Im siebten Himmel

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Andy92
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Beitrag: # 6784013Beitrag Andy92
30.7.2009 - 14:13

Die erste Bergankunft der Tour in Hautacam am 14.Juli 2008, also am französischen Nationalfeiertag, konnte ich nicht mit verfolgen. Ich musste zusammen mit Tino zur Kontrolle beim Facharzt in Luzern und das nahm einmal mehr fast den gesamten Nachmittag in Anspruch. Bei der ganzen Aktion stellte sich lediglich heraus, dass mein Handgelenksbruch langsamer und nicht so gut wie erwartet verheilte. Es gab aber dennoch keinen Grund zu Sorge, so der Arzt. Sollte die Reha normal verlaufen, so könnte ich später wieder alles und ohne Beschwerden mit meiner Hand anstellen was ich wollte. Immerhin ein kleiner Trost dafür, dass ich jetzt endgültig die gesamte restliche Saison lang ausfallen würde. Bis ich Ende August vielleicht auch erst Mitte September wieder einsatzfähig war, war meine Form schon so dermaßen im Keller, dass ich eigentlich sofort mit dem Formaufbau für die nächste Saison beginnen konnte.
Am Abend suchte ich im Internet nach einem kurzen Rennbericht der Etappe der Tour über den Tourmalet und hinauf nach Hautacam. Lange musste ich nicht suchen, bis ich wusste, dass Igor Anton für den ersten Sieg seines Euskatelteams seit Iban Mayo im Jahre 2003 in L’Alpe d’Huez gesorgt hatte. Der Baske hatte direkt am Fuße des Schlussanstieges attackiert und seine Verfolger, auch Andreas Klöden, der hervorragender zweiter wurde, sollten sein Hinterrad an diesem Nachmittag nicht wieder zu Gesicht bekommen. Außerdem übernahm Anton mit diesem Sieg auch noch das Bergtrikot von Fabian Wegmann, was mich doch ein wenig ärgerte. Vielleicht könnte der Deutsche es ja in den kommenden Tagen doch noch einmal zurückerobern.
In der Verfolgergruppe Antons hatten sich neben Klöden auch noch Pellizotti, Sastre und Armstrong befunden, wobei der Deutsche die Gruppe kurz vor dem Ziel durch ein, wie man es von ihm gewohnt war, konstant hohes Tempo, dem Armstrong auf seine alten Tage nicht mehr folgen konnte. Der einzige, der an diesem Tag dem gelben Trikot noch am Nächsten gewesen war, war ebenfalls ein Spanier, allerdings kein Baske, sondern ein Madrilene – Carlos Sastre hatte sich nun bis aufs Podium nach vorne geschoben. Den zweiten Rang hatte weiterhin ein tapfer kämpfender Stjin Devolder verteidigt, jedoch viel Zeit eingebüßt. Darunter auch Menchov und Jaksche, der Russe jetzt ohne ernsthafte Chancen auf den Gesamtsieg, während der Deutsche sogar aus den Top 10 gefallen war – schade, dass sich Jörg nicht dort vorne hat halten können. Doch mit ein bisschen Glück könnte der nun elfte Platz auch die Endstation für ihn sein, denn alle hinter ihm, waren bisher nicht so stark am Berg wie er und darüber hinaus, war er ja auch noch der bessere Zeitfahrer!

Tageswertung:
1.Anton (Euskatel) 4h32’42“
2.Klöden (Astana) + 27“
3.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 31“
4.Armstrong (Columbia) + 37“
5.Pellizotti (Liquigas) + 46“
6.Gomez Marchante (Scott) + 1’04“
7.Monfort (Cofidis) + 1’21“
8.Valjavec (AG2R) + 1’55“
9.Pereiro (Caisse) + 2’06“
10.Menchov (Rabobank) + 2’16”
11.Devolder (Quick Step) + 2’23”
12.Popovych (Silence-Lotto) + 2’29”
13.Jaksche (Gerolsteiner) s.t.

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 41h49’34“
2.Devolder (Quick Step) + 1’58”
3.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 2’37”
4.Monfort (Cofidis) + 2’38“
5.Menchov (Rabobank) + 3’25“
6.Pereiro (Caisse) + 3’31”
7.Anton (Euskatel) + 4’21”
8.Gomez Marchante (Scott) + 5’04“
9.Valjacev (AG2R) + 5’06“
10.Armstrong (Columbia) + 5’06“
11.Jaksche (Gerolsteiner) + 5’25“

Bergwertung:
1.Anton (Euskatel) 60 Punkte
2.Klöden (Astana) 54 Punkte
3.Armstrong (Columbia) 50 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 41’52“12“
2.Anton (Euskatel) + 1’43“
3.Nibali (Liquigas) + 6’59“

Teamwertung:
1.Astana
2.Columbia + 1’09”
3.Cofidis + 1’28“

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Hier kletterte der kleine Baske als erster hinauf - die letzten Kehren vor Hautacam.
Zuletzt geändert von Andy92 am 3.8.2009 - 12:25, insgesamt 1-mal geändert.
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Andy92
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Beitrag: # 6784672Beitrag Andy92
2.8.2009 - 16:40

Ich muss euch leider mitteilen, dass ich die nächste Woche - vielleicht auch zwei - nichts mehr posten kann, da ich und mein Vater in die Alpen zum Wandern fahren - sprich Urlaub! Endlich haben wir in Bayern auch Sommerferien...im Herbst. :(
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Andy92
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Beitrag: # 6784796Beitrag Andy92
3.8.2009 - 13:44

Da sich die Abreise doch noch etwas verzögert, poste ich doch noch fröhlich den einen oder anderen Teil. :D

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Während sich meine Bänderzerrungen und meine Hand nun immerhin auch deutlich spürbar zu regenerieren begannen, war die zweite Tourwoche überraschenderweise fast ausschließlich von Massensprints geprägt. Lediglich auf der 11.Etappe von Lannemezan nach Foix über den Col de la Crouzette hatte sich das Duo um Ballan und Tjallingii aus einer ehemaligen Ausreißergruppe mit rund einer Minute Vorsprung über den Pass vor dem Hauptfeld ins Ziel retten können, wo, wie zu erwarten war, der Sieger der Flandernrundfahrt 2007 und von Mailand-San Remo 2008 seinem Fluchtgefährten im Sprint keine Chance lies und so seinen ersten Tour Etappensieg feierte.
Die 12., 13. und 14.Etappe wurden schließlich von den Sprinterteams dominiert. Auf den Übergangsetappen nach Narbonne, Nîmes und Digne-les-Bains siegten nicht wie in vergangenen Jahren die Ausreißer mit beträchtlichem Vorsprung, sondern zunächst der Träger des Grünen Trikots Thor Hushovd und dann zweimal Tom Boonen, der sich so immer weiter an den eigentlich schon weit enteilten Norweger in der Punktewertung herantastete. Trotzdem war dessen Vorsprung nach wie vor enorm und nur durch ein Wunder würde man den souveränsten Sprinter dieser Tour noch vom Podium in Paris stoßen können. Leider rutschte Heinrich Haussler in dieser Wertung von Tag zu Tag immer weiter ab und konnte lediglich auf dem Teilstück nach Narbonne noch Mal mit einem vierten Platz an seine hervorragende erste Tourwoche anknüpfen. Auch dem alten Hasen Erik Zabel schienen so langsam die Beine einzuschlafen – so schön und mit so viel Erfahrung sein zweiter Sieg in seiner Karriere in Plumelec auch herausgefahren war, so hatte er gegen die junge Garde der Sprinter keine Chance mehr.

Punktewertung nach der 14.Etappe:
1.Hushvod (Credit Agricole) 214 Punkte
2.Boonen (Quick Step) 165 Punkte
3.Cavendish (Columbia) 157 Punkte
4.Freire (Rabobank) 151 Punkte
5.Haussler (Gerolsteiner) 138 Punkte

In der Gesamtwertung hatte sich vor dem heutigen Sonntag und der damit verbundenen Bergankunft in Prato Nevoso nichts mehr geändert. Klöden fuhr weiterhin in Gelb, Anton im Bergtrikot und Monfort im Weißen Trikot des besten Nachwuchsfahrers. Die Experten waren sich allerdings nicht allzu sicher, ob es heute große Veränderungen in den Klassements geben könnte, denn der Schlussanstieg im italienischen Wintersportort war gerade mal 12 Kilometer lang und nicht allzu steil. Dafür könnte der über 2700 Meter hohe Lammpass (Col d’Agnel) – ein über 40 Kilometer langer Anstieg der Ehren Kategorie – eine kleine Vorentscheidung bringen, doch dazu könnte die fast 100 Kilometer lange Abfahrt zwischen den beiden Anstiegen viel zu lang sein.

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Das Feld kurz vor der Passhöhe auf 2700 Metern!

Auf dem Agnel machte wieder einmal ein Deutscher auf sich aufmerksam. Diesmal war es Matthias Russ, der sich nach einem langen und harten Kampf in die sechsköpfige Spitzengruppe positioniert hatte und sich aus dieser heraus die volle Punktzahl auf der Passhöhe sichern konnte. Bis zum Finale in Prato Nevoso geschah nicht viel. Lediglich Anton und Monfort versuchten in der langen Abfahrt zur Spitzengruppe aufzuschließen, die jedoch schon 60 Kilometer vor dem Ziel gestellt wurde. Trotzdem wurde das Tempo enorm hochgehalten und so war das Rennen bis zur kleinen Gegensteigung vor dem eigentlichen Schlussanstieg einfach nur zum Gähnen. Dort attackierte Denis Menchov zusammen mit Franco Pellizotti und Schumacher, der den beiden Bergspezialisten jedoch nicht lange folgen konnte.
Dann war es endlich soweit! Pellizotti und Menchov erreichten rund eine Minute vor dem Feld den Schlussanstieg. Der Italiener war deutlich stärker und lies den Russen schnell durch einen hohen Rhythmus hinter sich. Auch im Feld ging jetzt die Post ab! Ähnlich wie in Hautacam war es Anton der als erster die Initiative ergriff, sich diesmal allerdings nicht von seinen Begleitern Kohl, Di Luca, Casar, Popovych, Monfort, Vandevelde und Valjavec lösen konnte. Dafür konnte Nibali zu Menchov aufschließen, der mittlerweile schon fast 40 Sekunden an Rückstand zu Pellizotti gefressen hatte. Der Italiener schien hier auf heimischen Boden eine Raketenstufe nach der anderen zu zünden und flog förmlich den Berg hinauf. Somit war klar, dass er Jörg von seinem elften Platz verdrängen würde und auch der zweite Italiener aus selbigem Team, Nibali, stellte eine Bedrohung für meinen Kumpel dar.
Als dann schließlich Gomez Marchante antrat schien das Eis endgültig gebrochen: Pereiro stapfte hinterher, an seinem Hinterrad sofort Lance Armstrong und Andreas Klöden. Devolder reagierte spät, vielleicht zu spät, auch Sastre reagierte erst bei der Attacke des Belgiers – anscheinend fuhr er nicht auf das Gelbe Trikot, sondern „nur“ auf den zweiten Gesamtrang des eigentlichen Klassikerspezialisten, der sich hier aber einmal mehr wacker schlug!
Jetzt reagierte auch Jörg und konnte zur relativ großen Gruppe der Favoriten aufschließen – nur Pellizotti war noch voraus – mittlerweile schon mit über einer Minute! Doch schon ging wieder die Post ab – Armstrong und Klöden setzten sich vom Rest ab, woraufhin Menchov und Jaksche Probleme bekamen. Alle anderen konnten zu den beiden großen Favoriten der Tour wieder Anschluss finden, doch jetzt machte der Träger des Gelben Trikots ernst. Er fuhr das Ding einfach von vorne hoch – er legte einen so unglaublichen Rhythmus vor, dass die komplette Gruppe in ihre Einzelteile zerfiel! Armstrong und Sastre hielten sein Hinterrad – sonst niemand.
Durch das hohe Tempo von Klöden war der Vorsprung des Spitzenreiters Pellizotti, der sich mittlerweile durch das enge Spalier der völlig durchdrehenden Tifosi nur noch hindurchquälte auf rund eine halbe Minute geschmolzen – doch endlich erreichte der Italiener den abgesperrten Bereich, das Ziel war nicht mehr fern! Während er einen seiner größten Erfolge seiner Karriere feiern konnte, führte Klöden die Verfolger ins Ziel. Armstrong und Sastre mussten auf den letzten Metern auch noch abreißen lassen, während von hinten Gomez Marchante etwas näher herangekommen war. Wenige Sekunden dahinter folgte Valjavec als Solist, dann eine größere Gruppe angeführt von Popovych, mit Nibali, Anton, Devolder, Pereiro und auch einem überraschend starken Sylvain Chavanel. Bis hierhin hatte es tatsächlich nicht die riesigen Abstände gegeben, mal von Pellizotti abgesehen, dennoch hatte Andreas Klöden seine Stärke und Souveränität eindeutig demonstriert. Bisher hatte ihm bei dieser Tour keiner seine Favoritenrolle streitig machen können.
Nach der ersten größeren Lücke führte Bernhard Kohl ein Trio um Vandevelde und Monfort, dem Träger des Weißen Trikots über die Ziellinie, der somit ein weiteres Mal Zeit gegenüber seinem ärgsten Konkurrenten Igor Anton verlor. Die Uhr tickte unbarmherzig weiter auf die zwei Minuten Marke zu und noch immer hatte Jörg das Ziel nicht erreicht! So langsam wurde ich ungeduldig – das konnte doch nicht sein, dass er und Menchov so viel Rückstand gefressen hatten! Zunächst erreichte Di Luca das Ziel, dann folgte Casar – oh je, das sah aber gar nicht gut aus. Chavanel hatte ja heute auch vorne mitgehalten – war Jörg etwa eingebrochen?!
Ich konnte es nicht sagen, auch wenn er jetzt endlich den Zielstrich passierte – mit 2’05“ Minuten Rückstand, allerdings nicht kämpfend und auch noch rund zehn Sekunden vor dem Feld, in das auch Menchov zurück gefallen war, der die Tour heute endgültig verloren hatte. Der Russe war anscheinend nicht in Topform, was auch seinen frühen Angriff heute erklären könnte, doch gegen den überragenden Pellizotti hatte er einfach keine Chance gehabt!

Tageswertung:
1.Pellizotti (Liquigas) 5h01’43”
2.Klöden (Astana) + 32”
3.Armstrong (Columbia) + 36“
4.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 41“
5.Gomez Marchante (Scott) + 46“
6.Valjavec (AG2R) + 56“
7.Popovych (Silence-Lotto) + 1’04“
8.Nibali (Liquigas) + 1’07“
9.Anton (Euskatel) s.t.
10.Devolder (Quick-Step) s.t.
18.Jaksche (Gerolsteiner) + 2’05“
21.Menchov (Rabobank) + 2’20“

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 62h55’04“
2.Devolder (Quick-Step) + 2’33“
3.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 2’46”
4.Monfort (Cofidis) + 3’39“
5.Pereiro (Caisse) + 4’09“
6.Anton (Euskatel) + 4’56“
7.Armstrong (Columbia) + 5’10“
8.Menchov (Rabobank) + 5’18“
9.Gomez Marchante (Scott) + 5’28“
10.Pellizotti (Liquigas) + 5’30“
12.Jaksche (Gerolsteiner) + 6’58“

Bergwertung:
1.Klöden (Astana) 80 Punkte
2.Armstrong (Columbia) 72 Punkte
3.Pellizotti (Liquigas) 69 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 62h58’43“
2.Anton (Euskatel) + 1’17“
3.Nibali (Liquigas) + 6’33“

Teamwertung:
1.Columbia
2.Astana + 1’13”
3.Cofidis + 2’04“
4.Gerolsteiner + 6’10”
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Andy92
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Beitrag: # 6786721Beitrag Andy92
21.8.2009 - 19:33

Zwar bin ich schon seit einer guten Woche wieder aus einem außerordentlich schönen und langen Alpenurlaub zurück, doch bisher wollte mir noch nicht so richtig einfallen, was ich schreiben sollte. Und somit erstmal ein kleiner Teil zum Aufwärmen.

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Melinda war zurück! Erst als sie heute Morgen zusammen mit Alexander aus dem Wagen gestiegen war, hatte ich bemerkt wie sehr ich sie eigentlich wirklich vermisst hatte. Ich konnte mir nicht erklären, wie ich auf ihre unbeschreibliche Schönheit in der vergangenen Woche so einfach hatte verzichten können. Damals hatte ich noch geglaubt ein bisschen Abstand zu ihr würde mir gut tun, doch jetzt war alles nur noch schlimmer. Nicht nur mein Kopf, nein mein ganzer Körper begriff wieder aufs Neue, dass sie mir noch immer nicht „gehörte“. Und was man nicht besaß, das begehrte man ohne Unterlass. Konnte es überhaupt sein, dass ich bei einem ihrer herzzerreißenden Blicke oder in ihrer Gegenwart jemals Langeweile oder Desinteresse verspüren konnte? Nein! Es war genau das Gefühl, das mir sagte: Die eine oder keine! Ich musste einfach mit ihr zusammen sein!
Doch wie verdammt noch Mal sollte ich das bitteschön anstellen? Sie war immerhin zwei Jahre älter als ich, auch wenn es sich überhaupt nicht so anfühlte. Wenn ich ehrlich war, dann war die Situation so gut wie aussichtslos. Mittlerweile wusste ich nicht mehr, ob ich wirklich weiterhin die Taktik des Abwartens durchziehen sollte – oder besser gesagt, konnte ich das tatsächlich aushalten und durchstehen?
Am besten sollte ich mich ablenken. Doch hier offenbarte sich das nächste Problem: Die Tour hatte heute Ruhetag, selbst konnte ich, aufgrund meiner Verletzungen sowieso nicht Radfahren. Mit dem Rad unterwegs zu sein fehlte mir wirklich sehr. Erst jetzt begann ich zu begreifen wie wichtig es für meinen Kopf war einmal am Tag etwas komplett anderes zu machen, ja regelrecht abzuschalten und alles neu sortieren zu können. Da blieb eigentlich nur noch eine einzige Ablenkungsvariante übrig: Ein anderes Mädchen. Doch da wollte ich über die Aussichten gar nicht erst nachdenken...
Irgendwie überstand ich diesen Tag und freute mich, dass am Dienstag wieder eine Bergetappe auf dem Programm stand – immerhin mit zwei Pässen der Außerordentlichen Kategorie – dem Col de la Lombarde und dem Dach der Tour, der Cime de la Bonette-Restefond.
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Andy92
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Beitrag: # 6786782Beitrag Andy92
22.8.2009 - 12:40

Jörg fühlte sich noch relativ relaxt. Relativ. Nach dem Col de la Lombarde und fast 25 Kilometern im Anstieg zur Cime de la Bonette war „relaxt“ vielleicht der falsche Ausdruck. Doch wenn er sich hier in der großen Gruppe so umsah, dann wusste er ganz genau, dass er hier mit Abstand der stärkste sein würde. Am Straßenrand erhaschte er noch den Blick auf das Schild, das auf die letzten drei Kilometer zur Bergwertung hinwies. Auch wenn er sich am Ende der Gruppe befand und das Zuschauerspalier immer dichter wurde, so war dennoch genug Platz für einen Angriff – den musste er jetzt zwangsläufig vollführen auch wenn das nicht so seine Sache war.
Den ganzen Pass über hatte er gepokert und abgewartet, war lieber seinen Rhythmus gefahren und machte wohl im Moment eher den Eindruck einzubrechen – hier am Ende der großen Verfolgergruppe. Vorne befand sich noch eine versprengte Ausreißergruppe mit Matthias (Russ), der gleich seine ihm heute eigentlich zugedachte Aufgabe, nämlich ihn, Jörg, nach vorne zu bringen, übernehmen sollte.
Bisher war wirklich alles perfekt gelaufen. Rund 5 Kilometer vor dem Gipfel war, wie man so schön sagte, vorne die Post abgegangen – Sastre und Armstrong hatten Klöden attackiert. Zuvor waren schon Pellizotti und Monfort devongestiefelt, später mit dem gelben Trikot noch mehr, doch wer genau konnte Jörg nicht sagen. Er hatte sich ausschließlich auf sich selbst und seinen Rhythmus konzentriert. Der Abstand war bisher im Rahmen geblieben, doch bevor er jetzt im kurzen flachen Abschnitt vor dem extrem steilen letzten Kilometer wohl zur Überraschung aller im abgehängten Feld die Initiative ergreifen würde, sollte er sich besser nochmals nach dem Rückstand bei Hans erkundigen – 1’23“ Minuten auf Franco Pellizotti, der zurzeit das Rennen anführte. Das sollte mit ein paar Weggefährten in der Abfahrt machbar sein.
Jörg arbeitete sich nach vorne, zog an Bernhard vorbei, der das Feld hier hinten weiterhin kontrollieren sollte. Direkt vor ihm ging jetzt Vandevelde aus dem Sattel – danke! Jörg schnappte sich sein Hinterrad und jagte dem US-Boy in die rund 16% steile Wand hinein zum Abschluss dieses Mörderpasses hinterher. Es lief besser als gedacht. Hier im steilen Bereich holten sie einen Fahrer nach dem anderen und Vandevelde lies er rund 500 Meter vor der Passhöhe auch noch hinter sich. Dort vorne, oder besser gesagt dort oben konnte er auch schon die Spitzengruppe erkennen. Sofort realisierte Jörg, dass er, obwohl er bereits an sein absolutes Limit kratzte, eindeutig schneller war als die Jungs um das leuchtende gelbe Trikot seines Landsmannes. Direkt vor ihm tauchte jetzt Matthias auf, doch sein Teamkollege konnte einfach nicht mehr beschleunigen und schüttelte den Kopf – sofort zog Jörg vorbei, er durfte kein Bisschen Geschwindigkeit verlieren, wenn er es doch noch bis zur Spitzengruppe schaffen wollte.
Doch diese letzten Meter wollten einfach kein Ende nehmen! Er bemerkte ein Motorrad des französischen Fernsehens direkt vor ihm und dankte ihm, dass es ihm die Sicht auf die Passhöhe versperrte – so wurde ihm der wohl niederschmetternde Anblick der langgezogenen Gerade gen Himmel erspart. Wenigstens etwas. Er trat mit allem was er hatte in die Pedalen und begann schon deutlich hin und her zu wackeln – dennoch musste er im Wiegetritt bleiben, auch wenn das keinen optimalen Vortrieb ermöglichte.
Einfach sprinten und drüberziehen!, dachte er, doch das war einfacher gesagt als getan. Seine Oberschenkel brannten ungemein, hoffentlich hatte er es bald geschafft, ansonsten würde er wohl bald stehen bleiben. Wahrscheinlich hatte er sich doch überschätzt und einen zu großen Gang gewählt, aber im Trainingslager hatte er das hier doch auch genauso hingekriegt – gut, damals war er um einiges ausgeruhter gewesen, aber trotzdem, das musste, ja, das hatte jetzt einfach zu funktionieren! Er vernahm ein Keuchen direkt hinter sich – ein Wunder bei dem Lärm, den die frenetischen Fans hier veranstalteten. Er erreichte eine deutsche Zuschauergruppe, die in diesem Jahr durch Klödens Erfolg fast so zahlreich am Streckenrand standen, wie zu Ullrichs besten Zeiten! Sie jubelten auf, als Jörg an ihnen vorbei zog und klatschten ihm eine Deutschlandfahne um die Ohren – Idioten!
„EINE MINUTE! JÖRG! EINE MINUTE!“, brüllte ihm plötzlich die heißere Stimme von Hans ins Ohr und im selben Moment war er oben, er hatte nicht viel Zeit um nachzudenken, denn schon ging es genauso steil bergab, wie es gerade bergauf gegangen war. Er schaltete aufs größte Blatt und fuhr einfach mit der gleichen Intensität von eben weiter, jagte um jede Kurve wie ein Verrückter ohne sich umzudrehen. Keiner würde wohl so ein großes Risiko eingehen wie er. Wenn er alleine unterwegs war, dann würde Hans wohl auch den Abstand nach vorne nicht kennen – die Franzosen machten sich nicht die Mühe für jeden versprengten Fahrer die Zeit zu messen. Doch das brachte auch Vorteile mit sich. Vielleicht wussten die Fahrer in der Spitzengruppe auch gar nicht, dass er von hinten heranraste wie in Irrer. Wahrscheinlich kannten sie nur den Vorsprung auf die nächstgrößere Verfolgergruppe – ja! Jörg hatte es geschafft, nicht nur den Fernsehkameras, sondern auch den Rennkommissären zu enteilen! Perfekt! Das Rennen hatte ihn einfach verschluckt und als Außenstehender hätte man den Eindruck bekommen können, der Kapitän vom Team Gerolsteiner wäre heute Morgen nie an den Start gegangen.
Volle Konzentration auf die Straße! Jörg traute sich nicht einmal einen Blick auf seinen Tacho zu werfen! Nie im Leben hätte er gedacht, so ein guter Abfahrer werden zu können, doch heute hatte er einfach einen guten Tag und er spürte, das alles glatt gehen würde – und schon viel früher als gedacht war das Wunder perfekt! Bei der 20 Kilometer Marke tauchten vor ihm plötzlich sieben Fahrer auf – Klöden, Armstrong und Monfort erkannte er an ihren Sondertrikots sofort, Sastre auch, denn er fuhr am Ende der Gruppe, Pellizottis grünes Liquigastrikot stach ihm ebenfalls sofort ins Auge, doch den Rest erkannte er erst als er den Anschluss hergestellt hatte: Anton der junge Baske und Etappensieger von Hautacam, Nachfolger von Iban Mayo und Valjavec von AG2R, der mit fast 1’30“ Vorsprung direkt vor Jörg im Gesamtklassement lag.
Er versuchte durchzuzählen, wer aus den Top Ten fehlte: Devolder, Pereiro, Menchov und Gomez Marchante. Wo war denn der Russe? Hatte er vorhin nicht angegriffen, als Sastre und Armstrong davon gesprungen waren – hatte er ihn überhaupt überholt? Nein, Menchov war kein guter Abfahrer – das war unmöglich.
„Klasse! Du bist vorne, Voeckler liegt alleine auf der Verfolgung – eine Minute – dahinter das Feld mit allen anderen!“ Er hörte Hans förmlich durch das Begleitfahrzeug hüpfen, so überglücklich war er, dass die Teamtaktik bisher so ausnahmslos toll aufgegangen war. Jetzt hieß es nur noch, den anderen Assen den Tagessieg wegzuschnappen! Klöden und Anton hatten schon einen auf dem Konto, Pellizotti ebenfalls. Jörg beschloss in Lauerposition am Ende der Gruppe zu bleiben und auf den letzten Metern, die, soweit er es noch in Erinnerung hatte, etwas flacher waren und sich für eine Attacke förmlich anboten.
15 Kilometer und 10 Kilometer vor dem Ziel hörte er Hans weitere Male jubeln, dass der Abstand nach hinten immer größer wurde – und das schien kein Psychospielchen von ihm zu sein! Jörg war damit beschäftigt den Angriff so gut wie möglich vorzubereiten, doch die Abfahrt dauerte länger als erwartet. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie die 5 Kilometer Marke! Die Zuschauerzahl nahm jetzt von Kilometer zu Kilometer sukzessive zu – es begann zu knistern! Spannung lag in der Luft! Jetzt musste alles stimmen! Jörg wartete auf den richtigen Moment und als sie rund 3 Kilometer vor dem Ziel in Jausiers eine etwas längere Gerade erreichten, sagte ihm sein Bauchgefühl einfach „Ja“!
Also probierte er es schon bergab und der damit verbundene Überraschungsmoment schien sofort zu wirken. Jörg konnte die größte Übersetzung die er hatte voll durchtreten und zog an allen vorbei, raste um die nächste Kurve, legte sich fast auf die Straße, beschleunigte wieder, warf einen kontrollierenden Blick zurück, ob sich der Krafteinsatz auch wirklich lohnte und konnte eine beachtliche Lücke von fast zwanzig Metern bestaunen! Jetzt oder nie! Er zog durch, blind und einfach drauf los rasend! Das war seine Chance! Wann würde denn schon wieder einmal die Möglichkeit kommen eine Touretappe zu gewinnen! Er gehörte einfach nicht mehr zu den Jüngsten – was würde das für ein Comeback sein! Nein! Er durfte sich nicht zu früh freuen. Noch einmal voll konzentrieren, kein Risiko, aber trotzdem schneller als die anderen. Er rauschte unter der 2 Kilometer Marke hinweg und in den Zielort hinein. Die Zuschauer jubelten auf, als er um die nächste Kurve stob – das puschte ihn noch einmal ungemein!
Der Teufelslappen! Er war so schnell, dass er ihn kaum gesehen hatte – die letzte 90 Grad Kurve, es ging um eine leichte Rechtskurve und er warf noch einmal einen Blick zurück. Sie hatten sich zu lange belauert! Pellizotti sprintete von vorne weg – aber 100 Meter hinter ihm! Schon bei der 75 Meter Marke richtete sich Jörg auf! Es war ein unbeschreibliches Gefühl!

Tageswertung:
1.Jaksche (Gerolsteiner) 4h33’48“
2.Pellizotti (Liquigas) + 7“
3.Valjvec (AG2R) s.t.
4.Monfort (Cofidis) s.t.
5.Anton (Euskatel) s.t.
6.Popovych (Silence-Lotto) s.t. (in der Abfahrt aufgeschlossen)
7.Voeckler (Cofidis) s.t. (in der Abfahrt aufgeschlossen)
8.Sastre (CSC-Saxo Bank) s.t.
9.Armstrong (Columbia) s.t.
10.Klöden (Astana) s.t.
11.Gesink (Rabobank) + 2’01”

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 67h28’59“
2.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 2’46”
3.Monfort (Cofidis) + 3’39“
4.Devolder (Quick Step) + 4’27”
5.Anton (Euskatel) + 4’56“
6.Armstrong (Columbia) + 5’10“
7.Pellizotti (Liquigas) + 5’30“
8.Valjavec (AG2R) + 5’30“
9.Pereiro (Caisse) + 6’03“
10.Jaksche (Gerolsteiner) + 6’51“

Bergwertung:
1.Klöden (Astana) 92 Punkte
2.Armstrong (Columbia) 90 Punkte
3.Pellizotti (Liquigas) 89 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 62h58’43“
2.Anton (Euskatel) + 1’17“
3.Nibali (Liquigas) + 8’27“

Teamwertung:
1.Columbia
2.Astana + 1’13”
3.Cofidis + 2’04“

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Die höchste Passstraße der Alpen - rund um die Cime de la Bonette.
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Beitrag: # 6787630Beitrag Andy92
28.8.2009 - 23:15

Irgendwie ahnte ich bereits, dass Jörg heute auf der Königsetappe der 95. Tour de France nicht an seine unglaubliche Leistung von gestern anknüpfen konnte. Er hatte mich aufhorchen und aufjubeln lassen, hatte mir wieder gezeigt, wie interessant es doch eigentlich war, die Profi Rennen zu verfolgen. Genau wegen dieser Momente lohnte es sich einfach, sich jedes Rennen anzusehen, egal wie langweilig es auch war. Der Radsport machte es mir immer wieder klar, hielt mir seine schier unfassbare Spannung vor Augen, nachdem er mich tagelang mit seiner Trägheit und der schier endlosen dahinsiechenden Öde gelangweilt hatte. Ohne diese Langeweile würde es für mich wohl irgendwann keinen Reiz mehr an dieser Sportart geben. Wenn jede Etappe, jedes Rennen so spannend wäre, dann würde es schnell langweilig werden – deshalb brauchte ich diese Extreme. Diesen gewaltigen Zwiespalt zwischen Langeweile und unfassbarer Spannung, zwischen scheiternden und einbrechenden Favoriten und triumphierenden Helden, zwischen den eigenen schlechten Tagen, an denen nichts zusammenläuft und an denen, wo man denkt, unschlagbar zu sein. Ohne diese Kluft zwischen Tief und Hoch wäre der Radsport nichts Besonderes.
Doch um dieses Phänomen begreifen zu können, musste man die Sportler kennen, doch das benötigte Zeit und Geduld und vor allem musste ein Radsportfan etwas im Kopf haben, um den Überblick, den Durchblick nicht zu verlieren. Aber von diesen gab es nur wenige, die sich diesem Prozess gerne unterwarfen, um dieses unbeschreibliche Glücksgefühl des Sieges erfahren zu können, es zu genießen, wie kaum ein anderer Mensch auf der Welt, sei es der Erfolg des Lieblingsfahrers oder der eigene als Amateur. Radsport war in jeglicher Hinsicht, sowohl für den Fahrenden, als auch für den Zuschauenden eine Ausdauersportart – das war unbestritten – und die Faszination daran würde sich nur wenigen jemals in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt öffnen und ihre letzten Kniffe und Tricks preisgeben, serviert auf dem Silbertablett einer Extremsportart, sowohl körperlich als auch emotional. Oder in ganz kurzer Form: Ohne Langeweile gab es keine Spannung – der Radsport bewies es fortlaufend.

So auch heute. Es war aber wohl eher einer der Tage, an dem man an seinem eigenen plötzlichem Scheitern verzweifelte. Während sich Armstrong, Sastre, Gomez Marchante, Monfort und Klöden auf dem Weg hinauf nach Alpe d’Huez einen packenden Kampf lieferten, sah ich Jörg auf den berühmten 21 Kehren nur zweimal. Das erste Mal, als er bei der Tempoverschärfung von Frank Schleck abreißen lassen musste, der die Attacke seines Teamkollegen Carlos Sastre somit mustergültig vorbereitete und das Feld in kleine Fetzen zeriss, und das zweite Mal, als er das Ziel überquerte – doch dazu später mehr.
Das gnadenlose Ausscheidungsverfahren, das Schleck von Anfang an angezettelt hatte, wurde eiskalt durchgezogen. Nachdem sich die fünf genannten Spitzenreiter durch die Tempoverschärfung von Sastre von der Konkurrenz gelöst hatten (Monfort hatte nicht direkt folgen, sich aber eindrucksvoll zurückkämpfen können), fielen dem beinharten Tempo der beiden Spanier und des Deutschen zuerst Monfort und Armstrong zum Opfer – wohlgemerkt drei Kilometer vor dem Ziel.
Dahinter tobte der Kampf um die Top Ten: Pellizotti, Popovych, Menchov und Pereiro befanden sich alleine auf weiter Flur auf der Verfolgung der Spitzenreiter, wenn man es überhaupt Verfolgung nennen konnte – Schadensbegrenzung traf es wohl eher. Genau den selben Gedanken verfolgte wohl Stijn Devolder, der sich in einer größeren Gruppe schon reichlich abgeschlagen befand. Noch weiter zurück, in der nächsten Gruppe, oder besser gesagt, beißend an deren Schwanz, drückte Jörg eine endlose Pedalumdrehung nach der anderen durch – ich fühlte mit ihm mit, auch wenn ihn die französische Regie nur einmal ins Bild rief.
Der Rest war schnell erzählt: Als das Spitzentrio rund 2 Kilometer vor dem Ziel das alte Bergdorf Huez erreichte – heute nichts weiter als ein Vorort und Namensgeber der Wintersporthochburg einige Höhenmeter weiter oben gelegen – musste Gomez Marchante reißen lassen. Von hinten kam Popovych an Armstrong und Monfort heran, dann konzentrierte man sich nur noch auf Sastre und Klöden, die sich auf dem gesamten letzten Kilometer belauerten und wohl eher unabsichtlich nebeneinander fuhren, was dennoch ein beeindruckendes Bild abgab. Der Mann in Gelb hatte sich während der gesamten Tour keine Blöße gegeben und auch jetzt schien es auf keinen Fall so, als ob er dem Spanier so einfach den Tagessieg überlassen wollte. Immerhin war der Spanier mittlerweile sein ärgster Konkurrent, dessen Hinterrad er nicht aus den Augen verlieren durfte.
So testete Klöden Sastre 400 Meter vor dem Ziel an und attackierte von vorne. Hatte der Spanier gerade noch zu locker und leichtfüßig ausgesehen, so musste er jetzt auf die Zähne beißen und verlor beim Antritt des Deutschen wohl die entscheidenden Meter. Er sprintete im Gegensatz zu seinem Rivalen zwar voll durch, kam aber nicht mehr näher als 30 Zentimeter an Klöden heran, der sich mit viel Risiko schon sehr früh aufrichtete, aber endgültige Klarheit geschaffen hatte, auf welches Haupt die Krone dieser Tour gehörte – „Klöden krönt sich selbst“ titelte ein Internetdienst an diesem Abend in Anspielung auf die Königsetappe und, dass dem zweiten Deutschen nach Jan Ullrich der Gesamterfolg kaum noch zu nehmen war.
So sehr Andreas Klöden auch bei der Siegerehrung strahlte, als er bei dieser Tour schon zum zweiten Mal zwei Mal auf das Podium gebeten wurde, so niedergeschlagen und fertig trottete in diesem Augenblick wohl Jörg zum Teambus. Als 27. und mit 3’40“ Minuten Rückstand hatte er mit letzter Kraft den Zielstrich überquert – schade, dabei sah es nach dem gestrigen Etappensieg in Sachen Top Ten Platzierung so gut aus. Aber auch so war es eine klasse Tour – und bislang wohlgemerkt auch seine beste.

Tageswertung:
1.Klöden (Astana) 6h09’07“
2.Sastre (CSC-Saxo Bank) s.t.
3.Gomez Marchante (Scott) + 32”
4.Armstrong (Columbia) + 1’04”
5.Monfort (Cofidis) + 1’04”
6.F.Schleck (CSC-Saxo Bank) + 1’19”
7.Popovych (Silence-Lotto) s.t.
8.Pellizotti (Liquigas) + 1’56“
9..Anton (Euskatel) s.t.
10.Menchov (Rabobank) s.t.
27.Jaksche (Gerolsteiner) + 3’40“

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 73h38’06“
2.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 2’46”
3.Monfort (Cofidis) + 4’43“
4.Armstrong (Columbia) + 6’14“
5.Devolder (Quick Step) + 6’37”
6.Anton (Euskatel) + 6’52“
7.Pellizotti (Liquigas) + 7’24“
8.Valjavec (AG2R) + 7’40“
9.Gomez Marchante (Scott) + 7’44“
10..Pereiro (Caisse) + 7’59“
13.Jaksche (Gerolsteiner) + 10’31“

Bergwertung:
1.Klöden (Astana) 132 Punkte
2.Armstrong (Columbia) 126 Punkte
3.Sastre (CSC-Saxo Bank) 115 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 69h08’54“
2.Anton (Euskatel) + 2’09“
3.Nibali (Liquigas) + 9’36“

Teamwertung:
1.Columbia
2.Cofidis + 2’34”
3.Astana + 2’45”

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Ein Teil des mythischen Anstiegs aus der Helikopterperspektive.
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Andy92
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Beitrag: # 6787825Beitrag Andy92
29.8.2009 - 23:32

Die Etappe nach Saint Etienne schien eigentlich für Ausreißer prädestiniert zu sein, doch auch am Col de la Croix de Montvieux ging der Kampf der Favoriten auf die Gesamtwertung weiter: Klöden reagierte bei einem Angriff von Pereiro; F.Schleck, Sastre und Co zogen hinterher und erstickten so zusammen mit dem Deutschen die Attacke des Spaniers.
Auch mit von der Partie war Jörg. Heute schien es wieder etwas besser zu laufen als gestern und als sich mein Freund auf der Passhöhe zusammen mit allen anderen Favoriten wieder im Hauptfeld wiederfand, versuchte er es wie auf dem Weg nach Jausiers in der Abfahrt – ich jubelte schon auf und feuerte ihn an, auch wenn ich wusste, dass er es unmöglich hören konnte. Ich versuchte ihn nach vorne an die Spitze des Rennens zu treiben, denn dort befanden sich noch drei Ausreißer, die aus einer größeren Gruppe übrig geblieben waren. Llyod und Possoni, sowie Stefan Schumacher, der sich überraschenderweise bereits etwas von seinen ehemaligen Fluchtgefährten gelöst hatte. Die Situation war für Gerolsteiner zwar ausgesprochen gut, aber hätte Schumacher mit seiner Attacke noch ein wenig gewartet, dann sähe jetzt alles beinahe perfekt aus.
Vierzig Sekunden holte Jörg raus – allerdings waren zu diesem Zeitpunkt noch gut 15 Kilometer bis zum Ziel zurückzulegen und er hatte noch nicht ganz zum Verfolgerduo seines Teamkollegen aufschließen können. Zwölf Kilometer vor der Ziellinie schaffte er es endlich, doch da war Schumacher schon weit enteilt. Anscheinend war der Teamleitung der zweite Etappensieg im Moment wichtiger, als Jörg im Gesamtklassement noch großartig zu verbessern, was sowieso relativ unmöglich schien, wenn ich ehrlich war.
Gut zehn Kilometer vor dem Ziel ging beiden Gerolsteiner Profis die Luft aus – Gomez Marchante zog Klöden, Monfort und Voeckler mit nach vorne, wobei sich die drei Zugletztgenannten an die Spitze des Rennens setzen konnten. Schumacher und Jörg gingen im Geschehen unter, als hätte es sie nie gegeben, denn schon rollte die nächste Angriffswelle aus dem Feld heran. Diesmal mit Devolder, Pellizotti und Sastre.
Genau im selben Augenblick attackierte Voeckler, der neue französische Landesmeister, Monfort und Klöden – die beiden belauerten sich und so wuchs der Vorsprung des Franzosen schnell ins Unermessliche. Jetzt war natürlich klar, dass man die letzten vier Kilometer lang auf dem Bildschirm nichts anderes als den kämpfenden Thomas Voeckler bestaunen konnte. Wie im Bilderbuch eroberte der kleine sympathische Franzose Saint Etienne und ganz Frankreich und lies die Erinnerungen an 2004 wieder aufflammen – mutterseelenallein steuerte er auf die Zielgerade zu und konnte seinen Triumph über das gelbe Trikot und seinen ersten Etappensieg bei der Tour in vollen Zügen genießen. Klöden führte die Verfolgergruppe kontrolliert an, zu der mittlerweile auch Pellizotti und Devolder aufgeschlossen hatten. Dort ging es um nichts weiter als um Prestige und diesen Schowkampf entschied ähnlich wie gestern der Deutsche für sich – er signalisierte wie einst ein gewisser Amerikaner aus Texas, der das Ziel heute mit dem Hauptfeld erreichte, der Konkurrenz wer der unangefochtene Chef im Ring war.
Durch dieses kleine Malheur verlor Armstrong übrigens seinen Platz unter den Top Vier wieder an Devolder. Ob der siebenmalige Toursieger diesen Platz im Einzelzeitfahren am Samstag wieder zurückerobern konnte, blieb fraglich, wenn man sich das Ergebnis des ersten Zeitfahrens in Erinnerung rief. Dort landete Devolder nämlich weit vor Armstrong, dessen Comeback schon jetzt gründlich in die Hose gegangen zu sein schien – gestürzt, dadurch viel Zeit verloren, immer wieder Unaufmerksamkeiten im Renngeschehen und am Ende vielleicht nur der fünfte Platz – das konnte nicht nach dem Geschmack des Tourminators sein.

Tageswertung:
1.Voeckler (Cofidis) 4h38’37“
2.Klöden (Astana) + 22“
3.Pellizotti (Liquigas) s.t.
4.Devolder (Quick Step) s.t.
5.Monfort (Cofidis) s.t.
6.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 57”

Gesamtwertung:
1.Klöden (Astana) 78h17’05“
2.Sastre (CSC-Saxo Bank) + 3’21”
3.Monfort (Cofidis) + 4’43“
4.Devolder (Quick Step) + 6’37”
5.Armstrong (Columbia) + 6’49“
6.Pellizotti (Liquigas) + 7’24“
7.Anton (Euskatel) + 7’27“
8.Valjavec (AG2R) + 8’15“
9.Gomez Marchante (Scott) + 8’19“
10..Pereiro (Caisse) + 8’34“
13.Jaksche (Gerolsteiner) + 11’06“

Bergwertung:
1.Klöden (Astana) 132 Punkte
2.Armstrong (Columbia) 126 Punkte
3.Sastre (CSC-Saxo Bank) 120 Punkte

Punktewertung:
1.Hushovd (Credit Agricole) 218 Punkte
2.Klöden (Astana) 179 Punkte
3.Boonen (Quick Step) 172 Punkte

Nachwuchswertung:
1.Monfort (Cofidis) 78h21’48“
2.Anton (Euskatel) + 2’44“
3.Nibali (Liquigas) + 10’11“

Teamwertung:
1.Columbia
2.Cofidis + 1’59”
3.Astana + 2’10”

Sven, Danilo, Melinda und ich gingen nach der Etappe wieder nach oben in den Speisesaal. Dort wartete das Abendessen auf uns. Wie jeden Tag – für mich war es hier mittlerweile ziemlich langweilig geworden. Nichts hätte ich jetzt lieber getan, als endlich wieder Rad zu fahren – nein, nicht nur jetzt, jeden Augenblick verspürte ich diesen Drang. Es war zwar nicht ganz so schlimm wie bei einem Junkie auf Entzug, doch ein wenig Abwechslung hätte mir mit Sicherheit mal wieder ganz gut getan. Doch weder Tino noch Alexander ließen mich auch nur irgendwelche sportlichen Betätigungen vollführen – sie wollten angeblich kein Risiko eingehen. Doch aus meiner Sicht sah das schon fast nach einer Strafe aus, nach einem Dahinschmorenlassen.
Oft hatte ich das Gefühl einfach vergessen oder beiseite gekehrt zu werden. Als hätten sie mich schon längst abgeschrieben, dabei hatte ich doch nur ein gebrochenes Handgelenk, alle anderen Verletzungen des Sturzes hatte ich längst auskuriert.
Zwar verlief der Heilprozess nicht sonderlich gut, doch zumindest auf den Hometrainer hätten sie mich ja lassen können. Doch immer wieder bekam ich die selbe Antwort: „Das ist noch zu früh“. Ja, wann war denn dann der richtige Zeitpunkt? Die Saison war nicht mehr allzu lang, auch wenn man beim Blick aus dem Fenster in die wunderschöne grüne Alpenwelt des Vierwaldstättersees nicht unbedingt den Eindruck davon bekam, dass hier in gut drei Monaten schon der erste Schnee fallen könnte.
Mittlerweile hatte ich die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, in dieser Saison noch einmal ein Rennen mit ernsthaften Ambitionen zu bestreiten. Dafür machte ich jetzt schon zu lange nichts mehr. Vom Übertraining ins Nichtstun abfallen war vielleicht auch nicht gerade die beste Lösung, aber ich musste mich nun einmal nach Tino und Alexander richten. Sie befanden, es wäre das Beste für mich, wenn ich dieses Radsportjahr abhaken würde. Es wäre eine erfolgreiche und lange Saison für mich gewesen – bei letzterem konnte ich nicht wirklich zustimmen – und wenn ich jetzt mit dem behutsamen Formaufbau schon im Herbst beginnen würde, dann hätte ich einen riesigen Vorteil gegenüber meinen Teamkollegen im Internat und gegenüber der Konkurrenz. War das nicht eine Milchmädchenrechnung? Nein, mit Sicherheit nicht. Wahrscheinlich regte ich mich nur so auf, weil mir so unendlich langweilig war. Hätte es in diesen Tagen die Tour nicht gegeben – und die war bald vorbei – Sven und vor allem Melinda, ja, wenn es sie nicht gegeben hätte, was hätte ich dann wohl gemacht? Ich wäre wohl irgendwann aus dem Fenster gesprungen oder am Ende hätte ich sogar noch meine Mutter im Gefängnis besucht...
„Andreas?“, Alexander lief uns vor der Tür in den Speisesaal über den Weg. Offensichtlich war er auch gerade auf dem Weg zum Essen. „Kommissar Besson hat für dich angerufen. Allerdings privat. Er hat dich auf ein Mittagessen morgen eingeladen.“
Immerhin doch noch etwas Abwechslung und die langweilige Flachetappe der Tour verpasste ich so auch noch. Besser hätte es nicht laufen können. Ich und Alexander klärten kurz die Details, während ich mir noch überhaupt keine Gedanken machte, warum Besson mit mir Essen gehen wollte.
Erst am Abend, als ich schon im Bett lag, dachte ich darüber nach. Wie ich wusste, hatte er also einen privaten Hintergrund – es hatte also glücklicherweise nichts mit meiner Mutter zu tun, deren Gerichtsverhandlung mir ja auch noch bevorstand. Vielmehr könnte es über den Gersauer Bergcup oder Radsport allgemein gehen. Aber ehrlichgesagt war es mir dann doch wieder egal. Immerhin würde meine Langeweile bis morgen Nachmittag etwas verfliegen, zumal Besson eigentlich ein ganz sympathischer Typ war...
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Andy92
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Beitrag: # 6788424Beitrag Andy92
3.9.2009 - 16:32

„Hallo Andreas.“ Besson machte den Eindruck als wäre er auf dem Weg zu einem Geschäftsessen. Zwar trug er nicht Anzug und Krawatte, dennoch schien er sich aus irgendeinem Grund für diesen Anlass herausgeputzt zu haben. Gut, in Zivil hatte ich ihn noch nie wirklich gesehen, auch ein Kommissar, der keine Uniform trug, hatte wohl eine Art Arbeitskleidung. Wahrscheinlich lief Besson in seiner Freizeit immer mit einem weißen Hemd und einer Jeans herum, beide mit diversen Schriftzügen ultrahochwertiger und genauso teurer Marken versehen.
Ich begrüßte ihn mit einem kurzen „Hallo“ und einem milden Lächeln. Als wir uns die Hände schüttelten fiel sein Blick sofort auf meine linke. Sie war immer noch geschient und verbunden, aber immerhin konnte ich sie mittlerweile wieder leicht bewegen.
„Wie ist denn das passiert?“, stutzte er.
„Bei der Abfahrt vom Klausenpass hat es geregnet“, sagte ich nur und starrte verdrießlich auf den Verband hinunter.
„Das sieht wirklich übel aus. Ich hatte mal so etwas ähnliches – das ist aber schon eine ganze Weile her. Ich hoffe nur, dass du keine bleibenden Schäden davon trägst, so wie ich. Ich war damals nämlich so unvernünftig und hab eine, vielleicht zwei Wochen zu früh wieder mit dem Training angefangen. Seitdem bricht eine Sehnenreizung immer wieder auf, wenn ich die Hand starken Belastungen aussetze. Keine Ahnung wie das alles zusammenhängt, auf alle Fälle ist ein Handgelenkt ein ziemlich fragiles System.“
Oh, wie ich diese Belehrungen satt hatte! Von Alexander und Tino hatte ich die letzten Wochen nichts anderes gehört. Größtenteils waren sie sogar noch ausführlicher, vor allem Alexander, der mich immer wieder warnend auf sein kaputtes Knie hinwies.
„Glauben Sie mir, ich kenne die Risiken mittlerweile zu Genüge. Und eigentlich wollte ich das Thema mal für einen halben Tag völlig außer Acht lassen.“
„Klar, kein Problem. Ich würde vorschlagen, wir fahren einfach gleich los.“

Lang dauerte die Autofahrt nicht. Das Restaurant lag direkt in der Stadtmitte von Gersau. Als ich mir ein Schweineschnitzel mit Bratkartoffeln bestellte, fragte mich Besson dann doch wieder, ob ich Fleisch überhaupt schon schneiden konnte. Ich wimmelte ab und meinte, dass mein Arzt mir mittlerweile schon so kleinere Fortschritte zumutete, ich es aber nicht übertreiben solle. Meine Mentoren im Internat hätten das wohl nicht wirklich gerne gesehen, aber ich war es leid, seit Wochen immer nur Nudeln zu fressen. Nicht, dass ich Nudeln nicht mochte, nein, ich liebte sie in sämtlichen Formen und Beschaffenheiten, doch irgendwie hatte es auch etwas Eintöniges immer dasselbe zu essen. Und da bei mir heute Abwechslung auf dem Programm stand, wollte ich da auch beim Essen keine Ausnahme machen.
Doch schon nach drei Bissen von diesem köstlichen Stück Schweinefleisch, wusste ich, dass es wohl ein Fehler gewesen war, und ich mir zu viel zugemutet hatte. Meine Hand schmerzte mit jedem Säbeln der Messerklinge stärker und stärker, selbst bei den Kartoffelstückchen, die ich nur mit ganz leichtem Druck aufspießen musste, fing es irgendwann an zu ziepen. Auch wenn alles wunderbar schmeckte, so war ich doch ziemlich froh, als ich den Teller dann endlich leergeräumt hatte. Gegenüber Besson wollte ich mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Das wäre doch wohl mehr als dümmlich, trotz seiner Warnungen zu behaupten, dass meine Hand schon wieder ein Stück weit genesen war, und es dann doch überhaupt nicht so funktionierte wie ich es mir erhofft hatte.
„Du fragst dich bestimmt, warum ich dich überhaupt eingeladen habe“, fragte er mich, nachdem wir uns eine ganze Weile lang über das Rennen auf die Rigi Scheidegg unterhalten hatten, bei dem Besson ja immerhin zweiter geworden war und mich so geschlagen hatte.
„Wahrscheinlich hast du es dir schon gedacht...“ Oh nein! Alles nur nicht das! Nur am ersten August, aber bitte nicht jetzt! Ich wusste, dass ich mich dem Thema irgendwann noch einmal stellen musste, aber doch bitte nur an diesem einen Tag. „Es geht um den Fall von Georg von Klavsen, also um deine Mutter.“
Er legte eine Pause ein. Offensichtlich schien er abzuwarten, welche Reaktion ich auf das neue Thema geben würde. Ich bemühte mich, so gleichgültig wie möglich dreinzublicken und nickte auffordernd, dass er doch weiter sprechen solle – ich wollte diese Angelegenheit jetzt so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Er sprach leiser, als er endlich fortfuhr: „Gut. Ich muss dich aber warnen, es sind keine guten Nachrichten. Und eigentlich darf ich dir das auch überhaupt nicht sagen. Ich verstoße gerade gegen einige Dienstregeln, aber das hat auch einen guten Grund. Es wird dich vielleicht nicht wirklich interessieren, aber ich werde mich versetzen lassen und vorher ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre Pause einlegen. Beim Gersauer Bergcup habe ich gemerkt, wie viel Potential noch in mir steckt und so habe ich beschlossen – gut nicht nur deshalb, aber es ist doch der Hauptgrund – professionell an Mountainbikeevents und was weiß ich noch alles teilzunehmen. In den Alpen gibt es im Sommer so gut wie jedes Wochenende eine Veranstaltung, sei es ein Marathon zu Fuß oder auf dem Rad, mit den richtigen Sponsoren kann man richtig viel Preisgeld rausholen und so über die Runden kommen – die Erfahrung brauche und suche ich auch schon ewig in meinem Leben.“
Das hörte sich doch schon viel interessanter an, als der Fall meiner Mutter.
„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, wirklich, das freut mich richtig. Sie haben immerhin den zweiten Platz hinter einem Profi aus der Szene belegt. Und wenn Sie meinen, dass Sie noch mehr Potential haben, dann könnte da auch der ein oder andere Sieg drin sein – ganz ehrlich.“
Besson musste grinsen. „Danke“, lachte er. „Ich denke wir wissen beide, dass wir in radsportlicher Hinsicht großes Potential haben. Aber das war eigentlich gar nicht das, was ich dir sagen wollte...“
„Und was war der zweite Grund?“, warf ich ein – dieses Gespräch wollte ich noch ein bisschen hinauszögern.
„Bitte?“, Besson musste einen Augenblick lang überlegen, „Natürlich...das...ähm...ja, das liegt an meiner Kollegin. Ich finde man sollte seinen Beruf und sein Privatleben voneinander trennen. Das klingt jetzt vielleicht sehr nach Klischee, aber ich komm anders wirklich nicht klar. Ich brauche einfach eine Auszeit – in letzter Zeit war alles sehr kompliziert. Aber jetzt möchte ich endlich zu dem kommen, was ich dir eigentlich erzählen wollte.“
Gut, ich konnte es anscheinend nicht länger verzögern. So gut kannten wir uns jetzt dann doch nicht, als dass ich ihn danach ausfragen könnte, was da zwischen ihm und seiner Kollegin lief. So weit ich mich noch erinnern konnte, sah sie ja auch wirklich nicht schlecht aus...wer sollte es ihm verübeln?
„Du musst mir versichern, dass ich dir das, was ich dir gleich erzähle, eigentlich nie gesagt habe. Das Gespräch, zumindest dieser Teil, hat einfach nicht statt gefunden, ok?“
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch, nickte und beugte mich ein Stückchen weiter nach vorne, da er mittlerweile wieder fast zu Flüstern begann – und das Restaurant war gut gefüllt. Was würde er jetzt zu mir sagen? Ich spürte ein Tröpfchen angereichertes Adrenalin durch meinen Körper jagen und mein Magen schien einen kunstvollen Sprung vom 10-Meter Turm zu vollführen – jetzt hatte er mich also doch neugierig gemacht und meine gesamte Aufmerksamkeit auf dieses eine Thema gelenkt. Und sofort spürte ich, dass er wirklich keine guten Nachrichten für mich haben konnte. So redete niemand, der meine Mutter schon in ihrer wohlverdienten Zelle sah.
„Der Staatsanwalt und mein direkter Vorgesetzter sind sich mittlerweile wieder ziemlich unsicher geworden, was die Anklage deiner Mutter angeht. Und das alles nur, weil irgendwelche Vollidioten von ganz oben auf die Idee gekommen sind, doch mal zu prüfen, ob diese Frau wirklich zu Recht in Untersuchungshaft sitzt. Es gab einen richtigen Aufstand – wir haben dagegen gekämpft und denen alle Beweise auf den Tisch gelegt, aber seit gestern Nachmittag ist sie wieder...sie ist wieder frei.“
„Was!? Die sind doch vollkommen wahnsinnig geworden! Sind die denn alle völlig blind?! Meine Mutter spielt denen doch was vor, genauso wie...!“
„Bitte, beruhig dich, das ist noch lange nicht alles. Spar dir deine Kräfte. Also, der Staatsanwalt musste natürlich daraufhin seine Anklage gegen sie fallen lassen, wobei es noch nicht ganz sicher ist, dass es definitiv keine Verhandlung geben wird, zumindest nicht am ersten August.“
„Oh, Mann! So eine Scheiße – ich wusste es!“, fluchte ich so leise es ging und hielt mich gerade noch davon ab mit meiner linken Faust auf den Tisch zu schlagen. Wer weiß, was dann noch alles mit meiner Hand passiert wäre. „Was mach ich denn jetzt?“ Ich konnte nicht anders, als mein Gesicht hinter meinen Händen zu verbergen.
„Da du auf dich zu sprechen kommst – falls es zu einer Neuaufnahme des Falles kommt, wird man höchstwahrscheinlich auch deine Rolle in dem ganzen Stück unter die Lupe nehmen. Man vermutet nämlich, ich weiß es ist absurd, aber vor allem mein direkter Vorgesetzter meint, dass du ein Mitwisser warst – zweifellos, das stimmt auch irgendwo – aber du hast sie definitiv nicht gedeckt! Im Gegensatz zu mir kann er deine Beweggründe nämlich nicht nachvollziehen. Er glaubt, dass du nicht von ihr erpresst wurdest. Und wenn ich ehrlich bin, dann klingt deine Geschichte nach außen hin wirklich etwas fadenscheinig.“
„Sie werden es nicht glauben, aber das kann ich verstehen“, entgegnete ich nun doch wieder etwas gefasster. Aber Besson schien noch nicht fertig zu sein.
„Und das alles nur, weil die Beweise einfach nicht ausreichen. Ich hab es mir schon von Anfang an gedacht. Du warst der beste Zeuge – immerhin hat sie dir den Mord gestanden – aber ausgerechnet der ist am unglaubwürdigsten. Da helfen auch die Bilder der Überwachungskamera der Bergbahn nichts mehr. Und weißt du, was ich mittlerweile denke?“
Die Röte schoss Besson mit einem Mal ins Gesicht. Für was schämte er sich denn so? Es war doch nicht seine Schuld, dass meine Mutter höchstwahrscheinlich ungescholten davon kam, dass ihr Plan tatsächlich aufgegangen war. Dafür konnte er am wenigsten etwas. Wenn, dann war ich der Schuldige. Warum war ich damals nur so blind gewesen? Warum hatte ich mich so einfach „erpressen lassen“?
„Dass sie es wirklich nicht getan hat“, fügte Besson mit kleinlauter Stimme einfach so hinzu, als wäre es der logischste Satz auf dieser Welt.
„Bitte!?“ Am liebsten wäre ich ihm in diesem Augenblick an die Kehle gesprungen und tatsächlich schien er etwas vor mir zurück zuschrecken. Vor mir – einem fast siebzehnjährigen Jungen! Vor so einem Schwächling, vor so einem Dummkopf schreckte ein in den besten Jahren befindlicher und durchtrainierter Mann zurück!
Erschöpft lies ich mich in meinen Stuhl zurückfallen. Ich musste mich sammeln, um das alles zu verkraften. Es durfte einfach nicht wahr sein! Es war ein Alptraum, hoffentlich, einfach nur ein Alptraum. Da stütze ich mich mit meiner linken Hand auf den Tisch ab und der Schmerz jagte durch meine Glieder! Ich fuhr zurück und keuchte, fluchte. Es war kein Traum – meine Hand war der schreckliche Beweis.
„Pass auf“, meinte Besson schlicht. „Deine Hand kann nichts dafür – mach dir nicht deinen Traum vom Radfahren kaputt.“
„Wie kommen sie darauf, dass sie unschuldig sein könnte?“, fragte ich Besson nach einem kurzen Augenblick der Besinnung. Ich wusste, dass er mir wohlgesonnen war – ja vielleicht sogar auf eine Art Freundschaft hoffte. Möglicherweise nahm ihn dieser Fall ganz einfach auch nur zu sehr mit und er wollte deshalb so schnell wie möglich von hier weg. Mir die Weichen stellen und dann einfach verschwinden.
„Denkst du wirklich, ich werfe meinen Traumjob so einfach wegen einer sportlichen Erfahrung hin?“, er legte eine kurze aber bedeutungsvolle Pause ein, „Es ist wegen meiner Frau und meinem Kind. Ich gehöre zu ihnen und nicht zu Tanja Hagen, wenn dir der Name noch ein Begriff ist – ich werde ihn hoffentlich bald vergessen. Und es ist wegen meinen Freunden in meiner Heimat – hier habe ich keine. Wir haben beschlossen zurück nach Martigny zu gehen, weißt du, ich gehöre hier einfach nicht hin.“
„Warum erzählen sie mir das alles? Was hat das mit mir und meiner Mutter zu tun?“ Ich war verwirrt und perplex zugleich, wie schlecht es meinem Gegenüber eigentlich ging.
„Weil ich glaube, dass wir in Sachen Familie das gleiche Pech gepachtet haben. Und deshalb sage ich dir jetzt eines: Helfe deiner Mutter aus der Sache rauszukommen. Erstens, weil du bei einer Wiederaufnahme schlimmsten Falles auch noch mit rein kommst. Und Zweitens, weil mir irgendetwas sagt, dass sie unschuldig ist. Ich hab sie gestern gesehen und mit ihr gesprochen, als sie frei kam. Es ist offensichtlich, dass sie Hilfe von einem Fachmann benötigt. Aber nicht, weil sie krank ist und deswegen Menschen umbringt. Es ist kompliziert dir das zu erklären, deshalb solltest du selbst mit ihr reden, so schnell es geht und du verstehst vielleicht was ich meine.“
Ich musste schlucken. Was faselte Besson hier? Ich sollte mit meiner verrückten Mutter reden? Ich hatte Angst vor ihr, ja es ekelte mich sogar vor ihr – und da sollte ich einfach mal so nach Luzern hüpfen und mit ihr reden – mit meinem schlimmsten Alptraum? Sollte ich diesem Mann wirklich Vertrauen schenken?
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Andy92
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Beitrag: # 6788518Beitrag Andy92
4.9.2009 - 10:34

Und mit dem letzten Kapitel von Teil 2 verabschiede ich mich in eine weitere Woche Urlaub (Trainingslager Volleyball). Nach einer etwas langweiligen Phase während der Tour muss ich sagen, dass mir der AAR jetzt wieder richtig Spaß macht. Ich freue mich schon richtig darauf sein 1-jähriges Bestehen zu feiern und anschließend mit der Handlung so richtig loslegen zu können. Ich weiß zwar wie die Geschichte in naher Zukunft weiter gehen wird (so ein gutes halbes AAR-Jahr ist schon komplett durchgeplant), aber das Ende kenne ich genauso wenig wie ihr - ich weiß also nicht wo die Reise hingeht, ansonsten würde ich das schreiben wahrscheinlich langweilig finden, wenn ich alles schon vorrausgeplant hätte.
Also dann, freut euch auf ein paar interessante Wendungen in den nächsten Monaten! Ach ja, und gleichzeitig wollte ich mal wieder um Kommentare bitten. Mittlerweile kann ja niemand mehr sagen, dass ich mit Kommis überhäuft werde (jetzt schon seit über einer Seite kein einziger mehr). Ich wünsche mir halt einfach ein bisschen Feedback, ob es euch überhaupt noch gefällt. Mit kann die Geschichte nämlich nur gefallen, wenn sie auch anderen gefällt und ich die Leute damit ein bisschen unterhalten kann. Der RSM wird in nächster Zeit übrigens ein klein wenig kürzer treten müssen - die Lust daran hab ich nämlich verloren. So, jetzt aber die Klappe für das letzte Kapitel von Teil 2 - und bitte!

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12.Kapitel - Wiedersehen

Ich sah sie schon aus der Ferne, doch sie schien mich nicht zu bemerken. Auch nicht, als ich schon so nah war, dass ich sie beinahe hätte berühren können. Sie hockte auf dieser Parkbank. Sie saß einfach dort und starrte auf den geschotterten Fußweg, als ob sie die feinen Kieselsteine dort zählen wollte.
Noch schwieg ich. Ich wollte sie zunächst einfach nur beobachten. Sie mustern, ihr Verhalten studieren – doch da gab es nichts Großartiges zu lesen. Sie rührte sich nicht und man hätte beinahe den Eindruck haben können, sie wäre tot. Doch die sich hebende und senkende Brust, sowie der Lidaufschlag verrieten immer wieder, dass sie noch am Leben war.
Sie machte auf mich den Anschein, als ob sie um mindestens ein Jahrzehnt gealtert wäre. Ihr Anblick war so fremd und gleichermaßen doch so vertraut. Beinahe hätte ich doch tatsächlich einen Funken Wiedersehensfreude verspürt, doch ich versuchte krampfhaft sämtliche Emotionen außen vor zu lassen. Ich wusste schon jetzt, dass ich das wohl nicht lange durchhalten würde, doch für diese wenigen Sekunden, in denen ich sie einfach nur ansah, musste es soweit wie möglich funktionieren.
Ihr blondes Haar war um einiges gewachsen und wellte sich jetzt weit über ihre Schultern. Es war nicht so schön glatt wie früher, sondern zerzaust und verklebt. Ihr Gesicht war eingefallen und versprühte bei jedem ihrer Atemzüge Traurigkeit, Einsamkeit und einfaches schlichtes Alter. Ihre blauen Augen wirkten leer und verlassen, als ob sie mit der neugewonnen Freiheit nichts anzufangen wussten.
Blaue Augen, blondes Haar? Was hatte ich bloß von ihr geerbt? Nicht einmal die Charakterzüge, oder? Nein, es war nichts – mit dieser Frau hatte ich rein gar nichts gemeinsam, ich wollte auch auf keinen Fall etwas mit ihr zu tun haben.
„Du denkst jetzt mit Sicherheit, dass ich gar nicht deine Mutter bin – hab ich Recht? Kein Sohn wünscht sich so eine Mutter“, flüsterte sie plötzlich mit kratzender, heißerer Stimme und richtete ihren Kopf auf. Ihre wässrigen Augen blickten mich direkt an. Ich versuchte weg zu schauen, doch es wollte mir nicht gelingen. Ich verspürte Mitleid.
„Doch du hast etwas von mir geerbt, Andreas. Die Selbstständigkeit, die Gutmütigkeit und schau genau hin, mein Gesicht, du hast genau mein Gesicht...schau ganz genau hin.“
Ich antwortete nicht, hielt ihrem Blick jedoch stand. Warum nur erzählte sie mir das? Das wusste ich doch schon so lange.
„Hallo Mama.“ Ich würgte die Worte mehr heraus, als dass ich sie sprach und spürte einen dicken Klos im Hals – schon stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich hatte mir ein paar Worte, eine Frage, zurechtgelegt, die ich ihr unbedingt stellen musste. Auch wenn ich sie, weiß Gott warum, lieber heulend und schluchzend in die Arme geschlossen hätte, so musste ich sie eben doch genau das fragen: „Kannst du mir jetzt vielleicht über alles die Wahrheit sagen?“
Sie reagierte nicht. Hatte ich etwas anderes erwartet? Sie würde mir die Wahrheit wohl nie erzählen. Nach einem kurzen Augenblick, wendete sie ihren Blick wieder zu Boden, betrachtete die unzähligen Kieselsteine und huschte mit den Augen darüber, als suche sie die Stelle, wo sie vorhin aufgehört hatte zu zählen.
„Bitte“, fügte ich hinzu.
„Natürlich werde ich es dir jetzt sagen, sonst würdest du mir ja wohl kaum verzeihen können, was ich dir in den letzten Monaten alles angetan habe. Du brauchst mich nicht zu bitten, Andreas...Ich suche nur nach den richtigen Worten, setz dich.“
Es vergingen einige Sekunden bis ich es schaffte meine Beine zu bewegen und hockte mich neben sie auf die Parkbank. Sie starrte immer noch auf den Boden.
„Es ist ziemlich schwer, wo ich anfangen soll, weißt du. Ich hoffe es ist dir auch nicht zu viel und einiges wird dich vielleicht auch schockieren. Aber, ja...ich werde mit einer unwichtigen Frage beginnen. Warum denkst du habe ich dir gesagt, dass ich ihn umgebracht habe?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich hoffe du glaubst nicht, dass ich das wirklich getan habe. Also, hör zu: Bevor ich deinen Vater kennen gelernt hatte, war ich mit Georg von Klavsen schon einmal zusammen. Oder besser gesagt, das einzige Mal, war ich mit ihm zusammen – für eine dumme Nacht. Er war wie vom Erdboden verschluckt, hatte mir aber etwas dagelassen, was mich als junge Frau meilenweit zurückwarf, was meine berufliche Karriere anbelangt – ein Kind. Ich musste es zur Adoption freigeben und habe nie wieder etwas von ihm gehört.“
Sie musste schlucken. Aus der kurzen wurde eine längere Pause, doch nach und nach schien sie klarer denken zu können. Sie hielt ihre Tränen zurück, und irgendwann schienen sie gar nicht mehr kommen zu wollen.
„Dann hab ich Paul kennen gelernt – die Liebe meines Lebens, daran besteht kein Zweifel.“
„Und warum hast du dann diesen Winter Georg aufgesucht?“, warf ich ein, doch sie drückte mir sofort ihre schweißnasse Hand auf den Mund.
„Lass es mich einfach erzählen und stell bitte keine Fragen....17 Jahre lang waren wir verheiratet und hatten ein Kind, dich – dann kam der 1.September 2007.“ Sie atmete schwerer, schluchzte. „Paul ist vor meinen Augen gestorben, der Junge genauso – er, er war es Andreas.“
Urplötzlich begannen die Tränen sich ihren Weg zu bahnen. Unaufhörlich liefen sie in Sturzbächen über ihre Wangen und obwohl ich gar nicht verstand, was sie mit ihrem letzten Satz gemeint hatte, umarmte ich sie unwillkürlich. Jetzt wusste ich was Besson gemeint hatte – meine Mutter schauspielerte nicht. So gut konnte niemand schauspielern. Sie war völlig am Ende, total am Ende!
„Er hat Paul umgebracht?“
„Nein...Er war mein erstes Kind“, entgegnete sie. Mich durchfuhr es wie ein Blitz!
„Und wie hast du das rausgekriegt?!“, fuhr ich sie an.
„Ich hatte in diesem halben Jahr Zeit Georg zu finden und so hatte ich auch genug Zeit Robert zu finden, Robert Vogel. Zuerst habe ich den Jungen im Gefängnis ausgequetscht, der ihm den Rucksack zugeworfen hat, mit der Bombe – wie er heißt habe ich leider vergessen. Er hatte schon längst alles gestanden und wartete nur noch auf sein Urteil, so sagte er auch mir, dass sein früher Freund Robert sterben musste, weil er sich in ihren Terroristenklan für ein freies Südtirol eingeschlichen habe, obwohl er kein gebürtiger Südtiroler war. Dafür musste mein armer Junge büßen und starb direkt neben mir, obwohl er von allem gar nichts wusste! Es ist so schrecklich! Er wusste nicht einmal, dass er adoptiert war! Später bin ich noch zu seinen Eltern nach Meran gefahren und als sie endlich kapiert hatten, wer ich war, da versicherten sie mir, dass Robert nie erfahren hatte, dass er adoptiert wurde! Das ist doch unfassbar! Dem Jungen hatten sie immer vorgegaukelt, dass er ein waschechter Südtiroler war und deswegen musste er sterben – und er wusste nicht einmal warum!“
Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Schluchzend und heulend fiel sie mir wieder in die Arme und vergrub Minuten lang ihr Gesicht und weinte sich an meiner Schulter aus. Sie bebte und zitterte wie Espenlaub, wollte sich nicht mehr beruhigen, während ich darüber nachdachte, was sie eben gesagt hatte. Irgendwie schien es mir zu weit hergeholt. Ein Kind, dass sie von Georg hatte, dass sie zur Adoption freigab, weil sie noch zu jung war, Ok, das konnte ich noch nachvollziehen. Aber, dass sich dieses Kind, dann wohl etwa 20 Jahre später direkt neben ihr auf einer Passhöhe befand und auch noch neben ihr starb – zu diesem Zeitpunkt wusste zwar noch keiner von beiden, wer der andere war, aber trotzdem war dieser Zufall etwas zu groß, wie ich fand.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht, dann fuhr sie fort: „Als ich die Wahrheit wusste war ich so fertig, so unglaublich fertig! Ich hatte wirklich Angst depressiv zu werden.“
Da kam mir ein äußerst wichtiger Gedanke: „Mama, wann hast du das denn alles gemacht? Du warst doch nie fort die ganze Zeit über.“
„Na, als ich in ganz Deutschland nach Arbeit, oder besser gesagt nach einer Konditorei gesucht habe, die zu mir passt – dabei hatte ich schon von Anfang an das Gebäude bei uns zuhause gekauft. Es war vorsätzlich, entschuldige bitte, aber damals wollte ich dir das alles noch nicht erzählen. Ich dachte, es würde so alles gut werden, wenn ich Georg zurück ins Boot holen würde. Einige Zeit dachte ich sogar darüber nach, dich ihm als sein Kind unterzuschieben, damit er mich heiratet, oder so, doch bis drei konnte der alte Sack wohl doch noch zählen. Robert war 20, als er starb. Und Georg wollte mir überhaupt nichts glauben. Zwar konnte ich ihn wieder um den Finger wickeln, da ihm seine Frau, dieses ehemalige Topmodel, wohl mittlerweile zu langweilig geworden war und ich war nun mal immer noch ein bisschen jünger als sie.“
Unwillkürlich musste ich an Isabel von Klavsen denken. Ja, sie war tatsächlich älter als meine Mutter. Auf mich wirkte sie eher wie eine alte verschrobene Hexe und ich konnte mir niemals vorstellen, dass sie einmal ein Model gewesen sein soll, doch für Männer in ihrem Alter wirkte sie vielleicht wirklich attraktiv. Ihr erster Mann, Richard Gruber, war schon lange Tod, er war auch viel älter als sie gewesen und hatte wohl nicht wirklich zu ihr gepasst – damals war es ihr wohl ums Geld gegangen. Doch auch ihr sollte das gleiche Schicksal wiederfahren, als sie von Georg von Klavsen geheiratet wurde. Sie, die schwerreiche Witwe.
Und plötzlich schwirrte mir ein Bild von seiner Ex-Frau Viktoria durch den Kopf – Svens und Christines leibliche Mutter! Ich schüttelte in Gedanken den Kopf vor Überraschung, Entsetzen oder gar Ekel? Ich konnte nicht genau sagen, welches Gefühl es war, doch ich merkte auf einmal, wie sehr sich Viktoria und meine Mutter ähnelten. Hatte sich Georg etwa nach seiner Ex-Frau zurück gesehnt und in meiner Mutter vor wenigen Monaten zum zweiten Mal einen adäquaten Ersatz gefunden? Ich musste ihr sofort davon erzählen.
„Natürlich weiß und wusste ich, wie Viktoria aussah. Ich hab sie an diesen einem Abend doch auf einem Bild in ihrem Haus gesehen – es hat mich auch etwas erschreckt. Die beiden waren damals ein ganz junges Paar, drei beziehungsweise vier Jahre später bekamen sie dann auch Nachwuchs, und sofort haute Georg ab – er schien Kinder nie wirklich gemocht zu haben. Und seine Frau hat wahrscheinlich auch nie erfahren, dass er noch ein drittes Kind hatte, die arme. Heute schäme ich mich für all das von damals wirklich sehr.“
Überraschenderweise hatten wir uns mittlerweile beide gefangen. Es gab keine Tränen mehr, keine überschäumenden, keine überkochenden Emotionen. Das Gespräch lief sachlich und dennoch respektvoll ab – so wie ich es mir vorher eigentlich erhofft hatte. Ich fing an, mich in ihrer Nähe wieder wohl zu fühlen und erinnerte mich an die schönen alten Zeiten, als unsere Familie noch harmonisch und komplett war – doch seit gut einem Jahr, war sie nichts mehr weiter als ein riesengroßer Trümmerhaufen. Bislang hatte ich das so weit wie möglich versucht zu verdrängen, doch jetzt wurde mir klar, dass ich mich um meine Mutter kümmern musste. Weil sie das letzte ganze Stück war, dass ich aus diesem Trümmerhaufen ziehen konnte. Nur zusammen hatten wir eine Chance wieder ein normales Leben zu führen. Doch noch hatte sie den Grundstein dafür nicht gelegt, noch hatte sie mir nicht alles erzählt.
„Mama, was ist jetzt mit dir und Georg an diesem Nachmittag passiert?“
Völlig frei und ohne groß darüber nachzudenken konnte sie es mir jetzt erzählen und ich wusste sofort, dass sie mir die Wahrheit sagte: „Ich wollte ihm alles über Robert, Paul und mein Leben erzählen, doch er wollte es nicht glauben. Er wollte gar nichts glauben. So weit stimmt auch noch meine Beichte an jenem Abend, doch der Teil, dass ich ihn umgebracht habe, der...wenn ich ehrlich bin, dann kann ich dir nicht wirklich sagen, warum ich dir das eigentlich so erzählt habe. Wahrscheinlich war ich so durcheinander, so fertig mit der Welt, dass ich mir einfach eingeredet habe, dass alles meine Schuld war und indirekt habe ich ihn ja auch umgebracht...Ich habe ihm also von Robert erzählt und von meinen wagen Zukunftsplänen. Er regte sich auf, furchtbar auf und beschimpfte mich. Schon zu dem Zeitpunkt war ich total am Boden zerstört. Ich dachte wohl wirklich, dass ich das Unglück gepachtet hatte und deshalb alle Menschen, die ich liebte, oder auch nur die, die ich brauchte, um mich herum starben. Es schien alles kaputt zu gehen. Und jetzt wollte mich auch noch Georg nicht bei sich aufnehmen, oder mir zu mindest helfen, uns helfen! Er fing schon an mich zu schlagen, da hielt er plötzlich inne. Er hat gekocht vor Wut und Zorn und das war auch sein Ende. Es war ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall vielleicht auch noch dazu, auf jeden Fall stimmte mit ihm plötzlich etwas nicht. Er fing an sich an die Brust zu greifen, keuchte und schnappte nach Luft – dann stolperte er rückwärts. Ich hätte ihn noch abfangen können, wenn ich rechtzeitig reagiert hätte, doch ich war plötzlich wie versteinert, ja fast froh, dass er endlich aufhörte mich zu schlagen und dachte in den ersten Sekunden nur, dass er gerade irgendeinen Trick vollführte, um mich anschließend komplett bloßzustellen. Dann kam mir der Abgrund hinter ihm wieder in den Sinn, doch es war schon zu spät – er taumelte und schlug mit dem Hinterkopf auf einen Stein – wahrscheinlich war er da schon tot, obwohl er stöhnte noch, ja, er lebte vielleicht noch, aber dann rollte er hin und her und immer näher an die Felskante. Und dann war er plötzlich weg – ich hörte ihn nicht mehr schreien, nur noch einen dumpfen Aufschlag. Hinuntergeschaut habe ich nicht mehr, einfach gerannt, einfach nur gerannt bin ich! Ich wollte dich zu mir holen, bevor ich dich, das letzte, was mir noch geblieben war, auch noch verloren ging.“
„Und deshalb wolltest du mich auch nicht in das Internat von Alexander Gruber lassen“, fügte ich noch hinzu. Sie nickte. „Aber warum hat die Polizei denn nicht die tatsächliche Todesursache festgestellt?“
„Das ist eine gute Frage. Der Laie von Anwalt, der mir zugeteilt wurde, meinte, dass sie die Leiche gar nicht richtig untersucht hätten – es wäre ja offensichtlich gewesen, dass er durch den Sturz ums Leben kam. Tja, und als er dann schon kurz darauf beerdigt wurde, war es schon zu spät noch weitere Nachforschungen anzustellen. Doch zum Glück gibt es tatsächlich einen Beweis für meine Theorie, für meine Geschichte, oder besser gesagt, für die Wahrheit“, sie musste lächeln. Ja, sie war froh, dass dieser Alptraum endlich vorbei war!
„Und der wäre?“ Ich lächelte zufrieden und glücklich zurück. Ich hatte meine Mutter wieder und so einen Menschen, dem ich wirklich vertraute und der mir vertraute – ich war nicht mehr allein.
„Im Obduktionsbericht steht, dass Georg neben den ganzen Schädelfrakturen an der Stirn auch eine am Hinterkopf hatte. Dazu hat der Bauer dieser Berghütte unterhalb der Klippe, der ihn gefunden hatte, ausgesagt, dass er Georgs Leiche auf Gesicht und Bauch liegend vorgefunden hatte, tief in den weichen Waldboden eingedrückt. Er hatte ihn dann umgedreht, da er nach eigener Ansicht schon Übung im Bergen verunglückter Bergsteiger habe, da das an dieser Klippe anscheinend öfter vorkam,“ sie verdrehte die Augen, „und anschließend die Polizei verständigt. Die wiederum fanden Georg also auf dem Rücken liegend. Glaub mir, der Bauer ist nett, aber auch irgendwie ziemlich verbohrt und so hat es eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er endlich die Wahrheit sagte. Ursprünglich hat er nämlich behauptet, dass er die Leiche nicht angerührt hatte, was ihm die Polizisten aber nicht glauben wollten, obwohl es mich ja entlastet hätte und meine Geschichte bestärkt. Denk immer dran, Andreas, sowohl für die eine als auch für die andere Seite wird es in diesem Fall nie Beweise geben, nur diesen einen Anhaltspunkt für die Richtigkeit meiner These, dass Georg einen Herzinfarkt hatte, auf den Hinterkopf stürzte, vielleicht schon tot war und dann erst hinunterfiel ohne meine körperliche Einwirkung. Ob du mir glaubst liegt ganz bei dir, aber ich versichere dir, dass ich dir heute die ganze Wahrheit erzählt habe. Wirklich, alles, die ganze Wahrheit!“
„Mama, das ist doch keine Frage. Natürlich glaube ich dir. Was wäre ich denn ohne dich? Ich wollte dir nur noch etwas sagen: Es tut mir Leid, dass ich dich drei Monate lang verachtet habe, ich habe dir ja nie wirklich eine Chance gegeben über alles hinwegzukommen.“
Sie nickte nur, schien gute zehn Jahre jünger zu sein als noch vor einer viertel Stunde, als ich ihr zum ersten Mal seit Monaten wieder begegnet war, lächelte und starrte noch einmal kurz zu Boden, zählte wohl die letzten Kieselsteine zu ihren Füßen, dann umarmten wir uns noch einmal flüchtig, aber herzlich, dann standen wir auf und gingen einfach, stumm, nebeneinander her.

Und so hatte ich einen Menschen wieder gewonnen, dem ich blind vertraute, der mir alles anvertrauen konnte, auf den ich angewiesen war, der mich brauchte wie nichts anderes auf der Welt, den ich liebte, der mich liebte und mir zeigte, dass ich nicht allein dieses Leben leben musste, genauso wie ich ihm zeigte, dass die Katastrophe doch noch einer überlebt hatte, der jetzt alle Aufmerksamkeit benötigte, um zwischen all den Fremden nicht zu versinken.
Ich hatte meine Mutter wieder...
Ich hatte wieder eine Familie...
Zuletzt geändert von Andy92 am 30.9.2009 - 19:35, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag: # 6788526Beitrag panicmaster
4.9.2009 - 11:56

Musste erstmal tief Schlucken wo ich geshen habe wie viel du geschrieben hattest, und beim lesen war dann auch das Schaubild mit den verschiedenen Personen sehr sehr hilfreich (ohne wäre ich wohl nicht mehr durchgestiegen). Sonst das Geschriebene wieder , wie immer, sehr fesselnd und spannend und freu mich shcon auf mehr :D

Viel Spaß im Urlaub :D

commandercharly
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Beitrag: # 6788528Beitrag commandercharly
4.9.2009 - 12:16

Wie immer Klasse Bericht. Erhol dich gut im Urlaub. Freue mich schon drauf wenn es weiter geht. Werde auf jedenfall bei der Stange bleben. :D

Andy92
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Beitrag: # 6791702Beitrag Andy92
30.9.2009 - 19:34

Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich einfach so kommentarlos nichts mehr gepostet habe. Aber zurzeit komme ich einfach nicht mehr zum Schreiben. Wie ihr evtl. ahnt oder sogar wisst, bin ich ein Angehöriger des ersten G8 Jahrgangs in Bayern und befinde mich daher jetzt in der Q11 Phase, was der ehemaligen KS12 entspricht. Das bedeutet 36 Stunden in der Woche. :roll: (Ich habe die mindest Stundenanzahl, was bedeutet, dass andere noch viel mehr Stunden haben.) Deshalb wird hier in nächster Zeit wohl erstmal eher weniger kommen, bis ich mich an den neuen Rhythmus gewöhnt habe und vor allem, bis ich wieder Motivation geschöpft habe. Zwar habe ich das Konzept für Teil 3 schon vor gut drei oder vier Wochen (so genau weiß ich das nicht mehr) komplett ausgearbeitet, dennoch fehlen mir die Ideen, um einen Anfang zu finden und natürlich auch, um dann weiter zu schreiben. Ich hoffe, meine Leser bleiben mir dennoch treu. Sehts einfach so, als ob eine Staffel einer Fernsehserie zu Ende gegangen wäre und sich die nächste noch in der Produktion befindet.
Ach ja, hätt ich fast vergessen: Zurzeit verspüre ich eindeutig mehr Spaß und Interesse Radsport und Sport an sich selbst auszuüben, als darüber zu schreiben.
Also, auf eine baldige Fortsetzung!
Zuletzt geändert von Andy92 am 1.10.2009 - 21:32, insgesamt 1-mal geändert.
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commandercharly
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Beitrag: # 6791715Beitrag commandercharly
30.9.2009 - 21:24

Kein Streß. Wir werden geduldig warten, zumindestens ich für meinen Teil.

Andy92
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Beitrag: # 6792319Beitrag Andy92
9.10.2009 - 12:31

So, hab jetzt einfach mal angefangen und muss sagen, dass ich mit dem, was dabei rausgekommen ist, auch ganz zufrieden bin.

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3.Teil - Eine Reise mit dem Rad

1.Kapitel - Anfang und Ende

Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. In diesem Fall sogar außerordentliche, wenn nicht sogar übermütige, vielleicht aber auch einfach nur bescheuerte. Wir beschlossen nämlich, hier in der Schweiz ein neues Leben aufzubauen. Der Grundstein war durch meine Anwesenheit gelegt, jetzt musste meine Mutter nur noch nachziehen. So kehrte sie nach Deutschland zurück, um ihre Konditorei aufzulösen. Obwohl sie die Befürchtung hatte, dass sie sich hier von der Vergangenheit ständig heimgesucht fühlen könnte, hatte sie den Entschluss gefasst, mich in meinen Zukunftsplänen zu unterstützen.
Als ich ihr aufzählte, welche Erfolge und welche Aussichten ich in der Zeit errungen und geschaffen hatte, in der sie sich in Untersuchungshaft befunden hatte, schien sich in ihrem Kopf ein Schalter umzulegen. Sie war stolz auf mich und begriff, dass aus sportlicher Sicht genau hier der richtige Ort für mich war, um mein volles Potential zu entfalten. Außerdem wurde uns kurz darauf noch etwas anderes klar: Natürlich hatten die Leute bei uns zuhause, von den Ereignissen Wind bekommen. Die Angestellten hatten schon längst gekündigt, was vielleicht noch das geringste Problem darstellte, doch die Rufschädigung wiederherzustellen sollte ein schwieriges und langfristiges, wenn nicht sogar ein unmögliches Unterfangen werden. Hier in der Schweiz hätte sie es da schon sehr viel einfacher. Hier wusste keiner wer sie war, wo sie herkam, und was sie im letzten Jahr so alles getan hatte – lieber bei Null starten, als bei Minus Hundert!
An diesem Wochenende vergaß ich alles um mich herum. Ins Internat kam ich nur noch um zu schlafen, den Rest der Tage verbrachte ich mit meiner Mutter in Luzern. Wir erkundeten die Stadt, die Landschaft, die ganze Umgebung und schmiedeten Zukunftspläne. Die gingen sogar schon so weit, dass wir nach einer Wohnung für sie suchten. Doch da die Auflösung der Konditorei und der Verkauf des Hauses in der Heimat wohl noch eine ganze Weile dauern würden, konnten wir uns leider auf keine festlegen. Alles verharrte als eine womöglich bald eintreffende Wunschvorstellung. So richtig konnte ich es noch gar nicht glauben. Hatte ich mich wirklich wieder mit meiner Mutter versöhnt? Mit der Frau, die ich noch vor gut 48 Stunden in die Hölle geschickt und sämtliche Todesqualen an den Hals gewünscht hätte? Würde sie wirklich bald direkt neben mir, ja fast mit mir wohnen, nicht durch dicke Mauern und Stacheldraht getrennt? War das nicht alles nur ein schöner Traum? Die Sehnsucht nach einer einigermaßen intakten und fürsorglichen Familie?
Nein. Diesmal verspürte ich nicht den geringsten Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. Zwar stellte ich mir ab und zu die Frage, doch als wäre es Gedankenübertragung, schien sie meine Unsicherheit in diesen Augenblicken genau zu spüren und machte mir durch ihre Worte, ihre Gesten oder durch ihre Taten deutlich, dass sie es ernst meinte, keine Spielchen mehr trieb und heil froh war, wieder auf freiem Fuß zu sein. Sie war glücklich, dass sie nicht mehr allein war, dass sie mich wieder hatte. Und mir erging es genauso.

Wir hatten vieles gemeinsam. So auch die Trauer um Papa. Wahrscheinlich war sie noch weniger über das Geschehene hinweggekommen, als ich, aber vielleicht redete ich mir das auch nur ein. Bisher hatte ich, von den ersten Wochen und Monaten abgesehen, immer Wut, Zorn und Verachtung in mir verspürt, einen brodelnden Hexenkessel kurz vorm Überschwappen, wenn ich an den Tod meines Vaters gedacht hatte. Jetzt konnte ich das Gefühl jedoch nicht mehr zweifelsfrei beschreiben. Es war wohl hauptsächlich Trauer, doch ein Rest an Zweifeln und Fragen blieb nach wie vor, auch wenn ich keine einzige formulieren konnte. Sie hatte es nicht nur dabei gelassen mir definitiv zu sagen, dass er damals am 1.September gestorben war. Sie hatte mir auch erzählt, was alles nach dem „Unfall“ geschehen war, zumindest das, was sie nach dem Erwachen aus der Ohnmächtigkeit noch mitbekommen hatte. Überraschend schnell trat ich darin auf und entsann mich wieder jenem schrecklichen Tag, als ich zu ihr ins Zimmer gerufen wurde. Von einem Arzt hatte sie erfahren, dass er nach Bormio verlegt wurde – das hatte sie auch damals gesagt. Und was folgte war die Nachricht von seinem Tod. Wie ich hatte also auch sie ihn zuletzt lebend auf der Passhöhe des Stilfser Jochs gesehen. Doch vielleicht gab es doch noch einen Unterschied zwischen mir und ihr, denn ich hatte meinen Vater danach auch tot nie zu Gesicht bekommen. Ich hatte mich auf der Beerdigung von einem geschlossenem Sarg verabschiedet. Ob da jetzt mein Vater drin war oder, so schrecklich es sich vielleicht anhört, der Müll von letzter Woche, konnte ich nicht sagen. Und meine Mutter? So seltsam es klingt, doch sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Falls es eine Identifikation gegeben haben sollte, was aber doch relativ unwahrscheinlich war, dann hatte sie die schrecklichen Bilder wohl gelöscht, was vielleicht erklären könnte, warum sie es später nicht mehr gewagt hatte, den Sarg noch einmal öffnen zu lassen.
Und so blieb, was den Tod meines Vaters anging, doch fast alles beim alten. Meine Mutter hatte jetzt zweifelsfrei überhaupt nichts damit zu tun, doch auch sie schien so langsam zu begreifen, dass es in diesem Fall ein Mysterium gab, das es aufzudecken galt. So spielte in meine Gefühlslage also auch noch ein letztes mit ein: Ich konnte nichts machen, es war eine Mischung aus Unfähigkeit und Unwissenheit. Ein bisschen Wut war auch schon wieder dabei und trotzdem überwog die glückliche Stimmung an diesen sonnigen Julitagen, als ich die neu gewonnene Zeit mit meiner Mutter genoss...
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Andy92
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Beitrag: # 6792800Beitrag Andy92
15.10.2009 - 21:55

Apropos Juli: Als ich am Sonntagabend, den wir zusammen in den Bergen fernab von irgendwelchen bekannten Wegen, die mit Svens Vater etwas zu tun haben könnten, wieder im Internat ankam, runter in den Keller ging, um einfach mal wieder meine beiden Rennräder, das von Jörg und das vom Internat anzuschauen und in Erinnerungen zu schwelgen, wie ich mit den beiden noch vor wenigen Wochen gefahren war (das vom Internat war mittlerweile eine neues, da das alte vom Sturz einen Totalschaden davon getragen hatte) und das jetzt für einige wohl nicht mehr tun konnte, stellte ich fest, dass an diesem Tag die 95.Tour de France zu Ende gegangen war. Ich hatte die vorletzte Etappe, das Zeitfahren und das Showlaufen auf den Champs-Elysées verpasst und mir war es überraschend gleichgültig – und das obwohl Andreas Klöden die Tour wohl ziemlich sicher nach hause gefahren hatte. Trotzdem blieb ich im Keller und ging rüber zu den Computerräumen. Mir fiel auf, dass ich bisher – gut die Treppe hinunter zu den Rädern und somit auch zu allen anderen Kellerräumen, befand sich direkt neben dem Eingang – noch niemandem begegnet war. Auch hier fand ich nur gähnende Leere vor. Selbst im Fernsehzimmer war nichts los. Es war kurz nach acht, also gab es gerade noch zehn Minuten Abendessen und danach vielleicht noch eine Besprechung mit Alexander, aber das erschien mir im Moment noch unwichtiger, als das Ergebnis der diesjährigen Tour. Wahrscheinlich waren alle oben im Speisesaal und blickten auf den See hinunter. Irgendwo dort draußen befand sich meine Mutter auf dem Heimweg. Hoffentlich würde dort alles glatt gehen, damit sie so schnell wie möglich hier anfangen konnte...

Die Flachetappe vom Freitag mit Ziel in Montlucon hatte Tom Boonen im Massensprint gewonnen und durch einen dritten Platz war das Grüne Trikot seinem Träger, Thor Hushovd, rechnerisch nicht mehr zu nehmen. Die Granate, die ganz große Überraschung folgte jedoch bei den Berichten über den Samstag. Mittlerweile wusste ich zwar, dass Klöden seinen Vorsprung verteidigt, – das sprang einem auf den Internetseiten, die ich besuchte, sofort ins Auge – jedoch nicht, dass er ihn sogar noch um etliche Minuten ausgebaut hatte! Für die 53 Kilometer hatte er 1 Stunde 9 Minuten und 40 Sekunden benötigt, was nicht außerordentlich schnell war. Doch die Konkurrenz hatte er damit locker in Grund und Boden gefahren! Michael Rogers, David Zabriskie und Stijn Devolder lagen zwar eng beieinander, jedoch in weiter Ferne zu dem Deutschen. Alle drei hatten mehr als 2 Minuten länger gebraucht und lagen jeweils auf Rang 2,3 und 4! Der zum ersten Mal in seiner Karriere auf dem Podium platzierte und zweite Carlos Sastre verlor sogar weit über vier Minuten und so gewann Andreas Klöden als zweiter Deutscher die Tour de France mit 7 Minuten und 53 Sekunden vor einem Spanier und 8 Minuten und 46 Sekunden vor einem Belgier, der den jüngeren Belgier und Sieger in der Nachwuchswertung, Maxime Monfort (+9’07“), noch vom Podium verdrängte, nämlich Stijn Devolder! Neben einem Deutschen, einem Spanier und zwei Belgiern (!) unter den Top 5 vervollständigte diese noch ein Amerikaner, dessen Comeback eigentlich gründlich in die Hose gegangen war: Lance Armstrong „knapp“ geschlagen mit 9 Minuten und 30 Sekunden Rückstand. Pellizotti, Popovych, Pereiro, Gomez Marchante und Valjavec komplettierten die Top 10 einer so nicht erwarteten Tour de France.
Doch ganz besonders freute ich mich über den 13. Platz von Jörg. Ein riesiges, tolles Ergebnis! Zwar verlor er 15 Minuten und 38 Sekunden auf seinen Landsmann, doch immerhin konnte er sagen, dass er zweitbester Deutscher bei der Tour de France 2008 war!
Neben der Gesamtwertung konnte Klöden auch die Bergwertung für sich entscheiden, die Schlussetappe ging an Alessandro Petacchi und die Teamwertung an Columbia, während Hushovd sein zweites Grünes Trikot sicher nach Hause fahren konnte. Somit waren alle Entscheidungen der Tour gefallen, deren Schlussphase ich verpennt hatte und mich nicht einmal darüber ärgerte...

„Und? Wo hast du dich dieses Wochenende rumgetrieben?“ Beinahe hätte ich gelacht, doch dann begriff ich, dass sie es wirklich ernst meinte. Melinda legte so viel Wut in ihre Stimme wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Ihr Gesicht wirkte angespannt, sie blickte mich verärgert, ja fast beängstigend an und wartete ungeduldig auf eine Antwort.
Doch dazu war ich viel zu überrumpelt. Ich starrte sie ungläubig und mit einer mehr als überraschten Miene einige Augenblicke lang an. Überraschend war es schon gewesen, dass ich ihr auf der Treppe ins Erdgeschoss begegnet war. Hatte sie mich gesucht?
Ich hielt meinen lahmen, perplexen Gesichtsausdruck weiterhin bei und hatte dabei meinen Mund leicht geöffnet. Sie war ungeduldig und verschränkte die Arme. Mir war es immer noch unmöglich mein Gesicht zu bewegen, nur meine Augen fuhren über ihr Antlitz hinweg und ich war um ein weiteres Mal baff, wie hübsch sie doch war. Aber irgendetwas war anders als sonst. Wobei sonst gefühlte zwei Monate in der Vergangenheit zu liegen schien – in den letzten Tagen war einfach viel zu viel passiert.
Mein Blick konnte sich von ihren Augen, ihren Wangen, ihren Lippen lösen und glitt an ihr herunter. Sie stand ungefähr zwei Meter von mir entfernt, sodass ich sie in ihrer ganzen Pracht problemlos begutachten konnte.
„Was-? Wie-?“, ich deutete noch verdutzter als vorher auf ihr umwerfendes, elegantes, aufreizendes blaues Abendkleid. „Hab ich was verpasst?“
„Wo warst du dieses Wochenende?“, hakte sie noch eindringlicher als zuvor nach. Ihre Augen weiteten sich und verloren dabei keineswegs ihre hypnotische Wirkung, nein, es wurde sogar noch schlimmer!
Immerhin war ich jetzt im Stande meinen Blick kurz von ihr abzuwenden und fasste ganz plötzlich, in diesem Bruchteil einer Sekunde, als ob er schon die ganze Zeit darauf gewartete hätte mein Bewusstsein zu durchdringen, einen klaren, genialen Gedanken.
„Hast du mich vermisst?“, grinste ich ihr frech entgegen. Sie schmunzelte und sofort war ich der Überzeugung, dass sie damit unmöglich gerechnet haben könnte.
„Das war ja klar, dass du das sagst.“ Sie schaffte es einfach immer, wieder mich wie einen Idioten dastehen zu lassen! Wahrscheinlich konnte sie meine Gedanken lesen.
„Nein, jetzt mal ehrlich. Wo warst du?“, fügte sie ein weiteres Mal hinzu.
Gut, sie schien es wirklich zu interessieren. Ich öffnete meinen Mund, um ihr einen kurzen stichhaltigen Satz zu übermitteln, der ihr den wesentlichen Inhalt der vergangenen zwei Tage zu verdeutlichen versuchte, wenn mir nicht in diesem Augenblick eingefallen wäre, dass sie überhaupt nicht wusste, dass mein Vater tot und meine Mutter bis vor kurzem noch hinter Gittern gewesen war. Das verkomplizierte die Angelegenheit dann doch etwas. Also beschloss ich, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt dafür gekommen war, ihr alles über mich und vor allem über meine Familie, zu erzählen.
„Okay. Setzt dich, das kann länger dauern“, begann ich und wies auf die Metallstufen der Treppe. Ohne zu zögern ging sie einige Stufen hinauf und setzte sich hin. Als ich mich neben sie hockte, fiel mir aber noch etwas ein: „Aber vorher erzählst du, was hier heute Abend los war.“
Sie lächelte und warf ihren Kopf zurück. „Na gut. Auch wenn du es eigentlich wissen müsstest, aber...ich kann dir gleich sagen, du hast nichts verpasst. Am Freitagabend, als du nicht zum Abendessen gekommen bist, hat uns Alexander zum alljährlich stattfindenden Sommerball eingeladen.“
„Und der war heute Abend?“, entgegnete ich mit einem Grinsen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Uhr und musste erschrocken feststellen, dass es bereits halb zwölf war – hatte ich so lange am PC gesessen? Vielleicht war ich zwischen durch auch mal eingeschlafen, so genau konnte ich das nicht mehr sagen.
Melinda bemerkte meinen ungläubigen Blick auf meine Digitaluhr. „Ja. Um elf war’s rum. Vorhin hab ich aber hier unten Licht brennen sehen und mir klar, dass das wahrscheinlich du bist.“ Sie legte eine kurze Pause ein. „Die ganze Veranstaltung ging eigentlich nur darum, zu bekloppter Musik zu tanzen, sich an einem Buffet und einer Art Bar zu bedienen, sich einen einstündigen Vortrag von Alexander über unser Internat anzuhören und anschließend pausenlos mit irgendwelchen aktuellen, aber hauptsächlich potentiellen Sponsoren zu unterhalten und allen zu erzählen wie toll wir doch sind.“
„Also, hab ich wirklich nichts verpasst.“
„Nein.“
„Gut.“
„Es war nichts besonderes, eher qualvoll...Am Ende waren kaum noch welche von den Firmen Futzis da, aber selbst dann war noch nicht mal einer von uns betrunken, aber das war auch so gut wie unmöglich, das zu schaffen. Das sollte doch immerhin ne Party sein, oder?“ Melinda deutete mit ihren Händen beeindruckend graziös auf ihr Kleid, das hier im leicht fahlen Licht noch viel gewaltiger zu sein schien, als unten im Gang, und, was mir zuvor noch gar nicht aufgefallen war, ein äußerst gewagtes Dekollete aufwies.
„So gesehen, wäre ich doch ganz gern dabei gewesen“, flüsterte ich kaum merklich und träumte vor mich hin.
„Was?“
Ich zuckte zusammen. „Nichts, nichts.“
„Hm.“
Es entstand eine kurze Pause.
„Die Veranstaltung war also nichts“, wiederholte ich noch einmal.
„Wenn ich es dir doch sage. Mal abgesehen davon, dass sie verpflichtend für uns alle war...“
„Was!?“, stieß ich hervor. Sie lächelte triumphierend.
„Tja, das war sie. Und ich glaub, Alexander war auch ziemlich angefressen. Aber du hast bestimmt einen triftigen Grund für dein Fehlen, oder?“
Beunruhigt, ob das alles auch meinem Mentor genügen würde, begann ich ihr die ganze Geschichte von Anfang an zu erzählen...
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Beitrag: # 6793752Beitrag Andy92
25.10.2009 - 16:33

Neben Melinda gab es nur noch einen Menschen, der meine familieninternen Entwicklungen positiv aufnahm: Alexander. Beide verstanden mich und alles, freuten sich sogar ein bisschen mit mir und waren der Überzeugung, dass die Wahrheit nun endlich ans Licht gekommen war. Alexander konnte sogar verstehen, dass ich am Sonntag Abend keine Zeit für seine Werbeveranstaltung gewonnen hatte. Überraschend erzählte er mir jedoch davon, dass ich von den Vertretern der Hauptsponsoren doch ein wenig vermisst worden wäre – anscheinend gefiel denen meine Fahrweise. Gut, diese Ansicht konnte ich nicht vertreten. Ich wusste nicht, was an meinem Fahrstil besonders war, außerdem gab es im Moment wichtigeres.
Und da kamen Sven und Isabel von Klavsen ins Spiel. Bei letzterer verspürte ich sofort am nächsten Morgen, dass sie mich wieder mehr denn je hasste. Natürlich nicht mich direkt, sondern meine Mutter. Aber da ich ihr vertraute und ihr glaubte, stellte mich Isabel wohl auf die gleiche Stufe ihrer eigenen Anti-Mensch-Skala mit der in ihren Augen Mörderin ihres Mannes.
Bei Sven war es da schon etwas anders. Er ging mir zunächst den halben Tag aus dem Weg, bis wir nach dem Mittagessen zwangsläufig alleine auf dem Zimmer waren. Zuerst sprach er mich noch ganz normal auf die Sache an. Doch meine Antwort, die lediglich die neuen Erkenntnisse im Mordfall seines Vaters darlegte, der ja, wie ich jetzt wusste, keiner war, schien ihm gar nicht zu gefallen...

„Ich fass es nicht!“, stammelte Sven konsterniert vor sich hin. Er schüttelte fassungslos den Kopf und würdigte mich keines Blickes.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Immerhin war er mein bester Freund, von ihm konnte ich eigentlich erwarten, dass er diese unwiderleglichen Tatsachen bedingungslos akzeptieren und als Wahrheit anerkennen würde. Doch es schien keine Erlösung für ihn zu sein, dass meine Mutter frei war, viel mehr lies er sich geschockt auf sein Bett fallen. Vielleicht wurmte es ihn auch, dass er es zuletzt erfahren hatte. Gut, ich hätte es ihm vielleicht wirklich schon morgens sagen sollen, aber das war doch kein Weltuntergang.
Sofort beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Es war eine dunkle, unschöne Vorahnung. Irgendwie schien ich zu wissen, was er gleich sagen würde.
„Was kannst du nicht fassen? Bist du nicht froh, dass die Wahrheit endlich ans Licht gekommen ist? Immerhin ist es so besser für uns alle.“
„Besser?!“ Ungläubig richtete er sich auf. Seine Stimme bebte. „Glaubst du wirklich, dass sich deine Mutter geändert hat?! Andreas, sie spielt dir nur wieder was vor. Du hast doch gesagt, dass sie das damals getan hat – sie hat dich sogar erpresst!“
„Ich weiß“, gab ich kleinlaut zu. „Aber ich bin mir ganz sicher, dass sie absolut berechtigt wieder auf freiem Fuß ist. Es sprechen sogar mehr Beweise für ihre Theorie der Geschehnisse, als gegen sie. Diesmal ist es anders, ganz sicher. Diesmal sagt sie die Wahrheit.“
Sven gluckste beim letzten Wort. „Das ist lächerlich, Andreas, das weißt du ganz genau“, entgegnete er in besserwisserischem Tonfall. Noch nie hatte ich Sven so zynisch erlebt. „Sie hat dir den Mord gestanden, ich erinnere mich noch genau daran. Den Mord an meinem Vater! Vergess’ das nicht!“, zischte er mir entgegen, während sein Kopf rot anlief.
Ich spürte genau, dass in ihm eine unbändige Wut brodelte. Doch da ich ihn noch nie wirklich außer sich vor Zorn erlebt hatte, gab ich auch weiterhin nicht nach. Es gab auch keinerlei ersichtlichen Grund dafür. Immerhin basierten meine Behauptungen auf der Wahrheit oder verkörperten sie sogar, da konnte er nichts entgegenbringen.
Ich versuchte trotz seiner Sticheleien erst mal ruhig zu bleiben. „Kannst du mir nicht einfach glauben was ich sage? Wenn du sie jetzt erleben würdest, du wärst von ihrer Unschuld überzeugt.“
„Ich habe sie vorher aber noch nie ,erlebt’“, zischelte es aus Svens Mund. „Es tut mir Leid, wenn ich dir das sage, aber deine Mutter ist doch komplett verrückt! Dazu muss man sie nicht einmal kennen.“ Sven fing höhnisch an zu lachen.
Ruhig bleiben, Andreas, ruhig bleiben, redete ich mir ein. Ich durfte die Beherrschung nicht verlieren. Zwanghaft versuchte ich mir einzureden, dass ich seine Zweifel auch irgendwo verstehen konnte, doch eigentlich hätte es gar keine geben dürfen.
Ich erinnerte mich an die Fahrt von Deutschland in die Schweiz zum Internat. Diese über große Teile stille und bedrückende Autofahrt mit Svens Mutter Viktoria und ihm selbst. Damals hatten wir wieder Freundschaft geschlossen, nachdem er mich tagelang gemieden hatte, ja vielleicht sogar gehasst hatte. Das Gespräch hatte, soweit ich mich noch darin im Detail erinnern konnte, von unseren Vätern gehandelt. Plötzlich fiel mir wieder etwas ein! Obwohl es schon Monate her war, griff ich Svens Gedanken wieder auf. Gut er hatte es nie laut gesagt, dennoch glaubte ich zu wissen, dass er es genauso gemeint hatte. Ich atmete einmal tief durch, um mein Gemüt noch etwas runterzukühlen. Jetzt brauchte ich einen klaren Kopf.
„Du hättest deinen Vater gerne besser kennen gelernt, oder?“, fragte ich mit möglichst beruhigender Stimme.
„Was hat denn das damit zu tun?“ Sven sprang auf.
Unbeirrt fuhr ich fort. „Erinnerst du dich noch, wie wir über unsre Väter gesprochen haben? Wenn ich dich daran erinnern darf: Mein Papa ist auch im letzten Jahr gestorben und ich habe ihn sehr, sehr gut gekannt. Wie ich im Nachhinein feststellen musste, nicht so gut, wie ich dachte. Immerhin hatte ich nie erfahren, dass er einmal Radrennen bestritten hat. Ich weiß noch nicht einmal wie gut, aber das kann ich meine Mutter ja jetzt vielleicht fragen.“
„Moment mal.“ Die Worte schienen genau die Wirkung zu erzielen, wie ich verhofft hatte. Sven wirkte jetzt sehr viel entspannter. „Ich dachte, dein Vater wäre gar nicht tot. Hast du nicht mal gesagt, dass du ihn irgendwann suchen würdest?“
Ich war überrascht, ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, ihm das gesagt zu haben, aber im Grunde genommen war das jetzt egal. Trotzdem stellte es für eine glaubwürdige Argumentation meinerseits in der jetzigen Situation ein Hindernis dar.
„Na ja, das lag wohl daran, weil ich meine Mutter bis vor kurzem noch unter Verdacht hatte. Aber jetzt hat sie mir alles erzählt, was sie über die ganze Sache wusste. Und demnach ist mein Vater wohl...“ Ich musste eine Pause einlegen. Plötzlich fiel es mir wieder unheimlich schwer darüber zu sprechen und einige Emotionen von diesem schrecklichen 1.September 2007 schossen wieder in mir hoch. „Ja, er ist wohl ziemlich sicher damals ums Leben gekommen.“
„Das heißt, du bist dir immer noch nicht sicher?“ Sven machte einen verständnislosen Gesichtsausdruck und sofort spürte ich, dass seine Wut noch lange nicht gelegt war.
„Ich kann nur so viel sagen, dass meine Mutter jetzt auch so ihre Zweifel hat. Wir beide haben seine Leiche nie gesehen.“
„Und das kommt dir nicht verdächtig vor?“, sagte Sven ungläubig.
„Nein, auf keinen Fall“, entgegnete ich bestimmend. „An der Unschuld meiner Mutter gibt es für mich keinen Zweifel mehr.“
„Oh Mann!! Sie hat dich wieder um den Finger gewickelt, Andreas. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als du völlig fertig und mitten in der Nacht zurück in unsre Ferienwohnung kamst. Weißt du noch, vor dem Ächerlipassrennen? Damals hat das ganz anders geklungen, als du über deine Mutter gesprochen hast. Ich hab es da schon nicht verstanden, warum du es mir nicht gesagt hast. Immerhin hattest du ja auch eine ziemliche Wut auf sie.“
„Ich würde es eher als Angst bezeichnen. Ich wollte sie schützen.“
„Schützen?“ Jetzt hörte ich den Hohn aus seiner Stimme wieder ganz deutlich heraus – kein gutes Zeichen. Ich begann an meinen Chancen in dieser Diskussion zu zweifeln. Seine Position schien total voreingenommen und unerschütterlich. „Genauso wie jetzt oder, was? Du bist einfach unglaublich. Ich versteh dich in der Sache überhaupt nicht. Wahrscheinlich bist du schon genauso verrückt wie deine Mutter selbst – so eine Frau gehört auf ewig hinter Gittern!“, rief er mir direkt ins Gesicht.
„Hey, pass auf, was du sagst, ja?“
„Ich? Aufpassen? Ich sage nur die Wahrheit, die du anscheinend nicht hören willst! Du willst es einfach nicht kapieren! Deine – Mutter – ist – eine – Mörderin!“
„Sven, hör auf so was zu sagen, du weißt genau, dass es nicht stimmt.“ Ich spürte meine Verzweiflung langsam in Wut umschwappen.
Als ob ich nichts gesagt hätte, machte Sven einfach weiter und fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase herum. „Daran wird sich nie etwas ändern! Ich habe geglaubt du würdest das genauso sehen, aber anscheinend fehlt dir dazu die Objektivität in der ganzen Sache!“ Er machte ein, zwei Schritte auf mich zu.
„Bitte!? Mach dich doch nicht lächerlich! Dem einzigen, dem hier die Objektivität fehlt, das bist ganz allein du! Du kannst doch kein Urteil über einen Menschen fällen, wenn du ihn noch nicht mal richtig kennst, ja noch nicht mal gesehen hast!“ Ich schrie ihn an, doch es war mir mittlerweile egal. Wie konnte jemand nur so verbohrt sein? Sven hatte ich immer für so loyal und intelligent gehalten, anscheinend hatte ich mich da geirrt! Er war einfach dumm! Lies kein Wort an sich heran, er war einfach ein Idiot!
„Vielleicht bist du auch einfach noch zu jung, um ein halbes Jahr in einem Internat alleine zu leben. Soll sie deswegen hierher kommen? Damit du zu ihr laufen kannst, wenn’s hier mal Ärger gibt?!“, rief Sven spöttisch und kam noch einen Schritt auf mich zu.
Jetzt war ich es, der auf ihn losging. „Du willst es einfach nicht kapieren! Das ist echt unfassbar! Ein bisschen mehr Intelligenz hätte ich schon von dir erwartet“, erwiderte ich mit einem hämischen Grinsen.
Seine Antwort war lediglich ein kurzes Lächeln. „Bevor wir uns hier gleich die Köpfe einschlagen, wollte ich dir noch etwas sagen“, flüsterte er, sein Kopf ungefähr zwanzig Zentimeter von dem meinigen entfernt. Jetzt war er so nah, dass ich die Schweißperlen auf seiner Stirn zählen konnte.
„Wer sagt denn, dass wir uns gleich prügeln?“, entgegnete ich in abfällig, lässigem Tonfall.
„Na gut, ich dachte nur, du würdest gleich loslegen, aber so viel Selbstbeherrschung hast du anscheinend noch.“ Er legte eine kurze, aber wirkungsvolle Pause ein. „Also, was ich vorhin noch sagen wollte: Ja, ich hätte meinen Vater gerne besser gekannt, aber deine Mutter hat ja alles zunichte gemacht, was wir uns in den letzten Monaten aufgebaut hatten. Vorher hatten wir jahrelang nicht einmal Kontakt, im März sah es schon richtig gut aus. Wir telefonierten regelmäßig, er besuchte uns ab und zu, und wir hätten ihn damals zum ersten Mal in der Schweiz besucht und in ein paar Jahren, wäre unser Verhältnis vielleicht ganz normal gewesen, so wie in jeder anderen Familie auch...Aber deine Mutter musste ja dazwischen funken! Ein krankes Hirn wie sie, eine gemein gefährliche Mörderin, gehört in den Knast, kapierst du das nicht!? Sie ist verrückt! Deine Mutter ist eine Mörderin! Die Mörderin meines Vaters!“, brüllte er mir direkt ins Gesicht. Ich bekam ein bisschen Spucke ab, sah jedoch nur noch den Hass in seinen Augen und vergaß mich komplett!
„Hör endlich auf, sie so zu nennen“, rief ich und drückte Sven unsanft von mir weg. Der Stoß war stärker als ich zunächst gedacht hatte. Sven stolperte rückwärts, genauso überrascht wie ich, fing sich aber sehr schnell wieder.
Doch jetzt konnte ich gegen seinen Wutausbruch nichts mehr unternehmen! Die Nerven lagen blank, wir hatten uns beide lange genug provoziert. Zwei drei Schimpfwörter auf den jeweiligen Gegenüber zum Abschluss der verbalen Phase des Kampfes, bildeten gleichzeitig den Auftakt zur physischen Ebene der Schlacht! Jetzt schlugen wir uns tatsächlich die Köpfe ein! Und zwar völlig hemmungslos. Es wurde gegen Rippen getreten und geboxt, mit der blanken Faust ins Gesicht geschlagen, blind vor Wut rannten wir uns gegenseitig nieder! Zuerst verwüsteten wir das Zimmer nur, weil wir über Tische und Stühle stolperten, uns mit dem ganzen Müll, der im Zimmer verstreut herum lag bewarfen, dann zogen wir uns schon gegenseitig über den Tisch, stießen den anderen gegen das Stockbett, doch plötzlich war auch die letzte Hemmschwelle überwunden.
Sven packte sich einen Stuhl, ich tat es ihm gleich und konnte gerade noch seinen Schlag abwehren, drückte ihn gegen die Balkontür, haute zwei, drei Mal mit dem Knie zu, er krümmte sich vor Schmerzen, konnte mich aber dennoch zurückstoßen. Ich stolperte über irgendetwas, das auf dem Boden lag und fiel rücklings zu Boden. Ich heulte auf! Ein Stift, eine Schere oder was auch immer stach mir in den Rücken. Ich rappelte mich so schnell es ging wieder auf, warf einen wütenden Blick hinüber zu Sven, erkannte gerade noch einen Schatten, der durch die Luft wirbelte und duckte mich instinktiv!
Hinter mir, an der Zimmertür, zerschellte der Stuhl und zerbrach in seine Einzelteile! Sofort und ohne groß über die möglichen Folgen nachzudenken, die mich noch soeben in Form des Stuhls bedroht hatten, drehte ich mich um, packte mir eines der Holzbeine und schleuderte es hinüber in Svens Richtung. Es verfehlte ihn um Haaresbreite, doch bei seinem Ausweichmanöver stieß er sich den Kopf an der Etage des Bettes. Er jammerte, hielt sich das schmerzende Gesicht, das aufgrund unserer Faustkämpfe sowieso schon blutete, – wahrscheinlich war ich genauso zugerichtet – packte das Holzbein und pfefferte es mit so ungeahnter Wucht zurück, dass ich nicht anders konnte, als es mit der linken Hand abzuwehren!
Ich verspürte ein deutliches Knacksen – der Schmerz fuhr mir durch alle Glieder! Mein Handgelenk! Zuerst das Essen mit Besson und jetzt das! Das war das Ende! Ich konnte nicht mehr! Keuchend sank ich vor der Tür auf den Boden und stützte mit der rechten Hand meine linke, doch der Schmerz raste immer noch wie wild! Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals solche Schmerzen verspürt zu haben! Es war schrecklich, um es mit einem Wort zu beschreiben, schrecklich! Etwas schrecklicheres gab es einfach nicht!
Am Boden kauernd und wimmernd, nahm ich im Augenwinkel verschwommen Svens Silhouette wahr. Er holte mit dem Fuß aus.
„Du mieser Bastard“, keuchte er, da hörte ich Geschrei von draußen. Meine Rettung! Er hielt sofort inne, die Tür wurde aufgestoßen...
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Beitrag: # 6793759Beitrag Mor!tz
25.10.2009 - 17:18

Grandios dramatisch! Weiter so.

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panicmaster
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Beitrag: # 6793777Beitrag panicmaster
25.10.2009 - 21:53

Ist aber auch fies bei sowas aufzuhören ! :lol:

Nu los weiter :P

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Mor!tz
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Beitrag: # 6793778Beitrag Mor!tz
25.10.2009 - 23:20

Ich glaub ich weiß schon, wer rein kommt...

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Beitrag: # 6793801Beitrag panicmaster
26.10.2009 - 16:47

Melinda?! :P

Oder wen meinst du?


EDIT: Oder die mum von andreas???

crojkr
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Beitrag: # 6793816Beitrag crojkr
26.10.2009 - 19:21

Andreas´ Vater :P

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