Gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Roland62
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Gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft

Beitrag: # 6733099Beitrag Roland62
29.8.2008 - 19:12

Bin noch ganz frisch hier, aber habe mit Begeisterung schon einige Geschichten verschlungen. Möchte mich dann auch mal an diesem Unterforum beteiligen und werde gleich loslegen.
Auch hier gilt: Alles was hier erscheint ist rein fiktiv. Gespielt wird mit dem neusten RSM. Achja: Es wird nicht das Jahr 2008 gespielt, dazu aber dann später mehr.

Roland62
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Beitrag: # 6733103Beitrag Roland62
29.8.2008 - 19:17

Die Kunst der Täuschung

Aus dem Lautsprecher plärrte die spanische Fassung des italienischen Schlagers "A un amico perdono". Er kannte diese Lied, jedoch in einer anderen Version. Aber immerhin. Ein Stück Vergangenheit, dass ihm geblieben war. Vergangenheit. Ein Wort welches eine besondere Bedeutung erlangt hatte. Hatte er überhaupt noch eine Vergangenheit? Durfte er noch eine haben? Er wusste es nicht. Genauso wenig wusste er, was er hier tun sollte.

Es war ein warmer Frühlingstag. Die ersten warmen Sonnenstrahlen kamen raus und die Welt erwachte von neuem zum Leben. Er blinzelte, um sich an das helle Licht zu gewöhnen, dass durch die Fensterscheibe an seiner Seite fiel. Erst wenige Stunden zuvor war er an Bord einer DC-10 der “Iberia” auf dem internationalen Flughafen “José Martí” in Havanna eingetroffen. Ein noch nicht ganz museumsreifes Taxi sollte ihn nun in seine neues Zuhause bringen. Doch schon nach wenigen Metern war die Fahrt beendet. Umsteigen. Die Alternative war ein kleiner dreckiger Bus, der schon jetzt völlig überfüllt war. Und noch immer standen draußen hektische Menschen, die um einen Platz kämpften. Und mitten darin musste nun auch er selbst schubsen und schieben, um sich einen Platz innerhalb des Busses zu sichern, an dem er zumindest atmen konnte. Wenn man das einsaugen der stickigen Luft innerhalb des Busses als Atmen bezeichnen konnte. Ein kleiner Ruck. Es ging los. Der Bus holperte über die ausgetrocknete Landschaft.

Aufmerksam suchte er die Umgebung ab. Nichts. Es war eine tote Landschaft dort draußen. Leblos. Nein, er fühlte sich hier nicht wohl. Und doch würde genau diese triste Umgebung eine zeitlang seine Heimat werden. Dann fiel sein Blick auf das Gesicht, dass sich im Fenster spiegelte. Sein Gesicht. Konnte man das so überhaupt sagen? War es wirklich SEIN Gesicht? Der Hautfarbe nach zu urteilen würden ihn die Menschen im Bus ohne Weiteres als Landsmann akzeptieren. Seine Haare waren pechschwarz und hingen lang über seinen Schultern. Dazu prägte ihn ein riesiger Bart, der ihm einen Hauch eines Terroristen gab. Ja, Terrorist. So würde er eine Person einschätzen die so aussieht. Und doch gab es etwas, was er im Spiegel wiedererkannte. Es waren seine Augen. Er blickte nun direkt in seine eigenen Augen und prüfte sie musternd. Gewiss, das waren wirklich SEINE Augen. Das Einzige was ihm geblieben war. Er schaute auf die Zeitung auf seinem Schoß. Das letzte, was ihm aus seiner alten Welt geblieben war. Mr Fauyenne hatte sie ihm direkt vor dem Abflug mitgegeben, mit den Worten: "Schauen sie auf Seite 7. Die Gefahr ist vorüber. Viel Spass in ihrem neuen Leben."
Nun konnte er es sich in Ruhe anschauen. Er blätterte auf die richtige Seite.
Autounfall mit Todesopfer

Am gestrigen Dienstag ereignete sich in der Nähe von Frankfurt ein tragisches Unglück. Ein 39-Jähriger Mann aus Frankfurt kam gegen Mitternacht aus bisher ungeklärten Gründen von der Fahrbahn ab und raste mit über 130 Stundenkilometern in einen Baum. Für die ersten Helfer vor Ort bot sich ein grausames Bild, das Wrack war kaum noch als Fahrzeug wiederzuerkennen. Der Fahrer war sofort tot. Bei dem Toten soll es sich nach Polizei-Informationen um den Chemiker Ronald Reimers handeln. Er hinterlässt eine Frau.
Es war unglaublich. Mr Fauyenne hatte nicht zuviel versprochen. Es war alles perfekt organisiert und scheinbar schreckte dieser Typ wirklich vor nichts zurück. Und woher die Leiche im Autowrack stammte wollte er sich gar nicht ausmalen. Sein Blick wanderte auf den Namen im Artikel. Ronald Reimers. Er mochte seinen Vornamen Ronald nie sonderlich leiden. Und nun wünschte er sich genau diesen Namen zurück. Ronald Reimers. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr spürte er, wie genau dieser Name perfekt zu ihm passte. Ronald Reimers. Wie in Trance kramte er sein Portmonee heraus und schaute auf seine Papiere. Mahir Ibrahim Mohammad - arabischer Herkunft. Er konnte noch nichts mit diesem Namen anfangen. Das würde sich ändern müssen.

Er widmete sich wieder dem aktuellen Geschehen und der holprigen Fahrt. Das Ganze hatte etwas von einem Flüchtlingstransport. Hier und dort Eltern, die ihre weinenden Kinder trösten. Daneben abgemagerte Großeltern, bei denen man Angst haben musste, ob sie die Fahrt überstehen. Es war eine andere Welt, wie die, aus der er kam. Und doch passte dieser Bus zu seiner Situation. Flüchtlingstransport. Ja, auch er befand sich gerade gewissermaßen auf der Flucht. Stille. Niemand sprach. Außer dem Weinen der Kinder war nur das Geräusch des Motors zu hören. Er blickte zur Seite. Die meisten hatten die Augen geschlossen. Und er tat es ihnen gleich. Zum ersten Mal seit langer Zeit löste er sich aus seiner Verkrampfung, rutschte mit seinem Kopf etwas tiefer und verabschiedete sich für den Rest der Busfahrt. Er hatte nun nichts mehr zu befürchten.

matze298
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Beitrag: # 6733129Beitrag matze298
29.8.2008 - 20:54

DAs hört sich alles schön und gut an, doch gibt es bisher überhaupt gar keine Verbindung zum Radsport feststellen und das Ganze erinenrt an einen Kriminalroman.

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Megamen 1
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Beitrag: # 6733160Beitrag Megamen 1
29.8.2008 - 22:34

Na und, das kann doch noch kommen...

Ich finds bis jetzt auch gut

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Fabian
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Beitrag: # 6733175Beitrag Fabian
29.8.2008 - 23:04

Ich hab' auch lieber eine interessante Vorgeschichte, als wenn es einfach heisst: Peng, hier ist mein AAR, und dann geht's los mit Rennberichten - ohne Erklärung, weshalb es gerade dieses Team in jener Zusammenstellung sein muss.
Bisher liest sich das ganz gut - einen solchen Anfang habe ich bisher jedenfalls noch nicht gelesen ;)

Roland62
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Beitrag: # 6733883Beitrag Roland62
2.9.2008 - 19:38

Ein neues Zuhause

Beim Betreten seines Hotelzimmers kam ihm ein widerlicher Gestank entgegen. Ehe er eines der wackeligen Fenster aufriss, warf er einen schnellen Blick auf seine neue Heimat und ging den Raum ab. Die Schubladen in der grünlackierten Kommode klemmten teilweise, und die dunkelgrüne Farbe war stellenweise abgeplatzt. Zwei ebenfalls dunkelgrün lackierte Betten mit einem kleinen, runden Tisch, an dem zwei Schaukelstühle plaziert waren, vervollständigten das Mobiliar - nebst zwei Spiegeln, einer über der Kommode, die auch als Schreibtisch diente, und einer in der Tür zum Bad. Die Decke war hoch, wie in einem Gebäude üblich, das in den ersten zehn Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden war.

Die neuesten Gegenstände waren das Radio, der kleine Samsung-Farbfernseher und das Telefon - nicht zu vergessen der Fön im Bad und der Safe in der Abseite, die als Garderobe diente. Auf der Kommode und auf dem Nachtschränkchen neben den Betten standen bronzene Lampen im Jugendstildekor mit einem Schirm aus milchigem Glas. Die Tür wies in der Mitte Holzjalousien auf, die das Licht in Streifen teilten. Auch die Fenster wurden durch hölzerne Läden gegen die tropische Sonne abgeschirmt. Ihn durchdrang ein beklemmendes Gefühl bei dem Gedanken mehr als nur einen Tag hier zu bleiben. Doch genau das war der Plan.

Auf den Schock brauchte er erstmal eine Erfrischung. Er strich sich ein Spritzer Wasser durchs Gesicht und warf einen Blick in den Spiegel. Wieder blickte er in dieses fremde Gesicht, welches ihm alles andere als sympathisch war. Er war früher kein Frauentyp á la Till Schweiger gewesen. Aber er hatte etwas Reifes und Seriöses gehabt, was bei den meisten Damen sehr gut ankam - auch bei Anne. Er war erst 19 als er sie traf. Die große Liebe war es. Von Anfang an. Für Beide. Nicht dass es sein erstes Techtelmechtel gewesen wäre mit dem anderen Geschlecht. Er hatte früh angefangen auf Erkundungstour zu gehen und war erfolgreicher als die meisten anderen in seinem Alter. Doch mit Anne war all dies auf einen Schlag vorbei. Ruhig wollten sie die Sache eigentlich an gehen, darin waren sie sich einig. Doch es kam anders. Wieso es dazu kam, konnten sie sich beide nicht erklären und doch änderte sich alles an einem Tag - Anne wurde schwanger. Eine Abtreibung kam nicht in Frage und so wurde er von einem Tag auf den anderen quasi erwachsen. Er musste erwachsen werden. Und da man seinem Kind, Ralf, eine schöne Familie bieten wollte, war die Hochzeit der nächste logische Schritt. Im Nachhinein war diese Entwicklung vielleicht sogar die beste, die hätte passieren können. Er war glücklich. Anne auch. Im kleinen Sandbach galt Familie Reimers mit Sprößling Ralf als Vorzeigefamilie und war allseits beliebt. Klar gab es alltägliche Schwierigkeiten. Wie eben bei jeder junge Familie. Und doch würde er alles dafür tun, in dieses Leben zurückkehren zu können.

Er versuchte sich in seiner Fantasie zurück in die Heimat zu versetzen. Was würden Ralf und Anne gerade tun? War Anne überhaupt noch am Leben? Nicht einmal das, wusste er. Wenn alles nach Plan lief, dann müsste Anne sich mittlerweile in Boston befinden. In Sicherheit unter ärztlicher Aufsicht. 10 Jahre war es nun her, als ihre Herzkrankheit auffiel. Ihr Zustand hatte sich mehr und mehr verschlimmert. Sie konnte ohne fremde Hilfe nicht mehr überleben. Doch Ronald Reimers und sein mittlerweile 19 jähriger Sohn Ralf hatten sich rührend um sie gekümmert. "Hoffentlich hat sie den Transport nach Boston überlebt", bangte Ronald um seine Frau, "vielleicht wurde sie jetzt sogar schon erfolgreich operiert." Sohn Ralf müsste währendessen bei seinen Großeltern sein. Wie hatte er aufgenommen, dass sein Vater offensichtlich bei einem Autounfall gestorben war?? Zu gern hätte Ronald seinen Sohn und seine Frau eingeweiht. Doch er konnte es nicht. Niemand durfte es wissen. Nur Mr Fauyenne und Ralfs Ex-Kollege Juan, der den Kontakt zu Mr Fauyenne herstellte. Und selbst mit jenem Juan würde er wohl nie wieder etwas zu tun haben. Einsamkeit machte sich breit.

Er befand sich geschätzte 10 Stunden Flugzeit von seiner Heimat entfernt. Doch das war nicht das Hauptproblem. Er war nicht zum Urlaub hier. Es war ungewiss, ob er Frau und Kind überhaupt nochmals in seinem Leben sehen würde. Nein, es war weitaus schlimmer. Es war vielmehr eine Gewissheit, dass er Anne und Ralf für immer verloren hatte. Er würde nie mehr als Roland Reimers zurückkommen. Jeglicher Kontakt zu seiner Familie wäre sein Ende. Und das Ende seiner Familie. Er hatte genug angerichtet. Er dürfte nicht auch noch das Leben seiner eigenen Familie gefährden. Doch noch erkannte er keinen Sinn in einem Leben ohne Familie. Hatte er es überhaupt verdient noch zu Leben? Und selbst wenn, was könnte ihm das Leben jetzt noch bieten, wo er alles verloren hatte? Er versuchte sich in Gedanken die lachenden Gesichter Annes und Ralfs vorzustellen. Anne, wie sie in der Küche steht und Schnittchen zubereitet. Der junge Ralf, wie er mit seinem Fahrrad grinsend die Straßen unsicher macht. Doch was würde in einigen Monaten sein. Oder gar Jahren. Würde er vergessen, wie sein Sohn und seine Frau aussahen? Aus Sicherheitsgründen durfte er nichts aus seiner früheren Zeit mit hierher nehmen. Keine Bilder von Anne. Keine Bilder von Ralf. Er betete zu Gott, dass ihn dieser davor bewahren würde, jegliche Erinnerungen an seine Familie zu verlieren - und verbrachte unter Tränen eine erste schlaflose Nacht in seiner neuen Heimat. Havanna.
Zuletzt geändert von Roland62 am 2.9.2008 - 22:27, insgesamt 1-mal geändert.

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Shimano
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Beitrag: # 6733885Beitrag Shimano
2.9.2008 - 19:49

Roland62 hat geschrieben:... Der junge Ralf, wie er mit seinem Fahrrad grinsend die Straßen unsicher macht.
Da hätten wir also auch den Bezug zum RSM! ;)

Tschuldige, sollte nur ein Spaß sein. Super geschrieben. Schön atmosphärisch und mysteriös. Bitte weitermachen!

Roland62
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Beitrag: # 6733964Beitrag Roland62
3.9.2008 - 14:09

Sehr gut Shimano, genau deshalb hab ich den Satz eingebaut. ;)
Danke euch für die ersten Rückmeldungen, der Bezug zum RSM wird schon früh genug kommen. In der Ruhe liegt die Kraft.


Seven Days

Was war passiert? Was hatte Ronald Reimers dazu veranlasst seine Familie, sein Land, seine Heimat zu verlassen - für immer. Ohne sich zu verabschieden. Um das zu erfahren, müssen wir die Zeit um ganze 7 Tage zurückdrehen. Bis hin zu dem Zeitpunkt, der das Leben dieses Mannes verändern sollte.

„... kündige ich Ihren Arbeitsvertrag zum 1. März...,“ Ronald Reimers setzte sich, weil ihm übel wurde. Durch seinen Kopf sausten 1000 Gedanken, alles um ihn herum drehte sich und langsam begriff er, dass dieses Schreiben eine Kündigung war. Das konnte nicht wahr sein, er warf das Schriftstück unter den Wohnzimmerschrank.
„Es ist nichts, es ist gar nichts, ich habe keine Kündigung bekommen,“ sagte er sich.
Doch, da war ein Einschreiben gekommen, mit seiner Kündigung. Schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel und holte den Brief unter dem Schrank hervor und las ihn noch einmal. Als Grund war mangelnde Arbeitsbereitschaft angegeben. Das war aber auch schon alles, keine Anerkennung für die langjährige Arbeit, kein Lob, kein Dank und keine guten Wünsche für die Zukunft und auch kein Gruß. Einfach nur das Datum von gestern, ein Satz und die Unterschrift von Alfred Schubert, seinem Chef. Rechtlich und formal war das sicher in Ordnung, aber menschlich war es eine Schweinerei. Gerade jetzt wo ein dicker Deal mit einem italienischen Finanzmann kurz vor der Abwicklung stand. Die Gedanken in Ronalds Kopf schwankten zwischen Verzweiflung, Wut und der Frage, wie er die Kündigung abwenden könnte. Das Telefon klingelte, er ließ es klingeln. Es würde wohl Sohn Ralf sein, der für 10 Tage auf Klassenfahrt in Berlin weilte.

Was sollte er nur tun, wie sollte es weitergehen, gab es Möglichkeiten, die Kündigung rückgängig zu machen, wollte er überhaupt bei diesem Chef weiter beschäftigt werden? Was sollte mit Anne, seiner herzkranken Frau werden? Bei dieser Frage fiel im siedendheiß ein, dass Anne jetzt dringend ihre Medizin brauchte. Er ging ins Bad, klatschte sich mit den Händen mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht und schneuzte heftig. Dann trocknete er Gesicht und Hände ab, seufzte tief, setzte ein Lächeln auf und ging in Annes Zimmer. Anne lag im Bett und schlief.
„Hallo Liebes, hier sind deine Tabletten,“ versuchte er sie sanft zu wecken. Er war zweifelsfrei ein liebevoller Ehemann.

Auf gar keinen Fall durfte Anne etwas von der Kündigung erfahren. Jede Art von Aufregung konnte ihren Tod bedeuten, denn Anne war krank, sehr krank. Seit einer übergangenen Lungenentzündung vor einigen Jahren, litt sie an einer Herzerkrankung. Ihr Zustand hatte sich in den letzten Wochen extrem verschlechtert. Nur eine schnelle Operation in Boston USA konnte sie noch retten. Das war mit hohen Kosten verbunden und Ronald verfügte über keine Ersparnisse. Die waren für Medikamente und die Betreuung von Anne aufgebraucht worden. Keine Bank würde ihm, unter diesen Umständen, ein hohen Kredit gewähren. Die Verzweiflung überkam ihn wieder. Ohne seinen Job würde Anne das Jahr nicht überleben. Er hatte sich durch den neuen Italo-Deal eine Gehaltserhöhung versprochen. Zumindest einen Vorschuss. Und jetzt das.
Dieser Schubert schickte mit der Kündigung seine Frau in den sicheren Tod. Ronald wurde wütend und redete sich in Rage.
„Was hast du Schatz?“ fragte Anne, sie war aufgewacht. Das Telefon klingelte wieder, Anne sagte: “Gehe doch bitte ans Telefon.“
„Nein,“ antwortete Ronald, „jetzt nicht, wie geht es dir?“
Anne nahm die Medizin und sagte: „Mir geht es ganz gut, aber du siehst blass aus, wollen wir ein wenig spazieren gehen?“
„Gern“ antwortete Ronald und strich seiner Frau liebevoll über den Kopf, „aber erst richte ich dir das Abendbrot.“ Schnell verschwand er in der Küche, er mußte allein sein und seine Situation überdenken.

Ronald war knapp 39 Jahre alt, von Beruf Chemiker in einem kleinen Betrieb, der sich auf das Analysieren von chemischen Stoffen in Lebensmitteln spezialisiert hatte. In letzter Zeit hatte Ronald sich in den Bereich gentechnisch veränderte Lebensmittel eingearbeitet. Bei seinen Forschungen hatte er sehr interessante Ergebnisse erzielt. Diese hatte er kürzlich mit seinem Studienfreund Juan besprochen. Juan war bei einer amerikanischen Firma angestellt und machte zur Zeit Urlaub in seiner Heimat Spanien. Neben Ronald und seinem besten Freund und Kollegen Max, gab es in der Firma nur noch eine Bürokraft, Frau Hämmerlein und den Chef Alfred Schubert.

Alfred Schubert, war ein kleiner despotischer Mann, dessen Alkoholproblem immer größer und spürbarer wurde. Er war launisch und jähzornig und verlangte seinen Mitarbeitern das Äußerste ab. Obwohl sich Ronald große Sorgen um Anne machte und sie nur ungern allein ließ, war er regelmäßig und pünktlich an seinem Arbeitsplatz erschienen. Unbezahlte Überstunden und Arbeit an den Wochenenden waren für ihn fast schon selbstverständlich. Es war ihm bewußt, wie wichtig dieser Arbeitsplatz in dieser strukturschwachen ländlichen Gegend war und dass er so leicht keinen anderen Arbeitsplatz finden würde. Und nun war die Kündigung gekommen. Er suchte nach Gründen, konnte aber keine finden. Wahrscheinlich hatte sein Chef aus einer seiner Launen heraus die Kündigung ausgesprochen. Soweit Ronald informiert war, gab es keine finanziellen Schwierigkeiten und die Auftragslage war gut. Spätestens der Italien-Deal würde die Kassen kräftig füllen, so versprach man es sich in der Firma. Ronald hatte sich noch nie einen großen Fehler erlaubt, bildete sich weiter und war teamfähig. Das hatten ihm Frau Hämmerlein und Max mehrfach bestätigt. Bei dem Gedanken an Max stutzte Ronald. Das Telefon klingelte zum dritten Male an diesem Abend. Gleichzeitig rief Anne, sie hatte Hunger.
„Eigentlich ein gutes Zeichen,“ dachte er und bestrich eine Scheibe Brot mit Butter und belegte sie mit gekochten Schinken. Er schnitt das Brot in drei Teile, legte es auf einen Teller und garnierte das Ganze mit Tomatenscheiben und Petersilie. Anne mochte es, wenn das Essen schön dekoriert war.
Das Auge ißt mit, sagte sie immer.

Ronald tat ihr diesen Gefallen gern, er tat sowieso alles was er tun konnte, um Anne eine Freude zu machen oder sie aufzuheitern. Aber danach war ihm jetzt gar nicht zu Mute.
„Warum gehst du nicht ans Telefon?“ fragte Anne.
„Weil ich in Ruhe nachdenken muß,“ antwortete Ronald. Sofort merkte er, dass Anne unruhig wurde, ängstlich fragte sie: „Worüber, verschweigst du mir was? Hast du Ärger in der Firma?“
„Nein Liebes, rege dich nicht auf, ich denke nur über eine Versuchsreihe nach, iss und dann gehen wir ein wenig raus.“
Zum vierten Male, innerhalb von einer Stunde, klingelte das Telefon, diesmal nahm Ronald den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung war sein Kollege Max. Er wollte sich mit Ronald für den nächsten Tag zu einer Fahrradtour verabreden. Früher waren sie regelmäßig zusammen auf Tour gewesen. Das legte sich mittlerweile, doch noch immer waren sie beste Freunde. Klaus dachte wieder daran, dass ihn der Gedanke an Max stutzig gemacht hatte. Er wollte morgen nicht mit Max zusammen sein, sondern erst seine Situation in Ruhe überdenken, nach Lösungsmöglichkeiten suchen.
„Das ist lieb von dir Max,“ sagte er, „aber ich muß mich um Anne kümmern, sonntags hat die Betreuungsperson frei.“
Er legte den Hörer auf. Spielte Max eine Rolle bei dieser Kündigung? Hatte er den Chef beeinflusst? Aber warum sollte Max so etwas tun? Unsinn, er war sein Freund. War er vielleicht auch entlassen worden? Nein, das glaubte Ronald nicht, gerade in der letzten Zeit, ging Max oft in das Büro des Chefs. Was die beiden stundenlang besprachen, hatte sich Klaus schon oft gefragt. Er kam nicht weiter mit seinen Überlegungen, das Telefon schellte wieder.
„Reimers,“ meldete er sich ärgerlich.
„Hier ist Linda Schubert..."

Gerrit
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Beitrag: # 6734150Beitrag Gerrit
4.9.2008 - 15:55

Finde ich bis jetzt super macht echt Spaß es zulesen. Könnte eine klasse AAR werden wenn du so weiter machst. Finde du hast genau den richtigen Abstand, nicht zu viel aber auch nicht zu wenig über hin verraten.

Roland62
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Beitrag: # 6734737Beitrag Roland62
7.9.2008 - 17:00

Danke Gerrit.

„Hier ist Linda Schubert, sie sind doch Chemiker, vergiften sie meinen Mann“ sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Ja, aber ich...,“ stammelte Ronald.
„Sie bekommen 30 000 Euro und sie behalten ihren Job. Wenn Alfred tot ist, bin ich ihre Chefin, also was ist?“ sagte Linda.
„Sind sie immer so direkt, oder ist das ein übler Scherz?“ fragte Ronald.
Die Antwort kam prompt: „Mit Mord scherze ich nicht, ich kann meinen Mann nicht mehr ertragen, wollen sie mehr Geld, ich gebe ihnen 50 000 Euro.“

Ronald holte tief Luft und sagte: „ Ich rufe sie morgen gegen Abend an.“
Schnell legte er auf, seine Gedanken fuhren Achterbahn. Anne kam zu ihm, er nahm ihr das Tablett mit den Resten von ihrem Abendessen ab. Dann gingen sie sehr langsam auf die Terrasse und von dort aus zum Teich. Ronald ging hinter Anne her und bemerkte, das ihr das Laufen immer schwerer fiel. Zum Glück wohnten sie im Erdgeschoss, Treppen steigen konnte Anne überhaupt nicht mehr.
„Wer hat denn angerufen?“ fragte sie.
„Max, er wollte morgen mit mir Radfahren, ich habe abgesagt,“ berichtete Ronald.
Anne schmiegte sich an seine Schulter und sagte: „Das ist schade, seit gestern fühle ich mich recht gut. Du kannst mich ruhig mal ein paar Stunden allein lassen. Rufe an und sage Max, dass du mit fährst. Schließlich brauchst du auch mal Erholung.“
„Nein,“ antwortete Ronald sehr energisch, beinahe böse, „mit Max mache ich keine Radtour.“
„Was hast du plötzlich gegen Max?“ fragte Anne erstaunt. Ja, was hatte er plötzlich gegen Max, er wusste es auch nicht. Er wusste im Augenblick überhaupt nichts mehr. In den vergangenen zwei Stunden hatte es in seinem Leben so völlig unerwartete Wendungen gegeben, er brauchte Zeit um nachzudenken und er brauchte Geld und beides hatte er nicht. Hatten er und Anne nicht, verbesserte er sich.
„Du kannst wirklich ruhig eine Radtour machen, ich komme schon zurecht. Ich lese in Ruhe das Informationsmaterial, das die Klinik aus Boston geschickt hat. Habe ich dir das überhaupt schon erzählt?“ fragte sie.
Nein hatte sie nicht, ach, wenn er Anne doch von seinen Problemen erzählen könnte.
Anne fragte weiter: „Da war doch noch ein Anruf, wer war das?“
„Falsch verbunden,“ log er und drehte den Kopf zur Seite. Er konnte noch nicht mal lügen und sollte einen Mord begehen?

Am Sonntagmorgen wachte er wie gerädert auf, sein Kopf dröhnte, sein Rücken schmerzte, er hatte kaum geschlafen Die Entscheidung, die er zu treffen hatte, erdrückte ihn beinahe. Sollte er einen Menschen töten, damit Anne leben konnte? Das war die Frage, die er nicht beantworten konnte. Mord, an so etwas hatte er noch nie gedacht, auch nicht bei seinem Chef, der ihn schikanierte, wo es nur ging und ihm nun auch noch die Lebensgrundlage entzog. Aber Anne würde gesund. Mit dem Geld konnten sie nach Boston fliegen und die Operation konnte durchgeführt werden. Nein, Mord war ein Verbrechen, was wäre denn, wenn er erwischt würde, wenn Linda Schubert ihn verraten und die Schuld auf ihn allein schieben würde, wenn er ins Gefängnis müßte? Aber Anne würde leben und auf ihn warten. Würde sie das wirklich tun und würde die Operation überhaupt gelingen? Nein er konnte sein zukünftiges Leben nicht auf einem Verbrechen aufbauen und das von Anne auch nicht.

Das Klingeln des Telefon riss Ronald aus seinen Gedanken. Es war wieder Max, der ihn noch einmal zu der Radtour bewegen wollte.
„Nein, ich will nicht, habe ich mich gestern nicht klar ausgedrückt. “ sagte er barsch.
„Auch gut,“ kam die Anwort von Max im gleichen Ton zurück, „dann muss ich dir halt am Telefon mitteilen, dass ich über deine Kündigung Bescheid weiß. Es tut mir leid. Ich habe mehrfach mit Schubert darüber gesprochen und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass du gekündigt wirst.“
„Wir, wer wir hat mir gekündigt?“ fragte Ronald verwirrt.
„Na Alfred und ich, wir sind jetzt Partner, ich habe fünfzig Prozent der Firma gekauft. Tut mir leid, du weißt du bist mein bester Freund. Aber es geht um die Zukunft der Firma.“
„Warum habt ihr mich entlassen? Du weißt doch, dass ich das Geld brauche für Annes Operation.“ konnte Ronald mit letzter Kraft fragen.
Die Antwort kam ohne Zögern: „Alfred sagt, deine Versuche mit den gentechnisch veränderten Lebensmitteln bringen uns um! Die Italiener wollen keine Aufmerksamkeit. Mit deiner Frau finden wir eine....“
Ronald legte den Hörer auf und sagte: „Ich bringe euch um, ich bringe euch alle beide um. Ich werde es wirklich tun.“

„Was willst du tun Schatz,“ fragte Anne.
Er hatte nicht gehört, dass sie gekommen war, hoffentlich hatte sie nicht zu viel mitgehört.
„Wie geht es dir?“ fragte er und sie sagte: „So gut, wie lange nicht mehr.“
„Meinst du ich kann eine Fahrradtour machen und dich ein paar Stunden allein lassen?“ fragte er.
„Aber sicher, hat Max eben noch mal angerufen?“ wollte sie wissen.
„Ja, aber ich möchte nach Hause zu meiner Mutter fahren, allein, ich war so lange nicht dort,“ antwortete er.

Roland62
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Beitrag: # 6734924Beitrag Roland62
8.9.2008 - 16:39

Kirchenglocken

Er mußte raus, allein sein, nachdenken, sich Bewegung verschaffen. Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg, nach Hause. Damit meinte Ronald den Hof seines Bruders Georg, etwa 15 km entfernt. Sie waren dort zusammen aufgewachsen und hatte eine sehr schöne Kindheit gehabt. Georg hatte nach der Schule eine Ausbildung als Landwirt und später den elterlichen Betrieb übernommen. Er bewirtschaftete ihn nach den Regeln des ökologischen Landbaus, die ganze Familie, auch Maria, ihre inzwischen recht alte Mutter, arbeitete auf dem Hof. Bis vor ein paar Jahren waren Ronald und Anne in der Ernte immer zum Helfen dorthin gefahren. Auch das war Vergangenheit.

Nach dem Anruf von Max war Ronald drauf und dran, den Auftrag von Frau Schubert anzunehmen. Seinen unmöglichen Chef ermorden und seinen scheinheiligen Kollegen und "besten Freund" gleich mit. Dieser Gedanke hatte etwas sehr reizvolles. Die beiden hatten ihn eiskalt abserviert und Rache war süß. Ronald verbot sich diese Gedanken und trat heftig in die Pedale. Aber sie kamen wieder. Mit dem Geld konnten sie nach Boston fliegen, Anne würde operiert und gesund. Wirklich? Wenn sie zurück kamen, würde Ronald wieder arbeiten, ohne Alfred Schubert. Das war gut, aber was war mit Max, mit dem wollte Ronald nichts mehr zu tun haben. Er überlegte, ob er von Linda Schubert verlangen konnte, dass sie Max entlassen würde. Man konnte es ja als Bedingung in den Mordvertrag aufnehmen. Was war das denn für ein Wort? Mordvertrag, so etwas gab es gar nicht, durfte es nicht geben. Ronald schämte sich, so etwas zu denken. Aber nicht lange, sie würden Geld haben, Geld für Annes Operation, sie sollte leben und gesund sein. Vielleicht könnten sie sich, nachdem Anne die Klinik verlassen hatte, eine kleine Farm kaufen und in den USA bleiben. Die Grundstückspreise sollten dort sehr niedrig sein. Das war überhaupt die Idee, sie würden ein friedliches zurückgezogenes Leben führen. Was sie zum Leben brauchten, bauten sie auf der Farm an, natürlich gab es dort auch Tiere, vielleicht sogar Pferde. Seit seiner Kindheit hatte Ronald für Pferde geschwärmt und es immer bedauert, dass er sich aus verschiedenen Gründen keines halten konnte. In Amerika waren sie auch weit weg, von der deutschen Justiz und von Max, der mit Sicherheit Schwierigkeiten machen würde. Also, soviel stand für Roland fest, wenn er den Auftrag annehmen sollte, würde er mit Anne und Ralf nach Amerika auswandern.

Der Weg war jetzt recht steil und Ronald kam ins Schwitzen. Oben angekommen, setzte er sich auf einen Baumstumpf am Waldrand. Er konnte Kirchenglocken hören, die zum Gottesdienst riefen. Es waren die aus seinem Heimatdorf. Wie lange war er nicht in einer Kirche gewesen? Er rechnete nach, es mußte ein Jahr her sein, als er auf der Beerdigung eines Nachbars war. Sollte Annes Beerdigung die nächste sein? Wieder überkamen ihn Wut, Scham und eine große Hilflosigkeit. Die Sonne schien, die Vögel sangen, Es blühte und grünte überall und er dachte an Mord. Nein er konnte den Auftrag nicht annehmen, er mußte sich das Geld auf eine andere Art und Weise beschaffen. Vielleicht konnten sein Bruder und seine Mutter helfen. Er mußte in Ruhe mit ihnen reden. Ein Stück Land beleihen oder eine Hypothek aufnehmen. Es mußte eine Möglichkeit geben. Ronald schwang sich auf sein Rad, er hatte noch 10 Minuten zu fahren. Die vertraute Umgebung, die Schönheit der Natur und die friedliche Stimmung an diesem Sonntagmorgen, ließen in ihm einen kleinen Funken Hoffnung aufkeimen.

Die Haustür flog auf, der kleine Andreas kam heraus gestürmt und schrie so laut er konnte: „Onkel Ronald, Onkel Ronald, komm schnell, es ist was mit Tante Anne.“
Ronald hörte es von Weiten. Er fuhr so schnell er konnte.
Als er vom Rad stieg, kam Georg aus dem Haus und rief ihm zu: „Du sollst in der Klinik anrufen, Anne ist dort eingeliefert worden.“
Er fasste in seine Jackentasche, verdammt, er hatte das Handy vergessen. Ohne Gruß raste er an seinem Bruder vorbei an das Telefon im Hausflur und wählte die Nummer der Klinik. Er dauerte lange, viel zu lange, bis man ihm mit der richtigen Station und dem zuständigen Arzt verbunden hatte.
„Ihre Frau hatte einen schweren Herzanfall, bitte kommen sie sofort, es ist Eile geboten,“ teilte man ihm mit.
„Kannst du mich fahren?“ fragte er Georg.
„Klar;“ sagte dieser und holte das Auto.
Ronald stieg ein und die Fahrt ging in die Stadt. Er hatte noch nicht einmal seine Schwägerin begrüßt, geschweige denn seine Mutter gesehen. Sie war in der Kirche.

Von der rasenden Fahrt nahm er nicht viel wahr. Innerlich spielten sich alle möglichen Schreckens-Szenarien ab. Wie konnte er Anne nur alleine lassen? Gerade jetzt wo Ralf nicht zuhause war. Wie sie alleine hilflos zuhause gelegen hatte. Ja, wer hatte sie überhaupt gefunden und den Notarzt gerufen? Schweigend saß er da und beschloß endgültig, den Mord zu begehen, wenn Anne durchkommen würde. Wie, wollte er sich später überlegen, jetzt waren seine Gedanken bei Anne. Als er endlich an ihrem Bett stand, ging es ihr schon Gott sei Dank schon wieder besser.
„Noch einmal Glück gehabt,“ dachte er.

Am Abend wählte er die Nummer von Linda Schubert und sagte ihr, dass er den Auftag annahm. Einzelheiten wollte er später mitteilen. Für ihn stand fest, dass es ein Giftmord werden sollte. Er dachte an Pflanzenschutzmittel oder an das Bakterium Botolinus, aber das waren sehr unzuverlässige Methoden. Ob er es mit der Gentechnik versuchen sollte war seine zweite Idee, aber dazu fiel ihm nichts Genaueres ein. Dann dämmerte es ihm aber, was er mal bei einem Studienvortrag gesehen hatte. Digitalis purpurea, daraus wurde ein Herzmedikament hergestellt. Anne mußte so etwas einnehmen. In zu hoher Dosis war es tödlich. Genau das war es, er würde seinen Chef mit diesem Mittel umbringen. Man mußte den Wirkstoff nur in flüssige Form bringen und dann... der Rest war klar. Jetzt wollte er ins Bett gehen, der Tag war anstrengend und aufregend gewesen. Das Telefonat mit Max, die Radtour, die überstürzte Fahrt zurück in die Stadt.

Die Nacht kam ihm elendig lang vor und es war eine gefühlte Ewigkeit als endlich die Sonne aufging. Geschlafen hatte Ronald nicht eine Sekunde. Er besuchte Anne und sprach mit dem Arzt, Annes Chancen wurden täglich kleiner, aber bis zum Donnerstag sollte sie soweit wieder hergestellt sein, dass sie den Flug überstehen konnte. Ronald ging in die Firma und hatte unerfreuliche Gespräche mit Schubert und Max. Er regelte einiges, räumte seinen Schreibtisch auf und ging. Den Firmenschlüssel gab er nicht ab. Niemand fragte danach. Jetzt hieß es kühlen Kopf bewahren und genau zu planen. Telefonisch buchte er zwei Tickets für den Flug am Freitag nach Boston und meldete Anne dort in der Klinik an. Das war alles recht unkompliziert, aber nun mußte er mit Linda Schubert sprechen. Sie trafen sich in einer entlegenen stillgelegten Hütte. Ronald erläuterte Linda seine Pläne. Sie war mit allem einverstanden, wenn sie nur ihren Mann los wurde und gab Ronald einen großzügigen Vorschuß. Ordnungsgemäß ging er zum Arbeitsamt und meldete sich arbeitslos. Am nächsten Tag, es war der Dienstag, fuhr er in seinen Heimatort und besuchte seine Mutter und die andern. Heimlich und wehmütig nahm er Abschied, er wußte nicht, ob er noch einmal hierher kommen würde. Auf dem Rückweg hörte er wieder das Läuten der Kirche und wußte, dass sein Plan richtig war.

Roland62
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Beitrag: # 6735136Beitrag Roland62
9.9.2008 - 18:28

In letzter Sekunde...

Tags darauf besuchte er Anne und erzählte ihr freudig von der Reise nach Boston. Sie war froh, dass es endlich so weit war, blühte förmlich auf und wollte gar nicht wissen wie alles finanziert werden sollte. Am Donnerstag hatte Ronald seine Vorbereitungen abgeschlossen. Er hatte einige von Annes Herztabletten verflüssigt und in eine Injektionsspritze aufgezogen. Oft genug hatte er beobachtet, dass Alfred Schubert abends in der Firma blieb und Schreibkram erledigte. Dabei aß er Unmengen von den Cognacbohnen, die seine Sekretärin für ihn bereithielt. Ronald brauchte nur einige Pralinen aus der geöffneten Schachtel mit der Spritze präparieren. Schubert würde sie verzehren und bald darauf war es soweit. Aber dann war Ronald schon mit Anne unterwegs nach Amerika.

Es war gegen 23 Uhr, er wollte gerade aufbrechen, um in die Firma zu fahren, als des Telefon klingelte. Studienfreund Juan meldete sich. „Ich habe deine Genforschungsergebnisse meinem Chef vorgetragen und er hat großes Interesse daran gezeigt. Wie denkst über einen Ver... .“
"Verzeih mir Juan, aber ich hab gerade große Probleme. Annes Herz, du weißt. Ich muss schnell zu ihr. Kannst du mich morgen um 10 Uhr anrufen?"
"Si claro! Bis dann mein Freund"
Das klang interessant. Vielleicht würde ihm Juan einen Job in der USA besorgen können. Aber das war Zukunftsmusik. Erstmal hatte Ronald seinen Job zu tun. Er griff hastig alles was er benötigte, legte sich den Mantel um die Schulter und blickt in den Spiegel. "Packen wir es an", sagte Ronald zu sich selbst. Er wusste nicht, dass es das letzte mal sein würde, dass er sich selbst im Spiegel sehen würde.

Er fuhr noch ein letztes Mal in der Klinik vorbei. Er wollte seiner Frau noch einmal in die Augen sehen. Er schob die Gedanken bei Seite, doch er nahm insgeheim von ihr Abschied. Vorsichtshalber. Falls heute etwas schief gehen sollte. Schnell wischte er die Zweifel davon. Sein Plan war gut durchdacht. Bis auf Schubert würde keiner mehr in der Firma sein. Und der alte Mann war mittlerweile guten Alters, so dass es keine große Schwierigkeit werden sollte, die Cognacbohnen unbemerkt zu präparieren.
Anne schlief bereits, als Ralf dort antraf. Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und küsste sanft ihre Stirn. Sie so da liegen zu sehen, machte ihm sofort klar, dass er seine Schandtat für einen guten Zweck tat. Mit Anne die nächsten 20 Jahre zu verbringen. Gesund. Dafür würde er alles tun. Bei Sohn Ralf meldete er sich nicht mehr. Er würde in Berlin sowieso beschäftigt sein. Er wollte seinen Jungen so gut wie möglich aus allem heraushalten. Ein letzter Blick in Richtung seiner Frau. Für immer und ewig.

Knapp zwanzig Minuten später erreichte er sein Ziel. Lediglich ein Auto war auf dem Hauptparkplatz zu sehen. Das von Alfred Schubert. Es war darauf Verlass, sein Chef war wie immer noch spät in der Nacht hier. Ronald stand mit klopfendem Herzen vor dem großen stillen Gebäude. Leise schlich er in die Firma hinein, dank der Schlüssel blieb er unbemerkt. Jetzt galt es zuerst seinen Chef ausfindig zu machen. Ohne selbst gefunden zu werden. Ronald hatte sich ein perfektes Szenario im Kopf zurecht gelegt - und genau dies trat ein. Er entdeckte Schubert im Archiv. Anscheinend suchte er irgendwelche Akten. Womöglich die Akten für den Italo-Deal. Innerlich brodelte es in Ronald, doch er hielt sich zurück. Hastig eilte er in das Büro des Chefs und fand schnell sein Ziel. Wie immer lagen die Cognac-Bohnen auf dem Schreibtisch bereit. Er musste sich beeilen, es war riskant was er hier machte. Doch er hatte den Ablauf geübt und war sowieso bewandt mit Spritzen und Co. Schnell hatte er seine Arbeit getan und war sogar auf Nummer Sicher gegangen - er ließ keine Cognac-Bohne aus. "So Ronald, alles Weitere liegt von nun an in Gottes Hand", sprach er leise und huschte ins Nachbarzimmer.

Beim Eintreten erschrack er kurz. Es war sein Ex-Büro. Wehmut überkam ihn, doch dafür war nun der falsche Zeitpunkt. Er befasste sich kurz mit dem Gedanken hier zu warten bis sein Chef sich endlich seinem Mitternachts-Snack annahm, hielt es aber dann für besser, keine Sekunde länger wie nötig mehr hier zu verweilen. Seine Mission war ein Erfolg - das reichte. Und im Gedanken des sicheren Sieges schwand auch die Vorsicht, die es gebraucht hätte. Statt den sicheren Seitenausgang zu nehmen, nahm Ronald mit schnellen Schritten den kürzeren Weg Richtung Haupttor. Ein folgenschwerer Fehler.
Er nahm die letzte Kurve vorm Ausgang und dann der Schock. Er blickte direkt in zwei große Augen.

$$_gibo_$$
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Beitrag: # 6735216Beitrag $$_gibo_$$
9.9.2008 - 23:07

Deine Geschichte ist echt der Hammer, auch wenn man sich bisher noch nicht vorstellen kann wie das ganze auf
den Radsport hinauslaufen soll.
Einwandfrei geschrieben und eine AAR die einen sofort in den Bann zieht, wenn man sich nicht davon Abschrecken lässt,
das die Geschichte bisher noch nichts mit dem Radsport zu tun hat
Mach weiter so freu mich über jeden Beitrag von dir :lol: :P
Ich sah den Himmel und mein eigenes Grab,
Ich feierte Siege triumphierte und verlor,
Ich starb aus Liebe.

Roland62
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Beitrag: # 6735386Beitrag Roland62
10.9.2008 - 22:04

Danke Gibo, solche Worte freuen natürlich und motivieren.

"Bella" Italia!

Max!
"Ronald was machst du hier?? Hast du dich ein wenig beruhigt?"
Fast wäre Ronald einfach weggerannt. Nein, dann könnte er gleich zur Polizei gehen und sich stellen. Ihm tropfte der Schweiss von der Stirn. Ruhe bewahren.
"Ich hab noch ein paar private Sachen von mir abgeholt", log er.
"Haben wir dir nicht schon alles zugeschickt?"
"Ja, das Meiste - aber ich vermisse noch ein par alte Bilder. Sind wohl auf dem Müll gelandet."
"Ronald, ich werde morgen nochmal danach schauen. Ich hoffe du hast verstanden, dass wir dir nicht gerne gekündigt haben. Aber wir hatten keine andere Wahl. Die Italiener haben Druck gemacht. Und das sind raue Burschen, die verstehen kein Spass. Vorsichtig zeigte Max zum Eingang."

Erst jetzt entdeckte Ronald, dass sich noch zwei weitere Personen im Raum befanden und nun zu Max und Ronald traten. Dem glatten Aussehen und Auftreten nach, handelte es sich hier wohl um die italienischen Geschäftsmänner, mit denen Schuberts Firma verhandelte. Beide trugen schicke Anzüge und glichen sich mit markanten Gesichtszügen. Ohne sie jemals vorher gesehen zu haben, erkannte Ronald sofort, dass es sich hier um Vater und Sohn handelte. Die Italiener blickten in Ronalds Augen und mit einem Male bekam dieser panische Angst.

Das waren tatsächlich andere Kaliber als der alte Schubert. Spontan würde Ronald die beiden in Richtung Mafia einordnen. Sie strahlten zweifellos etwas Furchteinflößendes aus. Ronald nickte den beiden möglichst nichtssagend zu und suchte die richtigen Wort.
"Ja Max, du hast wohl Recht", zwang sich Ronald heuchlerisch. "Die Firma geht vor."
"Mit Anne werden wir schon etwas finden, du weißt ja wie sehr ich sie mag. Wenn du Hilfe brauchst, melde dich bei mir. Dafür sind Freunde da."
Ronald wurde fast schlecht, bei der Selbstverständlichkeit, mit der Max annahm, dass Ronald ihm diese Worte abkaufte.
"Und jetzt verzeih mir Roland. Das Geschäft ruft."

Ohne mit der Miene zu zucken gingen die zwei Gestalten an Ronald vorbei.
Puh, durchatmen. Er hätte fast alles kaputt gemacht, mit seinem Leichtsinn. Noch hatte er sich gerettet, doch erst, als er sich schon von der Firma entfernt hatte, dämmerte ihm, welch fatale Folgen dieses Treffen haben könnte. Würde der alte Schubert heute im Zusammensein mit Max und den Italienern sterben, würde der Verdacht schnell auf ihn fallen. Und plötzlich kamen ihm weitere Gedanken. Was, wenn die Cognac-Bohnen die Runde machen würden? Nein, Max hasste die Dinger, das wusste Ronald. Aber was war mit den Italienern?? Was, wenn einer von beiden zugriff und ums Leben kommen würde? Er wusste nur eins. Er wollte keinem der Beiden nochmal begegnen. So oder so. Jetzt war es zu spät. Er konnte nichts mehr tun, als Hoffen und Bangen, dass alles ohne Komplikationen verlaufen würde. Alles Weitere lag von nun an in Gottes Hand.

Roland62
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Beitrag: # 6735612Beitrag Roland62
12.9.2008 - 13:58

Übermächtige Gegner

Noch bevor die Sonne aufging wurde Ronald vom penetranten Klingeln seines Telefons geweckt.
"Du Dummkopf! Du hast ihn getötet. Deswegen warst du gestern Abend in der Firma. Ich weiß, dass du es warst!!", schrie Max wie in Rage.
Ronald war mit einem Schlag hellwach, versuchte aber soviel Müdigkeit wie möglich in seine Stimme zu legen.
"Von was redest du Max? Was ist los?", stotterte er kraftlos hervor.
"Stell dich nicht dumm. Schubert ist tot. Und einer der Italiener ist ebenfalls tot, Paolo Minelli. Die Polizei stellte bei einer ersten Untersuchung einen Tod durch Gift fest. Kurz nachdem du dich, in der Firma rumgetrieben hast. Du weißt nicht, was du da angestellt hast du Narr! Minelli ist der Sohn eines einflussreichen Mannes in Kalabrien. Die kennen keine Gnade."

Ronald blieb das Wort im Halse stecken. Verdammt. Es war etwas geschehen, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Er hat Fremde hineingezogen. Nein, so fremd waren sie ihm nicht mehr. Sie hatten ihm gestern in die Augen gesehen. Der alte Mann würde ihn wiedererkennen..... und ihn töten? Nein, jetzt dachte er zu weit.

"Ronald? Du weißt wie sehr mir Anne am Herzen liegt. Sie ist wie eine Schwester für mich. Aber du bist zu weit gegangen. Du kommst aus der Geschichte nicht mehr heraus. Ich habe Anne zuliebe nichts von dir bei der Polizei erzählt. Aber wenn du auch nur ein wenig Verstand übrig hast, stell dich!! Stell dich, bevor Minelli dich findet.
Ronald gewann die Fassung wieder und konnte sich nicht zurückhalten.

"Seit wann kümmerst du dich denn um mich?? War es auch das Beste für mich, dass ich meinen Job verliere??" schrie er.
"Ronald Reimers du Narr! Es geht hier wahrlich nicht mehr um uns. Und es geht auch nicht um deinen Job. Es geht um dein Leben. Und das deiner Familie. Und mich hast du auch noch hineingezogen. Minelli hat mir heute Nacht auf den Zahn gefühlt. Ich habe wohl nur überlebt, weil ich ihm deine Adresse geliefert habe. Sie hätten mich umgebracht, vielleicht tun sie es noch. Bring deine Familie in Sicherheit, schaff sie von hier weg. Was du machst ist mir egal, du bist nicht mehr der Ronald den ich kennengelernt hatte."
"Und der Max von früher hätte niemals zugelassen, dass ich gekündigt werde", antwortete Ronald trotzig.
"Es ist zwecklos. Kümmer dich wenigstens um Anne."
"Spar dir deine Heuchlerei für Anne. Du hast sie doch ohne zu Zögern quasi in den Tod geschickt."

Er knallte den Hörer auf und schnaubte.
Was bildete sich Max eigentlich ein? Erst kündigte er Ronald seinen Job - und nun führte er sich als heiliger Samariter auf. Mit Max hatte er endgültig abgeschlossen.
Dafür hatte er nun ein Problem mehr. Wenn Max wirklich seine Adresse an die Italiener weitergegeben hatte, dann war er hier keine weitere Sekunde mehr sicher. Er musste sofort hier raus.

Es war 5.30 Uhr. In knapp 8 Stunden würde der Flieger nach Boston starten. Ronald war sicher, dass im Krankenhaus die Vorbereitungen bereits getroffen wurden. Eigentlich wollte Roland erst gegen 11 Uhr zu Anne, um noch einmal mit ihr zu sprechen, bevor sie für den langen Transport ruhig gestellt werden würde.
Doch nun wollte er nicht länger warten. Hastig packte er einige Sachen ein, beschränktige sich jedoch auf das Allernötigste. Mit Wehmut verabschiedete er sich von Fernseher & Couch. Er wusste nicht, wann er wieder nach Hause zurückkehren würde. Selbst wenn Max sein Wort hielt und der Polizei nichts verrient, so waren eben immer noch die Italiener.
Und vor diesen hatten Ronald weitaus mehr Angst wie vor der Polizei. Und es würde nicht mehr lange dauern, bis Minelli und Co. hier aufkreuzen würden, dessen war er sich sicher.

Ronald packte das Geld von Frau Schubert ein und eilte in Richtung Haustür. Sein lieb gewonnener Opel Astra stand vor der Haustür. Doch halt. Wo waren seine Schlüssel? Verdammt. Er durchwühlte die Zimmer, doch der Schlüssel blieb verborgen.
Egal, es gab einen Ersatzschlüssel im kleinen Gartenhäusschen. Gesagt, getan. Ronald griff nach dem Zweitschlüssel und gleichzeitig erschrack er.

Motorengeräusche. Und das energische Quietschen einer Bremse. Er hörte das Zuschlagen von Türen und ging instinktiv in Deckung. Er kletterte über den kleinen Gartenzaun und machte einige Schritte nach hinten - und versteckte sich im Schutz des Getreidefeldes hinter ihrem Garten.
Er spähte durch die Pflanzenbüchel hindurch und konnte zwei Jeaps erkennen, die vor seinem Haus geparkt hatten. Laute Schreie. Es war eine Sprache, von der Ronald wenig verstand. Allerdings genug um sie zuordnen zu können - italienisch.

Roland62
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Beitrag: # 6736046Beitrag Roland62
14.9.2008 - 16:57

Die letzten Stunden

Was folgte waren Momente die Ronald nie vergessen wird. Regungslos kauerte er im hohen Gras, unfähig sich zu bewegen. Er musste mit ansehen, wie diese Leute sein Haus binnen weniger Minuten völlig zerstörten. Und doch fanden sie nicht das, wonach sie suchten. Ihn. Wütend zogen sie unter lautem Getöse wieder ab. Er hatte überlebt - und doch lag er weitere 30 Minuten hilflos da und schaute auf sein brennendes Haus. Erst dann kam er zu sich und erschrak. "Anne!", dachte er und malte sich Schlimmstes aus. Was, wenn sie wussten, wo sie sich gerade befand? Ronald fühlte wie sein Leben in diesen Momenten den Bach herunter ging. Er hatte alles falsch gemacht.

Er musste etwas tun. Sein Auto konnte er vergessen. Die Italiener hatten es nicht verschont. Er nahm den Bus. Oft griff er früher auf dieses Verkehrsmittel zurück, doch heute war es anders wie sonst. Er fühlte sich unwohl. Es kam ihm so vor, als würden sie alle auf ihn zeigen. Ihn beobachten. Er fühlte sich verfolgt. Eine Haltestelle weiter verließ er fluchtartig das große Gefährt. Er erschrak auf ein Neues. Das Klingeln seines Handys. War es Max? Oder hatten die Italiener auch seine Handynummer? Lieber nicht rangehen. Aber was, wenn es die Klinik war?? Er nahm den Hörer ab.
"Ja?"
"Ronald! Hier ist Juan. Ich hoffe ich störe diesmal nicht?"
"Ah Juan, was bin ich froh, dich zu hören", stöhnte Ronald mit kurzem Atem.
"Was ist los? Du klingst gehetzt?"
"Das kann man so sagen."

Sollte er Juan einweihen? Sie sahen sich nicht oft, allerdings war er wohl einer seiner besten Freunde. Vielleicht sogar der Beste, nach der Geschichte mit Max. Aber was könnte Juan schon ausrichten? Er könnte ihm wohl vertrauen, ja. Aber würde er ihm auch helfen können? Nein, das konnte er wahrlich nicht erwarten. Und trotzdem redete er sich den ganzen Kummer von der Seele. Und lies nichts aus. Es war eine Befreiung. Endlich jemand, dem er alles erzählen konnte. Juan war zunächst ungläubig, doch Ronalds Stimme war ernst genug, um Juan schnell klar zu machen, dass es hier wahrlich um Leben und Tod ging. Ihm wurde bewusst, wie schwierig die Situation war.

Was folgte war wohl ein unglaublicher Zufall. Oder war es Schicksal?
Dass der Freund von Juans Schwester in diesem "Business" arbeitete. Dass es dieser Mr Fauyenne wie kein Zweiter verstand, Leute verschwinden zu lassen. Viele Stars soll er angeblich aus ihrem Promi-Leben befreit haben. War Ronald der Nächste? Eine halbe Stunde diskutierte er mit Juan über Konsequenzen und wägte ab. Konnte er Anne verlassen? Konnte er ohne seine Familie leben? Aber was war die Alternative? Wohl nur der sichere Tod von Ronald. Und dem seiner Familie. So schwer es Ronald auch fiel, Juan hatte Recht. Er konnte sich hier nicht selber schützen. Und seine Familie noch weniger. Mr Fauyenne dagegen würde alles einleiten um Anne und Ralf in Sicherheit zu bringen. Und Ronald verschwinden zu lassen.

Und zum zweiten Mal hatte Ronald Glück. Glück, ohne dass er den nächsten Sonnenaufgang wohl nicht mehr erlebt hätte. Mr Fauyenne weilte derzeit beruflich in Basel. Juan brachte alles auf den richtigen Weg und so traf sich Ronald nur wenige Stunde später mit Mr Fauyenne in der Schweiz. Ronald bekam eine zweistündige Aufklärung über alles was folgen würde, wenn sich Ronald zu diesem Schritt entscheiden würde.
Geld: Der Preis war hoch. Zu hoch für Ronald. Doch Juan erklärte sich dafür bereit einen Großteil vorzulegen. Im Gegenzug erhielt er Ronalds Forschungsergebnisse, für die er angeblich den Betrag wieder rausbekommen würde. Ronald zweifelte daran. Er war berührt, über die Fürsorge von Juan. So nahe standen sie sich schließlich nicht. Er rettete sein Leben.

Seine Familie: Mr Fauyenne würde Anne mit einem Sonderflug in eine Klinik nach Boston bringen. Dort würde sie ihre notwendigen Operation bekommen. Die ersten drei Wochen würde sie so oder so im Krankenhaus verbringen müssen. Danach dürfte sie in ein Appartment, was Juans Großvater gehört hatte. Sohn Ralf würde die ersten Wochen bei Bruder Georg auf dem Hof leben. Ronald befürchtete zwar, dass die Italiener auch hier zuschlagen könnten, doch Mr Fauyenne versicherte ihm das Gegenteil. Danach würde Ralf zu Anne geflogen und zusammen könnten sich die Beiden ein neues sicheres Leben in den USA aufbauen. Und dann kam der wichtigste Teil.

Das Ende von Ronald Reimers: Für die Öffentlichkeit würde Ronald Reimers bei einem Autounfall sterben. Mehr wollte der mysteriöse Herr nicht preisgeben und blockte alle Nachfragen ab. Und es würde ein neuer Mensch entstehen. In einer Spezialklinik in der Schweiz würde Ronald Reimers innerhalb kürzester Zeit ein neues Gesicht bekommen. Neue Haut. Eine neue Nase. Künstliche Haare. Man würde seinen ganzen Typ verändern, mit einer bisher nicht veröffentlichten Methode. Mr Fauyenne machte Ronald klar, dass man ihn danach nicht mehr wiedererkennen würde. Und dass dies auch absolut notwendig sein würde. Dazu würden neue Papiere kommen. Ein neuer Name. Eben ein ganz neuer Mensch.
Es klang unheimlich. Wie in einem Film. Und doch war es für Ronald voller Ernst. Doch das schlimmste war etwas anderes. Es gab noch einen Punkt, den Mr Fauyenne ihm nun vortrug. Er dürfte seine Familie nie wieder sehen. Keinen. Abgesehen davon, dass sie ihn so oder so nicht erkennen würden. Jeder Kontakt mit der Vergangenheit wäre gleichzeitig ein enormes Sicherheitsrisiko. Für die Arbeit von Mr Fauyenne. Und für das Überleben von Ronald und seiner Familie. Er würde sich ein Leben lang daran halten müssen. Von daher musste eine solche Entscheidung gut überlegt sein. Er konnte es sich nicht vorstellen. Ein Leben ohne Familie. Und doch hatte er keine andere Wahl. Nur wenn er sich selbst opferte, hatten seine Frau und sein Sohn eine Zukunft. Er willigte schweren Herzens ein. Er unterschrieb alle möglichen Verträge. Von hieran gab es kein Zurück mehr. Viel mehr ging es sofort los.

Man brachte ihn in einen leeren Raum, einzig eine Massagebank stand unplatziert in der Ecke. Man legte ihn darauf. Eine kleine zierliche Frau krempelte seinen Ärmel hoch. Dann spürte er einen Pieks. Verschwommen erkannte er noch Umrisse einer zweiten Frau. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Er sah Sterne. Einen Regenbogen. Am Ende des Regenbogens saß seine Frau auf einer Wiese. Sie winkte ihm fröhlich. Sein Sohn Ralf radelte derweil auf dem Regenbogen entlang auf sie zu. Er schrie fröhlich den Namen seines Papas. Dann fiel Ronald Reimers in einen tiefen Schlaf. Als er erwachte, war er bereits auf dem Weg in eine neue Welt. Havanna.

Roland62
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Beitrag: # 6736308Beitrag Roland62
15.9.2008 - 21:44

Aussichtslos

Das Frühstücksbuffet im Hotel "Sevilla" war Mittelklasse, jedenfalls fielen ihm, ohne nachzudenken, mindestens zwei oder drei Hotels ein, in denen er besser gefrühstückt hatte. Als er gegen zehn Uhr das Hotel verließ, musterte er den Portier am Eingang, dessen Aufgabe unter anderem darin bestand, das Hotel gegen Einheimische abzuschotten, vor allen Dingen gegen die Schönen der Nacht, die im lokalen Sprachgebrauch als "Jineteras" bezeichnet wurden. Denn die Rules of Conduct des Hotels "Sevilla" untersagten die Fraternisierung mit den Hotelgästen - insbesondere die heterosexuelle gegen Entgelt - auf den Zimmern. Aber es gab in dieser Stadt kaum jemanden, der für einige Dollars nicht beide Augen zugedrückt hätte, und der Portier sah nicht so aus, als gehörte er zu jener verschwindend kleinen Minderheit der Gerechten, die nur mit offenen Augen durchs Leben gingen.

Langsam schlenderte er über den Prado und schaute sich um. Er fühlte sich fremd in dieser Gegend. Und selbst wenn man aufgrund seines neuen Äußeres ihn als einen Kubaner einordnen könnte, so fiel er dann doch mit seiner vornehmen Kleidung auf. Er war leger gekleidet - kurzes weißes Hemd, saubere Jeans. Und doch hob sich sein Outfit deutlich von dem, der anderen Menschen ab. Eine fette Mittdreißigerin schlug mit ihrer rechten Hand lachend gegen seinen Bauch und machte ihm das erste Angebot. Mehrmals hörte er hinter sich ein seine Aufmerksamkeit erheischendes "pspsps", das klang wie das Zischen einer Schlange. Und jedesmal, wenn er sich umdrehte, sah er in das lachende Gesicht einer braunen Schönheit. Für ihn kam eine solche Geschichte nicht in Frage. Er war verheiratet, seine Frau lag im Krankenhaus. Und doch konnte er einen Gedanken nicht verdrängen. Er würde nie wieder seine Frau anfassen können, ihre Nähe spüren. Wie lange würde er das aushalten? Würde er im Laufe der Zeit einen solchen Druck verspüren, dass er für eine fremde Dame bezahlen würde? Oder würde er gar eine neue Frau für sein Leben finden? Nein, wie konnte er nur. Wie konnte er nur solche Gedanken hegen, während seine Frau Meilen entfernt um den Tod kämpfte. Er schämte sich dafür, und doch verfolgten in diese Gedanken weiter.

Es war früher Nachmittag, und er war gerade von einem Rundgang durch Habana Vieja zurückgekommen. Seine Runde hatte ihn vom Prado zum Capitol und zurück geführt. Unschlüssig blieb er stehen und blickte auf die Uhr. Es war noch keine acht. Eine alte Frau stieß ihn an und fragte nach einer "Monedina". Zerstreut gab er ihr eine Münze von 25 Centavos, die man ihm irgendwo als Wechselgeld herausgegeben hatte. Zwei Frauen blieben vor ihm stehen.
"Hola, amigo" sprach eine ihn an. Er taxierte sie und ordnete sie als zweite Wahl ein. Lächelnd schüttelte er den Kopf. Die beiden Frauen zogen weiter. Wenn er hier weiter wie angewurzelt stehenblieb, würden ihn alle für Freiwild halten, und so ging er einige Schritte in Richtung auf die andere Straßenseite. Vor dem Eingang des italienischen Restaurants blieb er stehen.

Es war ein Restaurant mit Bar. Er ging durch einen Raum mit einer Reihe von Tischen, an denen niemand saß, bis er die Bar gefunden hatte. Dort bestellte er einen Mojito und aß einen kleinen Ensalada de Pollo. Neben ihm saß ein Mann seines Alters, mit dem er ins Gespräch kam. Der Mann sprach ein ganz gutes Englisch. Er erzählte, daß er Zahntechniker sei und zur Zeit arbeitslos. Dann zeigte er nach rechts und stellte ihm seinen Schwager nebst kleiner Tochter vor. Natürlich seien sie im Vergleich mit den Touristen alle arm. Dabei sah er ihn an und nickte gleichzeitig zu seinem Schwager hinüber. Deshalb bestellte er noch zwei Ensaladas de Pollo für den arbeitslosen Zahntechniker und seinen Schwager und eine Coca für dessen Tochter. Danach verlangte er die Rechnung, weil er das Gefühl hatte, daß er nur auf diese Art und Weise der moralischen Verpflichtung zur Übernahme weiterer Runden für seine neuen Bekannten entgehen konnte.

Vor den Toren des Restaurants kramte er in seiner Hosentasche herum. Aus seinem Portmonee holte er einen weißen Zettel hervor.
Richtig, er erinnerte sich. Man hatte sich darauf geeinigt, ihm eine Email-Adresse einzurichten, von deren Existenz jedoch nur Mr Fauyenne und Juan wussten - wissen durften. Selbst E-Mails zu verschicken hatte man ihm nur im äußersten Notfall zugebilligt. Jedoch war die Abmachung, dass Juan seinen Freund informieren würde, sobald es Neuigkeiten von seiner Familie gab. Er durchkämmte diesen Ort nach einem Anzeichen von Internet, doch das Ergebnis war ernüchternd. Internet-Cafes waren hier nicht zu finden. Auch mehrmaliges Nachfragen brachte wenig Erfolg, ehe schließlich ein alter Weißer, ihm einen kleinen Schuppen nannte, wo man für 5 USD ins Internet könne. "Calle Obispo in Habana Vieja" - er machte sich auf den Weg. Zuhause war er nicht gerade ein Internet-Freak, doch jetzt war er fast euphorisch. So könnte er wenigstens auf dem aktuellen Stand bleiben, was in der Heimat geschah. Er checkte sein Email-Fach und wurde enttäuscht. Es war leer, scheinbar wusste Juan noch nichts über Anne. Nun gut, er entschied sich dafür, noch ein wenig im Web zu surfen und nach wenigen Minuten wünschte er sich, er hätte genau dies nicht getan. Ihm blieb ihm die Luft weg. Fassungslos starrte er auf den Bildschirm, unfähig auch nur mit der Wimper zu zucken. Tiefer und tiefer sank er in seinen Sitz und glich einem Häufchen Elend.

Roland62
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Beitrag: # 6736526Beitrag Roland62
17.9.2008 - 13:42

Ein Schritt

Die Zeit verging und mit jedem Tag verschwand mehr und mehr das Leben aus ihm. Er konnte nicht sagen, wie viele Tage seit seiner Ankuft hier vergangen waren. Er fühlte nur Trauer - tiefe Trauer. Und die Bilder kamen ständig in ihm hoch. "Familie stirbt bei Anschlag auf Bauernhof" - "Genauigkeit der Schusswunden schließen auf Profis hin, das Muster etwa von der Mafia bekannt". Sie waren tot, alle ums Leben gekommen. Bruder Georg, seine Mutter, alle anderen. Könnte er doch nur die Zeit zurückdrehen. Nein, er konnte es nicht. Ab und zu kamen ihm diese Gedanken. Er ekelte sich davor wenn sie kamen, und doch konnte er sich nicht dagegen wehren. Er begann abzuwägen. Das Leben von Anne gegen das seiner Familie. Wenigstens würde sie noch leben. Sie war der wichtigste Mensch in seinem Leben, zusammen mit Sohn Ralf. Sie war mehr denn je sein Ein und Alles. Umso mehr machte ihn die Ungewissheit wahnsinnig. Keine Nachricht von Anne. Nichts von Ralf. Hatte Juan ihn vergessen? Oder wollte er ihm keine schlechten Nachrichten mitteilen? Waren sie noch am Leben?

Es war die dunkelste Stunde der Nacht. Gerade kurz vor dem Morgengrauen. Wieder eine schlaflose Nacht mehr für ihn. Die Stille war unerträglich. Ein Ringen riss ihn aus seiner Lethargie. Träumte er? Nein, er war bei vollem Bewusstsein. Er raffte sich auf und blickte zur Seite. Das Telefon klingelte. Das Telefon? Er hatte vergessen, dass er ein solches hier besaß. Wozu sollte er auch das Telefon brauchen, wenn er zu niemandem mehr Kontakt haben dürfte. Mit einem Male war er jedoch hellwach. War es Juan? Mr Fauyenne? Oder... war es gar Anne? Hoffnung keimte in ihm auf. Er hob ab.

"Ja?", flüsterte er vorsichtig in den Hörer.
"Bist du alleine?", antwortete ihm sein Gegenüber.
"Jaja, ich bin alleine. Juan?" - Er erkannte sein Gegenüber nicht, was wohl auch an der schlechten Leitung lag.
"Ja, ich bins. Wir müssen reden."
"Was ist los? Wie geht es Anne und Ralf? Ich halte es hier nicht mehr aus. Sie haben meine Familie getötet!" Er sagte dies energisch und fast vorwurfsvoll. Juan konnte natürlich nichts dafür. "Ich weiß mein Freund. Ich weiß. Hör zu, ich habe schlechte Nachrichten."
Ronald zitterte. Hoffnung hatte ihm die Stimme Juans geweckt, doch jetzt machte sich Panik breit.
"Was ist Juan? Was ist mit Anne und Ralf?", schrie er.

Keine Antwort. Stille lag zwischen den zwei Männern. Eine Stille, die mehr aussagte, als Juan es hätte tun können. Er schluchzte.

"Eine Schweinerei. Bei der Operation traten Komplikationen auf. Sie hat viel Blut verloren. Zuviel Blut. Es tut mir leid. Du weißt eigentlich dürfen wir keinen Kontakt per Telefon aufnehmen, aber ich hielt es für richtig, dich zu informieren. In 7 Tagen geht eine Maschine nach Madrid. Wir haben am Flughafen ein Ticket für dich hinterlegt. Es ist besser, wenn du nach Spanien kommst. Alles weitere steht in einer Mail. Ich muss Schluss machen". Juan sagte dies leise. Er wusste was er mit diesen Worte anrichten würde. Und doch hatte sein Gegenüber ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.

Ronald brachte keinen Ton heraus.
"Was.. Ralf??" würgte er hervor?
"Er lebt! Das ist das Wichtigste. Alles weitere besprechen wir in Madrid."
Juan legte auf. Das war alles.

Ronald brach zusammen und lag auf dem Boden. Ganz langsam breitete sich tief in seinem Innern ein schier unerträglicher Schmerz aus, der sich seinen Weg zu Oberfläche suchte. Wieder und wieder schlug er mit der Faust gegen die Wand über ihm. Er schrie. So lange war er ihr Begleiter gewesen. Er war ihr Freund und Beschützer. Und er hatte versagt. Sein Kopf brummte und tat höllisch weh. Ein Stechen in den Ohren - er musste erbrechen. Ihm flimmerte es vor den Augen wie auf einem Karussell, er nahm nichts mehr wahr, sein Kopf drehte sich. Da setzte sich ganz langsam ein Engel neben ihn auf den Boden und weinte.

Er wird sich an nichts erinnern können. Und doch fasste er den Entschluss intuitiv. Ließ sich heißes Badewasser einlaufen und begann langsam sich auszuziehen. Noch einmal betrachtete er sich vor dem Spiegel und stellte fest, das er doch ziemlich mager geworden war in der letzten Zeit. Er drehte das Radio im Badezimmer auf, das ihm immer gute Dienste geleistet hatte. Das Wasser war heiß, aber genauso hatte er es immer geliebt. Heute spürte er diese Liebe nicht mehr. Er legte sich entspannt in die Badewanne und schloss die Augen. Verbrachte einen wunderbaren Moment damit, zu genießen das plötzlich alle Gefühle so weit entfernt waren, dass er sie nicht spüren, nicht greifen konnte. Seine Entscheidung stand fest und heute würde es keinen Rückzug, keine Feigheit, keine Hoffnung geben. Er griff mit noch immer geschlossen Augen zu dem Rasiermesser neben ihm, klappte die Klinge auf und spürte einen schmerzähnlichen Zustand an seinem rechten Handgelenk. Es war nicht so wie er sich diesen Augenblick vorgestellt hatte, es war besser. Immer noch die Augen geschlossen wechselte er die Hand und hoffte auch mit der rechten Hand den Schnitt führen zu können. Und er konnte. Aus einer schnurgeraden, tiefen Schnittwunde, von den Handgelenken bis zu den Ellenbogen, lief das Blut und das Leben aus ihm heraus und vermischte sich mit dem Wasser. Dem heißen Wasser. Er öffnete die Augen und sah sich an wie das Blut das Wasser erst sacht dann immer stärker rot färbte. Schloss seine Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, immer wieder. Seine Lider wurden schwer und er begann Gefühle zu spüren, ganz nah. Wurde sich bewusst das er weinte, dass er so unendlich traurig war. Begann zu begreifen, dass er seinem Leben hier und selbst ein Ende setzte. Allein. Voller Traurigkeit. Und..... Angst.
Plötzlich die Angst zu sterben, dem Leben keine Hoffnung mehr zu geben, Angst davor was er hinterlässt, Angst keine Chance mehr zu haben, Angst um Sohn Ralf. Angst. Einfach reine Angst. Dann war sie fort die Angst und zurück blieb Traurigkeit, wieder nur die Traurigkeit.

Eine nicht zu beschreibende Gestalt kam auf ihn zu. Sie war dunkel wie die schwärzeste Nacht, doch zugleich hell wie der schönste Sommertag. Sie war gewaltig groß, doch erschien sie winzig klein. Diese Gestalt war so unglaublich, er musste seine Augen schließen. Sie sprach mit einer mächtigen Stimme, die seine Ohren jedoch nur wie ein leichter Frühlingswind umsäuselte: "Ich bin da." Er öffnete die Augen und sah genauso undeutlich wie zuvor. Er stutzte. Er traute sich nicht zu fragen, doch die Worte ließen sich nicht bremsen: "Wer bist du?" Die Gestalt schien zu lachen und ihn dabei fragend anzusehen. Sollte er wissen, wer es war? Nein, so eine Gestalt hatte er noch nie gesehen. Und trotzdem: Sie hatte etwas eigentümlich Vertrautes an sich, als ob er sie schon seid Jahren kennen würde. "Ich bin der Tod." Eine kurze Antwort. Er war überwältigt.

„Möchtest du sterben?“, erklang es auf einmal leise, ja beinahe zärtlich über ihm. Er zuckte nur kurz zusammen. Sie war so lautlos gekommen. Lautlos wie der Tod. Er drängte die Angst, die unbewusst in ihm hochgewallt war, zurück und drehte sich zu der Stimme herum.
"Bist du gekommen, um mich zu holen?" fragte er ungläubig.
"Ich hole niemanden. Das Leben kommt zu mir, wenn es an der Zeit ist", kam zurück. "Du machst mir aber nich den Eindruck, als wäre deine Zeit auf Erden schon abgelaufen."
"Möchtest du sterben?“, fragt die Gestalt erneut und kam damit zu dem Grund ihres Hierseins zurück.
Er bemerke, wie er nickte. Er brauchte nichts zu sagen, sie sah die Geste und erkannte die Antwort darin. Er ahnte ihr Lächeln mehr, als das er es wirklich sah. Verwunderung schlug ihm entgegen.
„Warum?“, hörte er sie fragen. Es klang sogar interessiert, vielleicht weil es in ihrem Alltag etwas Abwechslung brachte. Doch er mochte sich nicht äußern, sein Leid offenbaren.
„Ist das wichtig?“, erwiderte er daher ruhig.

Sein dunkler Todesengel zog verwundert eine seiner Augenbrauen nach oben, ein zartgewölbter Strich in der Blässe ihres Gesichts. „Ist es das nicht?“, fragt sie sanft. „Du verschenkst schließlich das Wertvollste, das du besitzt.“
Er war mittlerweile direkt vor sie getreten, zwischen den Beiden war nur noch eine kleine Schwelle. Er blieb stehen.
"Der letzte Schritt ist an dir mein Sohn", sagte sie sanft und er spürte deutlich die Kraft, die sie ausstrahlte.
Er war fest entschlossen, den letzten Schritt zu tun. Er hob sein Bein und plötzlich veränderte sich das Gesicht der Gestalt. Ganz langsam und allmählich und doch deutlich. Er zögerte und verharrte kurz in seiner Stellung. Kannte er das Gesicht? Nach und nach verdeutlichte sich das Antlitz vor ihm. Zuerst die Kopfform, dann die Gesichtszüge, Augen, Nase und Mund. Sein Mund stand weit offen. Er starrte die Gestalt an und stotterte ein Wort: "Ralf."

"Dein Sohn braucht dich", sagte die Stimme sanft und geborgen. Eine frische Brise streichelte seine Wangen. Plötzlich wandelte sich die Umgebung um ihn herum. Er sah blühende Blumen, grüne Wälder. Und einen großen See. Der Himmel war in rot getränkt von der Sonne, die gerade aufgegangen war. Er schwebte in Mitte des großen Sees und spürte plötzlich einen festen Druck an seinen Händen, der ihn nach oben riss.

$$_gibo_$$
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Beitrag: # 6736530Beitrag $$_gibo_$$
17.9.2008 - 14:21

Wieder einmal der Hammer, deine Geschichte ist echt fesselnd.
Bin gespannt wie es weitergeht. Und vor allem wie du das ganze nachher mit dem Radsport in Verbindung bringst.
Dein Anfang verspricht jedenfall einiges, die Hintergrundgeschichte ist top bisher und die Anzahl der Beiträge auch,
mach weiter so.
Ich sah den Himmel und mein eigenes Grab,
Ich feierte Siege triumphierte und verlor,
Ich starb aus Liebe.

Roland62
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Beitrag: # 6736767Beitrag Roland62
18.9.2008 - 22:21

Ein Hauch Leben

Langsam kehrte das Leben in ihn zurück, Ronald erwachte.
Hart drückte ihm seine Unterlage in den Rücken und er begann sich auf die Seite zu drehen.
"Er wird wach."
Die Stimme schien von sehr weitem zu kommen.
"Seht seine Augen. Dieser Bursche kommt aber nicht von ihr."
Ronald blinzelte. Sonnenlicht blendete ihn. Sein Hals fühlte sich verdörrt an und er war kaum in der Lage, zu schlucken. Er versuchte sich aufzurichten.
"Er will aufstehen."
"He Bursche. Was'n passiert? Wieso wolltest du dir das Leben nehmen?"
Ronald öffnete jetzt die Augen. Er sah drei Männer vor sich stehen, ganz eindeutig keine Ärzte oder Krankenpfleger, wie er sie erwartet hätte. Drei derbe aussehende Gestalten, die ihm geheimnisvoll vorkamen.
Von Krankenhaus auch keine Spur! Sie befanden sich in einem kleinem Raum, der jedoch eine Idylle ausstrahlte. Helligkeit strahlte von der Sonne durch die vielen Fenster in das Zimmer hinein. Der Duft von Vanille benebelte seine Sinne. Seine Gedanken kreisten noch, aber langsam kam er zu sich.
"Wo bin ich?"

Die drei Männer blickten sich gegenseitig an. Waren sie seine Freunde? Unsicherheit überkam ihn.
"In Sicherheit", antwortete ihm der kleinste der drei Männer. Er war der Hellste der dreien, er musste Europäer sein. Daneben standen zwei dunklere Typen, die sich jedoch ebenfalls von den andere Menschen in Havanna abhoben. Ausländer - wie er. Ein zweiter Mann trat hervor und kniete sich neben ihn.
"Wir waren Hotelnachbarn. Der Lärm, den sie veranstaltet haben war nicht zu überhören. Als wir bei ihnen klopften, um sie um ein wenig mehr Ruhe zu bitten, kam keine Antwort. Da die Tür nicht abgeschlossen war, kamen wir hinein und ja... da war von ihnen schon nicht mehr viel übrig. Wir wussten gar nicht, ob sie noch am Leben waren."
Ronald kamen langsam die Erinnerungen zurück. Wollte er sich umbringen? Ja, er wollte seinem Leben ein Ende setzen.
"Sie sind ein Kämpfer", sagte erneut der Weiße. "Sie haben viel Blut verloren und waren kurz davor von uns zu treten. Aber sie haben ein starkes Herz, das hat sie gerettet."
"Wieso bin ich in keinem Krankenhaus?"
"Das wollten wir ihnen nicht antun. Sie kommen nicht von hier, das haben wir erkannt. Und Krankenhäuser in Havanna sind die Hölle für Ausländer."
"Vor allem für einsame und wehrlose Ausländer", merkte nun der Größte der drei Männer spöttisch an. Sofern man von groß sprechen konnte, denn alle drei waren sie weitaus kleiner wie etwa Ronald.
"Alleine im Krankenhaus - willkommen in der Hölle von Havanna", sprach er leise weiter. Er war Ronald sofort sympathisch, wieso wusste er selber nicht. Er musterte den Mann. Er müsste Südländer sein, hatte ein markantes Gesicht und schwarze Haare.
"Dann muss ich mich wohl bei euch bedanken", fragte Ronald in die Runde.
"Womöglich, ja. Aber jetzt kommen sie erst einmal zu Kräften. Seit 2 Tagen liegen sie hier schon, wir dachten sie würden gar nicht mehr die Augen aufmachen."

Zwei Tage lag er hier. Ronald war überrumpelt. Aber er lebte - dank diesen Männern. Man kam ins Gespräch und erstmals seit seiner Ankunft in Havanna, hatte Ronald Menschen gefunden mit denen er sich unterhalten konnte. Dass er in diesem Mix aus Englisch und schlechtem Spanisch nicht alles verstand, war ihm egal. Man hatte sich geeinigt. Er könnte die nächsten Tage hier bleiben, bis er wieder auf der Höhe wäre.
Nach einer guten Stunde schließlich stellte man sich gegenseitig vor. Zu seiner eigenen Überraschung stellte er sich selbst ohne Zögern als "Mahir Ibrahim Mohamad" vor. Und er nahm diesen Namen an, und entschloss in diesem Moment einen Neuanfang zu starten. Dann waren die anderen Herren an der Reihe und seine gute Menschenkenntnis hatte ihm wieder Recht gegeben. Der Weiße stellte sich als Michael Moore vor - Engländer. Nun war der "Große" an der Reihe. Tatsächlich war er Südländer, er kam aus Spanien. Er nannte seinen Namen und Ronald stockte. Die ganze Zeit hatte er dieses Gefühl gehabt, aber es sich nicht vorstellen wollen. Er kannte sein Gegenüber, seinen Retter. Er war sportbegeistert genug, um sich an diesen Namen zu erinnern, öfters war dieser im Fernsehen gefallen.
"Sie sind Senor Gonzalez?" stammelte er erstaunt hervor.

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Fabian
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Beitrag: # 6736771Beitrag Fabian
18.9.2008 - 22:30

So, langsam kommst du zur Sache ;)

Ne, im Ernst, diese Vorgeschichte ist grandios und könnte problemlos auch aus einem Buch stammen. Mach weiter so, ich hoffe, der Radsportteil gelingt dir genauso gut - dann bist du definitiv mein Favorit für viele AAR-Des-Monats-Awards :D

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