Gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

Roland62
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Beitrag: # 6737309Beitrag Roland62
23.9.2008 - 14:57

Am Leben

Die Tage vergingen und langsam kam Ronald wieder zu Kräften. Es war ein gutes Gefühl, wieder jemanden zu haben, mit dem er sich unterhalten konnte. Noch dazu ein berühmter Radfahrer. Sohn Ralf war ein großer Fan von Aitor Gonzalez Jimenez, könnte er ihm doch nur davon berichten. Er verspürte seinen Rettern Dankbarkeit und trotzdem war seine Stimmung alles andere als gut. Viel war auf ihn eingeprasselt. seine Flucht. Der Tod seiner Familie. Der Tod von Anne. Die Ungewissheit über das Verbleiben von Sohn Ralf. Genüg Gründe um in Trübsal auszubrechen, doch auch dies geschah nicht. Vielmehr stumpften Ronalds Gefühle mehr und mehr ab. Die drei Männer versuchten Ronald zwar so gut es ging zu integrieren, doch oft wirkte er abwesend und unbeteiligt. Er war wie versteinert. Lachen sah man ihn gar nicht, genausowenig wie er seine Trauer zeigte. Er vegetierte mehr oder weniger vor sich hin, als hätte man ihm auf unbekannte Art und Weise jegliche Gefühlsregungen genonommen.

Von Juan bekam er währendessen genaue Details über seinen Rückflug nach Madrid. Als schließlich der Tag der Abreise gekommen war, verabschiedete er sich relativ nüchtern von seinen Helfern. Gerne hätte er ihnen deutlicher seine Dankbarkeit gezeigt, doch er war dazu nicht imstande. Er schüttelte ihre Hände und schaute Aitor Gonzalez in die Augen. Der Spanier nickte ihm zu und drückte ihm einen Zettel in die Hände - eine Telefonnummer. Ronald nickte zurück und erstmals seit langer Zeit kam ein leichtes Lächeln auf seine Lippen. Mit Gonzalez hatte er in diesen Tagen am meisten gesprochen - und einiges erfahren. Dass der Spanier Probleme hatte, an seine Top-Leistungen anzuknüpfen. Dass er ratlos war, an welchen Stellen er sein Potential nicht ausschöpfte. Ronald war kein Radsport-Experte, wenn gleich er sich die Tour de France immer angesehen hatte. Dafür hatte Ronald in anderen Bereichen kräftiges Know-How. Und Aitor Gonzalez hatte nichts mehr zu verlieren. Er müsste in diesem Jahr bei den großen Rundfahrten etwas reißen, wollte er im nächsten Jahr nicht ohne Team da stehen. Er würde auf Ronald bzw. Ibrahim zurückkommen in den nächsten Wochen. Vielleicht würde Ronald sich revanchieren können. Vielleicht würde er dem Spanier helfen können, in die Erfolgsspur zurückzukehren.

Sein kurzes Gastspiel in Havanna war also beendet. Seit er hier war, ging es eigentlich stets bergab. Ronald war sich im Klaren. Er war am absoluten Tiefpunkt angekommen, schlimmer könnte es nicht mehr werden. Spät am Abend landete er am Flughafen Madrid-Barajas. Beim Verlassen der Maschine kamen ihm die letzten Sonnenstrahlen des Tages entgegen. Er war noch nie in der Hauptstadt Spaniens. Er wusste nicht was ihn erwarten würde und doch war ihm dieser Ort um einiges lieber als Havanna. Europa. Ein Stückchen Heimat. Und schließlich war es soweit. Ein Schritt in die Vergangenheit. Etwas Heimisches. Knapp 100m von ihm entfernt. Juan. Sie liefen aufeinander zu, blieben wenige Meter voneinander entfernt stehen und musterten sich. Juan versuchte seine Überraschung über das neue Äußere Ronalds zu verbergen, schaffte es aber nicht komplett. Eine Weile schauten sie sich verlegen an, ehe Juan den ersten Schritt machte und seinen Kumpel in die Arme nahm. Die Wärme seines Freundes umstrahlte ihn, sein Inneres dagegen blieb kühl.
Fast mechanisch beantwortete Ronald alle Fragen Juans und blieb selbst dann erstaunlich emotionlos, als das Thema auf Anne und seine Familie abschweifte.
"Ja, sie sind alle tot", hörte er sich selbst leise murmeln und erschrak dabei, wie ruhig und gelassen diese Worte aus seinem Mund fielen.

Man ging zu Juans Pkw und erneut begann eine Fahrt ins Ungewisse. "Wir dürfen nicht lange zusammenbleiben. Mr Fauyenne hat klare Vorgaben gemacht." Ronald schaute seinen Freund an. Gerade erst hatten sie sich wiedergefunden, schon müssten sie sich trennen. Nichts neues. Er hatte sich in den letzten Wochen daran gewöhnt, alles zu verlieren, was ihm noch etwas bedeuteute. Er gab keine Antwort.
"Wir habe dir eine kleine, gemütliche Wohnung im Westen Madrids besorgt. Nichts Besonderes. Aber du solltest dich dort wohlfühlen. Du findest dort auch etwas Geld, um in der nächsten Zeit zurecht zu kommen. Du machst den Unsinn doch nicht noch einmal oder?"
Ronald nickte, ohne seinem Freund Beachtung zu schenken.
"Hör mal Ronald. Wir wissen, wie scheiße deine Situation ist, aber das gibt dir kein Recht darüber zu entscheiden, wann dein Leben zu Ende ist."
Juan sagte dies plötzlich mit einer gewissen Schärfe, die Ronald kurz zusammenzucken ließ.
"Es wird sich in diesen Tagen jemand bei dir melden. Predrag Mijatovic, er ist Jugoslawe und wird eine Aufgabe für dich haben. Hör dir die Geschichte an, da steckt viel Potential und Geld dahinter. Wenn es gut läuft kannst du dir hier etwas aufbauen."
"Mijatovic? Doch nicht der Mijatovic von Real Madrid?"
"Genau der. Ein Freund von mir hat den Kontakt hergestellt und ich war der Meinung, dass du als Sportfanatiker tatsächlich Interesse an dieser Tätigkeit haben könntest."
"Gut, ich hör was er zu sagen hat", antwortete Ronald belanglos. Juan machte sich große Mühe für ihn. Aber sein Leben war im Eimer, das müsste sein spanischer Amigo begreifen.

Schließlich hielt der Wagen. Hier war also Ronalds neues Zuhase. Er machte die Tür auf und verabschiedete sich von Juan. Man würde sich eine Zeit lang nicht mehr sehen dürfen.
"Ach ja Ronald. Dein Sohn Ralf. Er hatte einen Unfall. Aber er lebt!"
Mit einem Male kehrte das ganze Leben in Ronald zurück. Er riss die Augen auf.
"Wo ist er??"

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