
1.Husvod (CA) 110 Punkte
2.Haussler (Gerolsteiner) 92 Punkte
3.Zabel (Milram) 87 Punkte

Bergwertung:
1.Popovych (Silence-Lotto) 20 Punkte
2.Barry (Garmin) 19 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 27h45’19“
2.Ignatiev (Tinkoff) + 2’56“

Teamwertung:
1.Cofidis
2.Astana + 9“
3.Gerolsteiner + 42“
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Andy92
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Beitrag: # 6783058Beitrag Andy92
26.7.2009 - 20:19

Das zweite Tourwochenende und somit die erste Pyrenäenetappe war erreicht. Heute ging es vom gestrigen Zielort Toulouse, la Ville rose, nach Bagnères de Bigorres über zwei berühmte Pässe der Tour: Den Col de Peyresourde und den Col d’Aspin. Doch bevor die Übertragung der heutigen Etappe begann, erwischte ich noch die letzten fünf Minuten der Wiederholung der gestrigen Etappe: Matteo Carrara und Peter Velits hatten sich kurz vor der Zielgerade von den Sprintern absetzen können und jagten jetzt gemeinsam gen Ziel. Velits schliefen vielleicht zwanzig Meter vor dem Zielstrich die Beine ein und so konnte sich Carrara wohlgemerkt alles im Sitzen fahrend mit wenigen Zentimetern Vorsprung vor Oscar Freire und Thor Hushovd über die Ziellinie retten. Velits erreichte immerhin noch Rang vier vor Danilo Napolitano. Dagegen enttäuschten beinahe alle weiteren Sprinter – Haussler hatte durch das hohe jagende Tempo nicht mehr geschafft sich in den Punkterängen zu platzieren, auch Mark Cavendish bekam nur noch ein paar Pünktchen, da er sich von seinem eigenen Sprinterzug hatte abhängen lassen. So baute Hushovd seinen Vorsprung in der Wertung für das Grüne Trikot weiter aus – ärgster Konkurrent war jetzt wieder Erik Zabel:

1.Hushvod (Credit Agricole) 136 Punkte
2.Zabel (Milram) 105 Punkte
3.Boonen (Quick Step) 95 Punkte
4.Cavendish (Columbia) 94 Punkte
5.Haussler (Gerolsteiner) 92 Punkte

Darüber hinaus lag Hushovd vor der heutigen Etappe weiterhin auf dem sechsten Gesamtrang, was natürlich nach der Meinung sämtlicher Experten eine faustdicke Überraschung darstellte, auch wenn das Profil bisher nicht allzu anspruchsvoll war und dem Norweger durchaus in die Karten gespielt hatte. Doch heute sollte sich das ändern, nicht nur das, sondern womöglich das gesamte Klassement könnte das erste Mal so richtig auf den Kopf gestellt werden, bevor sich dann morgen bei der Bergankunft in Hautacam die absoluten Tourfavoriten herauskristallisieren würden.
Das bisherige Renngeschehen wurde zusammengefasst: Unter anderem hatte Bernhard Kohl versucht in die Ausreißergruppe zu kommen (immerhin hatte der Österreicher schon über 5 Minuten Rückstand auf Andreas Klöden), was jedoch offensichtlich gescheitert war. Dafür befand sich jetzt Fabian Wegmann in einer achtköpfigen Spitzengruppe mit Zampieri, Visconti, Kiryienka, Horrach, Hervé, Euser und auch Poitschke war wieder mit von der Partie, zählte auf diesem Terrain aber mit Sicherheit nicht zu den Besten dieser Gruppe. Zwischen dem Feld und den Ausreißern befanden sich weitere Bruchstücke des Fluchtversuches mit Kohl: Ermiti, Bono und Llyod bildeten ein Verfolgertrio.
Die Spitzengruppe erreichte nun die Pyrenäen, wo es sofort eine kleine Gegensteigung zum ersten Pass dieser Etappe, dem Col des Ares (zweite Kategorie) hinauf ging. Mittlerweile hatte das Hauptfeld ordentlich an Rückstand gefressen: 10’42“ betrug der maximale Vorsprung des Oktetts, denn jetzt erhöhte das Team Astana das Tempo, um die Flüchtlinge noch rechtzeitig stellen zu können. Klar war, dass der erste auf dem Peyressourde, dem ersten Berg der ersten Kategorie dieser Tour, einer der Ausreißer sein würde, bloß wer?
Hervé konnte am Ares dem Tempo als erster nicht mehr folgen. Immerhin war dieser Anstieg auch mehr als 6 Kilometer lang und wies eine Steigung von fast 5 % auf. Wegmann startete jetzt seinen Angriff aufs Bergtrikot und sicherte sich auf der Passhöhe die volle Punktzahl! Somit trug er das Trikot schon einmal virtuell, jetzt noch Punkte am Peyresourde und er würde es heute Abend überstreifen können. Das Feld hatte auf dem Gipfel gerade mal noch 8 Minuten Rückstand – hier wurde ordentlich aufs Tempo gedrückt und das schien bereits einigen Fahrern zu viel zu sein.
Als die Spitzengruppe den Fuß des ersten Riesen dieser Tour, dem Col de Peyresourde erreichte, betrug der Vorsprung nur noch 6 Minuten und 30 Sekunden. Hier im Anstieg passierte eigentlich nicht viel, außer das im Hauptfels weiterhin ordentlich Dampf gemacht wurde und diesem hohen Tempo ein wichtiger Helfer für Lance Armstrong, was auch aus deutscher Sicht nicht sonderlich erfreulich war, nämlich Linus Gerdemann zum Opfer fiel.
Wegmann stattdessen lies seine Fluchtgefährten kurz vor der Bergwertung einfach stehen, sicherte sich die volle Punktzahl und somit auch das Bergtrikot nach dieser Etappe! Er machte sich alleine auf die Abfahrt hinunter ins Tal und führte auch noch sehr lange am Aspin. Doch dann wurde er von den Angriffen der Tourfavoriten förmlich überrollt.

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Die berühmten letzten Kehren des Col de Peyresourde! Hier eroberte Fabian Wegmann das Bergtrikot!

Armstrong schien heute das richtige Händchen gehabt zu haben, während Andreas Klöden einmal mehr erst sehr spät reagiert hatte – zu spät? Der Amerikaner war in der Spitzengruppe mit Pellizotti, Pereiro, Sastre, Gomez Marchante und Valjavec, dahinter die Verfolger um Klöden. In dieser Gruppe befand sich auch der Gesamtzweite Stijn Devolder neben Menchov, Popovych, Monfort und Anton – plötzlich schoss es mir durch den Kopf! Wo war Jörg? Er war nicht in dieser Gruppe! Wo war her verdammt noch mal!? Das konnte doch nicht wahr sein – sollte er ausgerechnet auf dieser Etappe alles verspielen?
Der Abstand der beiden Spitzengruppen pendelte während der Abfahrt stets zwischen 20 und 40 Sekunden – es war ein Sekundenspiel, nicht mehr und nicht weniger. Immerhin wurde der Rückstand von Jörg eingeblendet – er bildete, laut der Kommentatoren, zusammen mit Fabian Wegmann ein Verfolgerduo, dass sich noch vor dem Hauptfeld behaupten konnte. Am Anstieg war er kurzzeitig mit Di Luca unterwegs gewesen, das hatte ich noch gesehen. Trotzdem war es ärgerlich, hier so viel Zeit zu verlieren.
Am Ende waren es 1’55 Minuten auf den Tagessieger Oscar Pereiro! Ein spanischer Doppelsieg mit Carlos Sastre, beide, der Toursieger von 2006 und einer der mittlerweile großen Favoriten dieser Tour, arbeiteten sich somit weiter nach vorne. Der Rückstand der Gruppe um Klöden betrug 25 Sekunden – für ihn alles im grünen Bereich, doch für einen deutschen nicht: Jörg Jaksche. Das Gesamtklassement brachte eine erschreckende Klarheit – heute hatte er viel Rückstand gefressen, schade.

Tageswertung:
1.Pereiro (Caisse) 5h24’33“
9.Klöden (Astana) + 25“
13.Jaksche (Gerolsteiner) + 1’55“

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 37h16’25“
2.Devolder (Quick Step) + 2”
3.Menchov (Rabobank) + 1’36“
4.Monfort (Cofidis) + 1’44“
5.Pereiro (Caisse) + 1’52“
6.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 2’33”
7.Jaksche (Gerolsteiner) + 3’23“
8.Valjavec (AG2R) + 3’38“
9.Hushovd (Credit Agricole) + 4’16“
10.Gomez Marchante (Scott) + 4’27“
13.Armstrong (Columbia) + 4’56“

Bergwertung:
1.Wegmann (Gerolsteiner) 40 Punkte
2.Poitschke (Milram) 26 Punkte
3.popovych (Silence-Lotto) 25 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 37h18’09“
2.Anton (Euskatel) + 3’04“
3.Nibali (Liquigas) + 5’19“

Teamwertung:
1.Cofidis
2.Astana + 9“
3.Columbia + 1’27“
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