Siggi Rauch: Milch, Schweiß und Tränen

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

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Shimano
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Die Eric-Show

Beitrag: # 6732546Beitrag Shimano
27.8.2008 - 12:05

Die Eric-Show

23.01.2003

Wieder nahm ich auf der Rückbank unseres Teamfahrzeugs Platz. Der Start zur heutigen Etappe von Ras Laffan nach Doha über 160 Kilometer würde jeden Moment beginnen. Jan und Malte wiederholten die Check-Prozedur von gestern: Kommunikationskanäle und Monitor überprüfen.
„Alles in Ordnung!“, sagte Malte. „Kann losgehen.“

Nach dem gestrigen Rennen war ich so schnell wie möglich ins Hotel zurückgekehrt, um mich abzuduschen und ein wenig herunterzufahren. Als ich mein Zimmer betrat, klingelte das Handy.
„Rauch.“, meldete ich mich.
„Siggi! Das ist der Hammer! Großartig! Was für ein Sprint!“, schrie mir Johann entgegen.
Ich war zu fertig, um mehr rauszubringen als: „Ja!“
„Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was mir das bedeutet! Ich wäre so gerne dabei gewesen! Wie war es für Dich?“, ratterte Johann.
„Oh, klasse!“, antwortete ich. „Bin ganz schön fertig.“
Johann lachte: „Das glaube ich! Du gewöhnst Dich schon noch dran. Du, ich muss Schluss machen, hier klingelt die ganze Zeit das Telefon. Alle sind aus dem Häuschen!“
„OK, wir hören morgen!“, sagte ich.
„Ja, viel Spaß noch! Bis morgen!“, verabschiedete sich Johann.

Ich zog meine durchgeschwitzten Klamotten aus, duschte ausgiebig und legte mich danach zunächst eine halbe Stunde auf mein Bett. Mein Kreislauf stabilisierte sich langsam und ich nutzte die wiedergewonnene Frische, um meinen Rennbericht zu schreiben. Nachdem ich ihn komplettiert und unsere Website aktualisiert hatte, sah ich auf die Uhr. Zeit für’s Abendessen.

Die Stimmung war ausgelassen und zur Feier des Tages gab es einen Sekt für alle. Wir stießen auf den gelungenen Saisonauftakt an und ließen Eric hochleben. Seine Backen glühten und er war stolz wie Oskar. Er hatte auch allen Grund dazu.
Jan erhob sich und klopfte mit der Gabel an sein Glas: „So Leute, ein Leadertrikot hat man nicht alle Tage. Ich zähle darauf, dass Ihr Erics neues Kleidungsstück bis auf die Zähne verteidigt! Klar?“
„Klar!“, schrie ein vielstimmiger Chor zurück.
Nach dem Abendessen setzte Jan sich neben mich, stieß mir in die Seite und fragte: „Einen Kaffee, Siggi?“
Ich lächelte matt. „Nein, danke! Nächste Woche vielleicht.“

Jan ließ den Motor an und legte den Gang ein. Das Rennen war gestartet. Endlich konnte ich die Atmosphäre im Teamfahrzeug erfassen ohne Angst haben zu müssen, dass ich gleich einen Herzkasper kriege. Ich schaute zunächst einmal Jan beim Fahren zu. Er war anscheinend ein Meister des Multitaskings. Er fuhr, hielt über den Funk Kontakt zu den Fahrern, behielt den kleinen Monitor im Auge, schwatzte zwischendurch mit mir oder Malte und hatte für unsere Wasserträger, die an den Wagen kamen, immer wieder ein paar aufmunternde und motivierende Worte parat. Johann konnte froh sein, einen solch fähigen Mann an seiner Seite zu haben.

„Zwei Mann gehen weg.“, bemerkte Malte.
Wir schauten alle auf den Monitor.
„Gehen lassen!“, sprach Jan in sein Mikro.

Die beiden Ausreißer hatten sich ungefähr bei Kilometer 60 vom Péloton gelöst. Es handelte sich um Fabrice Gougot vom Team Phonak und Bert Hiemstra von Bankgiroloterij. Schnell wurde klar, dass im Feld vorerst niemand ein Interesse an einer Tempoverschärfung hatte, denn der Vorsprung wuchs stetig an. Ungefähr 50 Kilometer vor dem Ziel war der Abstand des Hauptfeldes auf über sechs Minuten angewachsen. Ich wurde langsam nervös.
„Jan?“, fragte ich.
„Du hast ein gutes Gefühl für den Moment, Siggi. Jetzt heißt es Tempo machen.“ Er fingerte an seinem Mikro rum. Plötzlich rief er: „Was? Scheisse! Malte, Gerhard braucht ein neues Hinterrad! Mach Dich bereit!“
Malte beugte sich aus dem Seitenfenster und rief dann auch schon: „Da steht er!“
Wir hielten neben Gerhard an. Malte sprang aus dem Wagen und in Windeseile hatte er das defekte Hinterrad des Österreichers ausgetauscht. Gerhard schwang sich auf den Sattel zurück und fuhr so schnell er konnte dem enteilenden Péloton hinterher.
„Mist! Ausgerechnet jetzt. David, Markus! Zurückfallen lassen. Gerhard helfen!“, befahl er.
Unter größten Anstrengungen gelang es den drei Bärenmarke-Fahrern innerhalb der nächsten 15 Kilometer wieder Anschluss an das Hauptfeld zu finden. Das Tempo war bereits von anderen Teams verschärft worden, die auf ihre Sprinter setzten. Der Vorsprung der Ausreißer betrug aber immer noch über vier Minuten. Noch dreißig Kilometer.
Jan räusperte sich: „OK. Fabian, Patrik: Tempo! Eric, häng Dich dahinter!“
Ich schaute fasziniert auf den Bildschirm. Zwei türkisfarbene und ein oranges Trikot arbeiteten sich durchs Feld und setzten sich dann an die Spitze des Pélotons. Jetzt machte Team Bärenmarke Tempo.

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Patrik Sinkewitz und Fabian Wegmann machen das Tempo für Eric Baumann

Innerhalb von nur 10 Kilometern hatte sich der Vorsprung der beiden Ausreißer fast halbiert. Gougot und Hiemstra hatten nichts mehr hinzuzusetzen. Acht Kilometer vor dem Ziel wurden sie vom Hauptfeld geschluckt. Es sollte also wieder ein Sprint die Entscheidung bringen. Obwohl ich statt arabischem Mokka diesen Morgen grünen Tee getrunken hatte, lief mein Puls jetzt wieder auf Hochtouren. Mit einigem Sicherheitsabstand zu Jans Ellenbogen betrachtete ich gebannt den Monitor. Das Feld rauschte jetzt durch die ersten Straßenschluchten Dohas und so wie gestern war es extrem langgezogen – ein Zeichen für hohes Tempo an der Spitze. Ungefähr drei Kilometer vor dem Ziel musste Fabian seiner Arbeit an der Spitze des Feldes Tribut zollen. Er fiel zurück.
„Du musst das alleine durchziehen, Eric!“, rief Jan und fügte noch hinzu: „Nicht zu früh, hörst Du? Nicht zu früh!“
Meine Nerven! Ich hätte früher nie gedacht, dass Radrennen derart spannend sein können, aber nun war ich heilfroh, dass ich heute keinen arabischen Mokka im Blut hatte.

Da! Jetzt ging es auf den letzten Kilometer. Eric lag aussichtsreich an vielleicht elfter, zwölfter Position. Jetzt fielen aus der Spitze noch einmal vier Tempomacher der anderen Teams raus.
„Capelle, Eric! Häng Dich an Capelle ran!“, schrie Jan.
Ich hielt die Luft an. Eric hatte sich an die Fersen des Belgiers vom Team Landbouwkrediet geheftet und fuhr jetzt in einem Irrsinnstempo um den zweiten Etappensieg.
Jans Stimme überschlug sich fast: „Geh raus! Vollgas! Los!“
Der junge Rostocker gehorchte wie programmiert. Unnachahmlich zog er an Capelle vorbei und hatte jetzt nur noch zwei Fahrer vor sich. Wenn er den Kontersprint richtig angesetzt hatte, dann sollte ihm der Geschwindigkeitsüberschuss reichen, um sie noch zu packen.
„Er gewinnt! Er gewinnt!“, rief Malte.
Und tatsächlich: Eric überquerte die Ziellinie mit einer Länge Vorsprung vor Matteo Carrara von De Nardi und Cristian Moreni von Alessio. Der als Zugpferd missbrauchte Capelle fuhr als Vierter über den Zielstrich.
Wir jubelten und klatschten uns ab! Was für ein Saisonauftakt! Was für ein Sprint!

„Gute Show, Eric!“, schrie Jan ins Mikro.

Ich verspürte plötzlich Appetit auf einen arabischen Mokka!

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Eric Baumann (BAE) feiert seinen zweiten Sieg bei der diesjährigen Tour of Qatar

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Capelle schlägt zurück

Beitrag: # 6732606Beitrag Shimano
27.8.2008 - 17:10

Capelle schlägt zurück

24.01.2003

Nach dem Aufwachen setzte ich mich an meinen Laptop, um meine Mails zu lesen. Johann hatte einen Artikel aus dem Trierer Volksfreund eingescannt und ihn mir zugesandt. „Baumann mit zweitem Sieg – Thalfanger Bärenmarke-Team sorgt für Furore bei der Tour of Qatar“. Die Kunde unserer Großtaten hatte also auch den Hunsrück erreicht. Johann war mehr als zufrieden mit dem Saisonauftakt und schrieb mir, dass er und Jan der festen Überzeugung waren, dass wir eine Riesenchance auf den Gesamtsieg hatten. Die restlichen drei Etappen waren alle flach und prädestiniert für Sprintankünfte. Wenn es dem Team Bärenmarke also gelingen sollte, die Angriffe der Ausreissergruppen abzuwehren bzw. diese vor dem Ziel wieder einzuholen, dann konnte uns nur noch eine Formschwäche von Eric oder ein nicht vorhersehbares Unglück aufhalten. Durch die Zeitgutschriften lag unser Sprinttalent jetzt 25 Sekunden vor Gougot und 27 Sekunden vor Hiemstra, die gestern auf ihrer Flucht an den Sprintwertungen ebenfalls fleißig Zeit gutgemacht hatten. Allerdings spielten diese beiden unter normalen Umständen bei den kommenden Zielsprints keine Rolle. Mit Carrara, Kupfernagel und Moreni, die alle 28 Sekunden Rückstand auf Eric hatten, lagen allerdings auch gefährliche Sprinter nach wie vor gut im Rennen.

Ich wollte gerade den Laptop ausschalten, als eine neue Mail im Postfach erschien. Sie war von Julia!
Julia Winterkorn hat geschrieben:Nichts geht über Bärenmarke!

Hallo mein Beschützer der Unmündigen,

ich habe von Deinen (Euren) Heldentaten gehört und wünschte, ich wäre bei Euch, um besser mitfiebern und -feiern zu können. Ich habe gestern die zweite Etappe gemeinsam mit Johann und den anderen gesehen. Wir waren am Ende alle mit den Nerven fertig, aber das wird Euch ja mit Sicherheit nicht anders gehen.

Wie ich gehört habe, bist Du von Kaffee auf grünen Tee umgestiegen. ;)

Kommt bloß alle heil zurück. Mir fehlen die anregenden Diskussionen mit Dir!

Viel Glück und bis bald

Julia
Jan, das alte Plappermaul. War ja klar, dass meine Mokka-Erfahrung von ihm als allgemeines Gedankengut des Teams Bärenmarke angesehen wurde. Und ich hatte noch versucht, mich vor Julia als der große Kaffeekenner zu profilieren. Natürlich nur mit dem Hintergedanken, sie mal auf eine Tasse einladen zu können, aber soweit war es noch nicht gekommen. Immerhin fehlten ihr unsere Streitereien, das Wort „Diskussionen“ war in diesem Fall ein klarer Euphemismus. Mit einem Lächeln im Gesicht fuhr ich den Laptop runter. Ich würde erst heute Abend auf die Mail antworten. Schöne Frauen muss man erst mal zappeln lassen!

Nach dem Frühstück inklusive einer Tasse arabischem Mokka machten Jan, Malte und ich uns auf den Weg zum Startbereich. Es war sehr windig und feine Sandkörnchen schlugen mir ins Gesicht. Ich kniff die Augen zu und schaute skeptisch in den strahlend blauen Himmel. Auch Jan blickte empor.
„Wir müssen heute auf Attacken aufpassen. Bei dem Wind kann man nie so genau wissen…“, sagte er.

Zunächst spielte uns der Wind in die Hände. Immer wieder versuchten kleinere Ausreissergruppen ihr Glück, doch keine schaffte es, sich abzusetzen. Einzig Jimmy Engoulvent vom Team Brioches La Boulangère fuhr zwischenzeitlich einen Soloritt von ungefähr dreißig Kilometern. Er wurde allerdings zur Hälfte des Rennens bei Kilometer 80 wieder gestellt. Alleine war man bei diesem Wind verloren. In dem Moment als Engoulvent vom Feld geschluckt wurde, suchte plötzlich eine ganze Gruppe von Fahrern ihr Heil in der Flucht nach vorne. Im Péloton war man nur kurz uneins, wer die Nachführarbeit leisten sollte und schon klaffte eine recht große Lücke zwischen der sieben Fahrer umfassenden Gruppe und dem Hauptfeld. Kurz darauf ging es in eine zehn Kilometer lange Abfahrt, auf der die Ausreisser weitere Zeit gutmachten. Als es wieder in die Ebene ging, hatten sie einen Vorsprung von über drei Minuten rausgefahren.

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Timochine (LAN), Oriol (A2R), Navarrete (L2C), Barroso (MIL), Gadeo (PAT), Miorin (DNC) und Vries (BAN) setzen sich vom Feld ab

„So ein Mist!“, fauchte Jan. „Die harmonieren gut! Wir müssen arbeiten!“
Er orderte unsere Fahrer an die Spitze des Pélotons und ließ nun Tempo bolzen. Lediglich David und Markus verschonte er. Die beiden hatten gestern bei der „Rückführaktion“ von Gerhard zu viel Kraft gelassen, als dass sie jetzt eine echte Hilfe gewesen wären.

Der Wind nahm immer mehr zu. Als Stefan Schumacher 40 Kilometer vor dem Ziel noch einmal Verpflegung abholte, sah er ziemlich fertig aus. Das Gesicht rotgepeitscht vom Sand, verkniffene Augen und keine Reaktion auf die aufmunternden Worte von Jan.
„Das kostet heute Körner!“, murmelte dieser vor sich hin.
Ich bekam ein mulmiges Gefühl. Immer wieder blickte ich auf den Vorsprung. Noch 30 Kilometer zu fahren und immer noch fast drei Minuten Vorsprung, obwohl Team Bärenmarke und auch das Team Wiesenhof sich mit der Führungsarbeit an der Spitze des Pélotons immer wieder abwechselten.
„Gleich sollten wir rankommen.“, sagte Jan plötzlich.
Ich verstand nicht. „Wieso sollten wir gleich rankommen?“, fragte ich. „Wir versuchen es doch schon die ganze Zeit und es klappt nicht richtig.“
„Die Jungs stehen gleich richtig im Wind.“, antwortete er und zeigte auf dem Monitor auf eine lange Kurve, die die sieben Ausreisser gerade erreicht hatten.
Jan hatte recht! Der Wind kam jetzt direkt von vorne und der Vorsprung schmolz plötzlich unaufhaltsam und vor allem schnell dahin. Genau zehn Kilometer vor dem Ziel war es dann soweit. Das Péloton rauschte wie ein Schnellzug heran und die sieben wackeren Kämpfer hatten Mühe, bei dem nun horrenden Tempo überhaupt noch mitgehen zu können.

Jan begann, Instruktionen zu geben. Mein Puls machte sich wieder bemerkbar. Die Annäherung an einen Zielsprint ist schon eine faszinierende Sache!
„Fabian, Gerhard! Vorne bleiben! Eric! Lass Dich nicht abdrängen!“, rief Jan und beobachtete aufmerksam den Monitor.
Zwei Kilometer vor dem Ziel verließen dann Gerhard die Kräfte. Einzig Fabian verschaffte Eric jetzt noch ein wenig Windschatten.
Jan wurde immer lauter: „Gut Fabian! Halte durch! Eric, Du hast es gleich geschafft!“
Der letzte Kilometer. Fabian und Eric lagen nach wie vor ganz weit vorne. Ich konnte jedoch auch mehrere unserer heftigsten Sprintkonkurrenten ausmachen. Sie waren alle mit dabei. Vor allem Ludovic Capelle lag in einer hervorragenden Position hinter einem Zug aus Landbouwkrediet-Fahrern.
Jans Stimme überschlug sich jetzt: „Fabian, lass reissen! Eric, hinter Capelle bleiben! So ist’s gut!“
Fasziniert beobachtete ich das Schauspiel. Capelles Zug löste sich auf und der Belgier schoss in wahnwitziger Geschwindigkeit auf die Ziellinie zu. Eric hatte den Bruchteil einer Sekunde zu spät reagiert und jagte jetzt hinter Capelle her.
„Capelle gewinnt!“, rief ich. Das konnte sogar ein Blinder erkennen.
Der Belgier flog über die Ziellinie und riss die Arme hoch. Mit mindestens drei Längen Vorsprung gewann er die dritte Etappe vor Eric, der in einem atemberaubenden Duell mit Rudi Kemna von Bankgiroloterij und Matteo Carrara von De Nardi – Colpack die Nase vorn hatte. Wir jubelten.
„Klasse, Eric! Ganz, ganz große Klasse!“, sagte Jan zufrieden ins Mikro. Dann wandte er sich grinsend wie ein Honigkuchenpferd an uns: „Jungs, wir liegen voll im Soll!“

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Ludovic Capelle (LAN), der stärkste Sprinter auf Etappe 3 der Tour of Qatar

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Grave
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Beitrag: # 6732608Beitrag Grave
27.8.2008 - 17:29

einfach top, und das in dieser atemberaubenden Gerschwindigkeit ! 8)
Fuck the Capitalism

ETC > PCM

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Beitrag: # 6732776Beitrag Shimano
28.8.2008 - 16:14

Grave hat geschrieben:einfach top, und das in dieser atemberaubenden Gerschwindigkeit ! 8)
Eines kann ich schon jetzt versprechen: Die Frequenz halte ich nicht ewig durch. Trotzdem vielen Dank!

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Schnell, schneller, Capelle

Beitrag: # 6732779Beitrag Shimano
28.8.2008 - 16:25

Schnell, schneller, Capelle

25.01.2003

Zum vierten Mal nahm ich auf dem Rücksitz unseres Teamfahrzeugs Platz. Die heutige Etappe über 130 Kilometer war fast komplett flach und der Wind, der uns gestern solche Probleme bereitet hatte, war zu einer angenehmen Brise abgeflaut. Eigentlich konnte man also von guten Voraussetzungen für die Verteidigung der Führung in der Gesamtwertung sprechen. Allerdings hatte die enorme Kraftanstrengung der gestrigen Aufholjagd unsere Fahrer ganz schön geschlaucht. Die beiden Masseure hatten Sonderschichten einlegen müssen, um unsere Jungs fit zu kriegen. Stefan und Markus hatten trotzdem beim Frühstück über anhaltende muskuläre Probleme geklagt. Das würde heute kein Spaziergang werden.

Das Rennen war gestartet worden. Auch unser Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Ich sah mir noch einmal den kleinen Zettel an, den Jan gestern Abend an alle verteilt hatte. Auf ihm standen die Namen und Zeitrückstände der Fahrer, die Eric im Falle weiterer Sprintankünfte gefährlich werden konnten und auf die es ein wachsames Auge zu werfen galt. Ludovic Capelle hatte sich durch den gestrigen Sieg auf Platz zwei der Gesamtwertung gefahren. Er hatte jetzt 33 Sekunden Rückstand auf unseren Mann in Orange. Dahinter folgten einige Fahrer, die durch ihre Ausreißversuche fleißig Zeitgutschriften gesammelt hatten, aber in einer Massenankunft keine Rolle spielen würden. Auf Rang sechs und sieben mit 39 bzw. 41 Sekunden Rückstand folgten dann wieder zwei Sprintspezialisten: Matteo Carrara und Stefan Kupfernagel. Da insgesamt noch 40 Sekunden Zeitgutschrift bei zwei vorausgesetzten Siegen sowie einige Sprintwertungen zu vergeben waren, konnten wir unserer Sache keinesfalls sicher sein. Oberste Priorität hatte demnach, Eric möglichst wieder unter die ersten Drei bei der heutigen Etappe zu bringen und eventuelle Fluchtgruppen so schnell wie möglich wieder zu stellen.

Erfreulich war, dass Patrik gestern ins rote Trikot des Bergwertungsbesten fahren konnte. Johann hatte noch vor unserer Abreise nach Katar darauf hingewiesen, dass für das Team Bärenmarke jede noch so kleine Rennprämie wichtig war. Wenn es also hier bei der Tour of Qatar kein anderer Fahrer auf das Bergtrikot abgesehen hatte, dann nahmen wir es gerne.

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Wird er der Bergkönig der Tour ohne Berge? Patrik Sinkewitz (BAE), Führender der Bergwertung

Wir beobachteten ein ereignisarmes Rennen. Es gab zwar immer wieder Attacken einiger Fahrer, doch sowohl Team Bärenmarke als auch Ludovic Capelles Landbouwkrediet-Team fuhren die Lücken jedesmal schnell zu. Auf der einen Seite freuten wir uns über die tatkräftige Unterstützung des belgischen Teams, auf der anderen Seite wussten wir, was dies für das Finish bedeuten würde: Erics schärfster Konkurrent konnte in den verbleibenden zwei Zielankünften nur noch alles auf eine Karte setzen und heute würde er mit Sicherheit Teil eins dieses Plans in Angriff nehmen.

Ich blickte aus dem Fenster. Katar war nicht mein Land. Zunächst einmal ist man natürlich von dem angenehm warmen aber nicht zu heißen Klima im Winter angetan, doch spätestens nach zwei Tagen gehen einem die hohe Luftfeuchtigkeit und der Sand in Nase, Ohren und zwischen den Zähnen tierisch auf den Senkel. Immer wenn ich abends in mein Hotelzimmer zurückkehrte und mich auszog, hatte ich die halbe Wüste um mein Bett herum verteilt. Am meisten störte mich jedoch die nicht vorhandene Vegetation. Sobald man den Einzugsbereich um Doha verlassen hatte, gab es nur noch zwei Farben: Das Blau des Himmels und das Gelbgrau der Wüste. Ich freute mich jetzt schon auf die Rückkehr in den Hunsrück. Auf den Blick von meinem kleinen Balkon, auf mein Büro und auch auf die „angeregten Diskussionen“ mit Julia Winterkorn. Mal sehen, vielleicht nahm ich nach meiner Rückkehr das Projekt „Auf eine Tasse Kaffee“ in Angriff.

Mittlerweile waren es nur noch 20 Kilometer bis zur Zielankunft. Die zwei Sprintwertungen des Tages hatten sich Ausreißer gesichert, die allerdings längst wieder vom Péloton geschluckt worden waren. Unsere Strategie war also bis hierhin perfekt aufgegangen.
„Wie geht’s, Eric?“, fragte Jan in sein Mikro. Nach einer kurzen Pause sagte er: „OK, orientier Dich an Capelle. Lass ihn nicht aus den Augen! Hast Du gehört?“
Dann wandte sich unser zweiter Sportlicher Leiter an Malte: „Malte, ich möchte, dass Du mir ab Kilometer 10 vor dem Ziel ständig sagst, was Landbouwkrediet macht, klar?“
Malte nickte. „Mmmhhh. Klar!“, entgegnete er.

Jetzt ging es wieder los. Mein Körper hatte mittlerweile eine Art innere Uhr eingerichtet, die pünktlich 10 Kilometer vor dem Ziel meinen Puls beschleunigte und meine Wahrnehmung auf mehreren Ebenen sensibilisierte. Faszinierend. Gerne hätte ich einen Biochemiker zur Hand gehabt, um mir erklären zu lassen, was da gerade in meinem Körper vor sich ging und welche Botenstoffe gerade wo andockten, um mich in diesen Zustand zu versetzen.
„Sie bauen den Zug auf!“, hörte ich Malte sagen.
Ich blickte auf den Monitor. Die rot-weiß-blauen Landbouwkrediet-Trikots formierten sich an der Spitze des Feldes. Fünf Fahrer waren es. Der letzte musste Capelle sein.
„Die wollen heute nichts dem Zufall überlassen!“, murmelte Jan. Seine Augen waren auf den Monitor gerichtet. „Aber Eric auch nicht…“, sagte er jetzt noch.
Ich suchte nach dem orangen Fleck an der Spitze des Pélotons. Da! Da war Eric. Vielleicht zwei, drei Positionen hinter Capelle. Das rote Bergtrikot von Patrik und Fabians türkises Bärenmarketrikot konnte ich ebenfalls ausmachen. Die beiden schirmten Eric perfekt ab.
„Einer geht raus! Noch 5 Kilometer!“, informierte Malte. Und richtig: Der vorderste Landbouwkrediet-Fahrer nahm das Tempo raus und zog scharf nach rechts. Seine Arbeit für den heutigen Tag war erledigt. Jetzt hatte Capelle noch drei Helfer.

Landbouwkrediet machte ein Höllentempo! Das Feld wurde immer mehr in die Länge gestreckt. Schon mussten einige Fahrer am Ende des Pélotons eine kleine Lücke aufreißen lassen.
„Noch einer! Dreieinhalb Kilometer noch.“, kommentierte Malte pflichtbewusst.
„Wo sind Kupfernagel und Carrara?“, wollte Jan wissen.
Malte bohrte seinen Blick in den Monitor: „Sind mit dabei.“
Es würde das erwartete harte Finish werden.
„Noch drei Kilometer, Eric. Du machst das gut, mein Junge! Genau so weitermachen!“, sprach Jan ins Mikro.
„Jetzt hat er nur noch einen Helfer!“, bemerkte Malte zwei Kilometer vor dem Ziel.
„Wer ist es? Timochine?“, wollte Jan wissen.
„Ja.“, antwortete Malte.
„Der wird mal ein Guter. Baujahr `80.“, kommentierte Jan. Unser zweiter Sportlicher Leiter schaffte es immer wieder, mich zu verblüffen.
„Es geht los! Es geht los!“, hörte ich mich schreien.
Timochine zog den Sprint für seinen Kapitän an. Direkt hinter Capelle sprintete nun auch Eric dem Ziel entgegen.
„Kupfernagel macht die Tür zu!“, schrie Jan ins Mikro. Und brüllte gleich hinterher: „Geh links, geh links!“
Mein Herz raste. Ich hatte den Eindruck als verfolgte ich die letzten 300 Meter des Sprints wie in Zeitlupe. Timochine zog plötzlich scharf nach links und gab Capelle den Weg frei. Rechts hinter dem Belgier zog Stefan Kupfernagel aus dem Windschatten. Eric blieb direkt hinter Capelle. Jetzt zogen zwei andere Fahrer links neben Eric. Er war eingeklemmt.
„Scheisse! Ich hab’s doch gesagt!“, schrie Jan.
Doch jetzt lief Capelle auf Hochtouren. Meter für Meter setzte er sich von seinen Konkurrenten ab. Der Einzige, der dem Tempo folgen konnte war Eric.
„So ein Teufelskerl!“, lachte Jan.
Capelle schoß über die Ziellinie. Eric folgte mit einer halben Länge Rückstand. Dahinter huschten Rudi Kemna von Bankgiroloterij und Fernandez Domingo von Colchon Relax über den Strich. Stefan Kupfernagel landete auf Rang Fünf.
„Super, Eric! Richtige Entscheidung! Genau richtig!“, lobte Jan unseren Schützling. Dann sagte er zu uns gewandt: „Wir können nur froh sein, dass Capelle die erste Etappe verpennt hat!“

Ich konnte ihm nur beipflichten.

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Die beiden Sprintasse der Tour of Qatar. Tagessieger Ludovic Capelle (LAN) und Eric Baumann (BAE)

UlleDoper
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Beitrag: # 6732989Beitrag UlleDoper
29.8.2008 - 13:07

Auf gehts BÄRENMARKE...Kämpfen und Siegen :D

Und zuhause wird erstmal die Zicke flachgelegt :lol:

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Beitrag: # 6732991Beitrag Shimano
29.8.2008 - 13:14

UlleDoper hat geschrieben:Auf gehts BÄRENMARKE...Kämpfen und Siegen :D
Und zuhause wird erstmal die Zicke flachgelegt :lol:
Das ist der Plan! 8)

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Fahrschule Fidelius

Beitrag: # 6732997Beitrag Shimano
29.8.2008 - 13:31

Fahrschule Fidelius

26.01.2003

Mein Wecker klingelte. Ich stand auf, ging ins Bad und duschte mir die Müdigkeit aus den Knochen. Heute stand die letzte Etappe der Tour of Qatar über 130 Kilometer auf dem Programm. Nachdem ich mich angezogen hatte, startete ich meinen Rechner und kontrollierte meine E-Mails. Nichts Wichtiges dabei. Ich führte mir noch einmal das Gesamtklassement zu Gemüte. Eric hatte einen Vorsprung von 23 Sekunden auf Ludovic Capelle auf die letzte Etappe gerettet. Das hieß, dass Capelle noch nicht einmal mit einem Sieg und 20 Sekunden Zeitgutschrift würde gewinnen können. Er müsste zusätzlich mindestens eine der zwei Sprintwertungen gewinnen, um überhaupt noch eine theoretische Chance zu haben. Auf Rang Drei lag Rudi Kemna von Bankgiroloterij mit 45 Sekunden Rückstand. Keine Gefahr für Eric. Wir hatten gestern, nachdem Jan mit Johann telefoniert hatte, mit den Fahrern die heutige Taktik besprochen. Am besten eine Gruppe Ausreißer gehen lassen, die die Sprintwertungen bei Kilometer 41 und 67 für sich entscheidet und dann das Feld zusammenführen, so dass es wiederum zu einem Massensprint kommt. Wenn wir dies erreichten, dann war uns der erste Rundfahrtsieg der Saison nicht mehr zu nehmen.

„Hier, heute fährst Du.“, sagte Jan und reichte mir einen Autoschlüssel.
Ich bekam den arabischen Mokka in die falsche Röhre und hustete geistesgegenwärtig in meine Serviette. „Äh, was?“, keuchte ich.
„Du fährst heute.“, wiederholte Jan. „Kannst Dich auch mal nützlich machen.“
Was sollte das jetzt heissen? „Ich… ich bin kein wirklich guter Autofahrer.“, begann ich. „In Hamburg habe ich seit mehr als drei Jahren nur öffentliche Verkehrsmittel genutzt und ich bin schon ins Schwitzen gekommen, als ich meine Sachen nach Thalfang fahren musste. Nene, lass mal!“
Jan grinste sadistisch: „Keine Chance, Siggi! Befehl vom Chef. Er meint, dass Du ein bisschen Flexibilität in Deinem neuen Job an den Tag legen solltest. Schaden wird es Dir mit Sicherheit nicht, schließlich wird das nicht die letzte Rundfahrt sein, bei der Du das Team begleitest.“
Ich schluckte schwer.
„Keine Angst!“, beruhigte mich Jan. „Im Tross mitzufahren ist einfacher als rückwärts einparken. Außerdem sind ja Malte und ich dabei.“
Trotz nur eines arabischen Mokkas, den ich sogar zur Hälfte wieder ausgespuckt hatte, fühlte ich mich an den Tag der ersten Etappe erinnert. Mein Kreislauf! Jan hatte mich noch nie rückwärts einparken sehen!

So schlimm, wie ich es mir ausgemalt hatte, war es dann doch nicht. Zwar hatte ich auf den ersten zwanzig Kilometern derart schweißnasse Hände, dass ich mehrmals fürchtete, vom Lenker abzurutschen, aber mit der Zeit wurde ich immer ruhiger. Mit ungefähr 40 Stundenkilometern tuckerten wir im Tross dahin. Ich pustete mir wiederholt die Handflächen trocken.
Jan saß auf dem Beifahrerplatz und blickte auf den Monitor. „Alles ruhig. Keine Angriffe bis jetzt und nur noch fünfzehn Kilometer bis zur ersten Sprintwertung. Die sollen bloß auf den Capelle aufpassen!“, sprach er mehr zu sich selbst als an uns gerichtet.
Das Feld durchfuhr gerade einen Vorort Dohas. Auch ich riskierte jetzt mal einen Blick auf den Monitor. Ein geschlossenes, breites Feld. Gemütliches Tempo. Warum ging da keiner weg?

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Das Fahrerfeld der Tour of Qatar fährt der ersten Sprintwertung der letzten Etappe entgegen

„Endlich! Da! Jetzt versuchen Sie es.“, rief Malte plötzlich.
Ich konnte nicht auf den Monitor gucken, da sich gerade ein LA Pécol - Fahrer auf der Suche nach seinem Teamwagen durch den Tross schlängelte. Mein Vordermann bremste. „Kommen sie weg? Wer ist es?“, fragte ich und trat ebenfalls auf die Bremse.
„Rudi Kemna ist dabei.“, sagte Jan. „Na, wenn der sich mal nicht verkalkuliert. Eine Gefahr für Eric ist er auch dann nicht, wenn er beide Zwischensprints und den Zielsprint gewinnen sollte. Das wären 32 Sekunden, er braucht aber 45. Allerdings würde er damit an Capelle vorbeiziehen.“
„Die anderen Drei sind Elmiger von Phonak, Obst von Wiesenhof und Agnolutto von AG2R.“, informierte uns Malte.
Jan fummelte sein Mikro zurecht. „Na dann an die Arbeit!“, sagte er.

Unser junges Team verrichtete auf den folgenden 70 Kilometern einen Super-Job. Sie führten gemeinsam mit Capelles Landbouwkrediet-Team das Péloton an und ließen die Ausreißer weiter vorne fahren, ohne sie über die Zwei-Minuten-Grenze wegkommen zu lassen. Das war es wohl, was Johann im gestrigen Telefonat als „Kontrollieren des Rennens“ bezeichnet hatte.
Jan gab immer wieder Anweisungen an unsere Fahrer. Seine ruhige und feste Stimme ließ mich dem Rest der Etappe zuversichtlich entgegensehen und mit Sicherheit half sie auch dem einen oder anderen Jungspund im Team Bärenmarke über die Nervosität hinweg.

Wie erwartet sicherte sich Rudi Kemna die beiden Zwischensprints. Viel nützen würde es ihm allerdings nicht, denn mittlerweile, da nur noch 30 Kilometer zu fahren waren, rauschte das Péloton immer näher. Schon war der Vorsprung auf unter eine Minute gesunken. Ich traute mich mittlerweile immer öfter, einen Blick auf den Monitor zu werfen. Da war das Orange Trikot von Eric und dahinter, das musste Capelle sein. Würden wir wieder ein Duell der beiden erleben?
„Achtung! Pass auf!“, schrie Jan plötzlich.
Blitzartig richtete ich meinen Blick auf die Straße. Direkt vor uns war es zu einem Massensturz gekommen. Ich bremste und ein Adrenalinstoß durchfuhr meinen Körper. War ja klar, ausgerechnet mir musste das passieren.
„Stehen alle wieder auf. Ist wohl keiner verletzt. Unsere Jungs waren alle weiter vorne. Alles in Ordnung.“, kommentierte Malte die Situation.
„Fahr an der Gruppe vorbei.“, wies mich Jan an und fügte hinzu: „Die können eh nicht mehr zum Feld aufschließen, dafür ist das Tempo vorne jetzt zu hoch.“

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Ein Massensturz 25 Kilometer vor dem Ziel – alle Fahrer können das Rennen fortsetzen

Das „Auf-den-Monitor-Schielen“ ließ ich jetzt schön bleiben und konzentrierte mich darauf, uns dem Tempo des Trosses anzupassen.
„Die Ausreißer sind gestellt.“, bemerkte Malte nach einer Weile. Ich war ihm dankbar, dass er laut zu denken pflegte. Das Fahren strengte auf Dauer doch etwas an. Auf dem Rücksitz hatte es mir mit Ausnahme des ersten Tages weitaus besser gefallen.
„Bleibt in der Führung!“, bellte Jan unseren Fahrern zu. „Noch 12 Kilometer. Ihr habt alles unter Kontrolle.“
Jetzt konnte uns nur noch eine Reifenpanne oder ein erneuter Sturz im Feld aufhalten. Doch dazu sollte es nicht kommen. Mittlerweile fuhren wir schon durch die Straßen Dohas. Noch 6 Kilometer bis zum Ziel. Jan wurde jetzt hektisch.
„Macht Dampf solange ihr könnt!“, rief er ins Mikro. Dann wandte er sich an den Mann in Orange: „Eric, behalte Capelle im Visier!“
„Was passiert? Malte, erzähl!“, rief ich. Fahrer sein war eine Qual!
„Unsere Jungs machen Tempo, damit Capelle nicht noch einen Fluchtversuch unternehmen kann. Eric liegt an dritter Position. Noch drei Kilometer.“, sagte Malte.
Das Péloton fuhr durch eine letzte langgezogene Kurve auf die breite Zielgerade. Immer noch lagen die Bärenmarke-Fahrer an der Spitze. Doch jetzt kamen immer mehr Fahrer aus dem Windschatten und versuchten, ihre Sprinter in günstige Positionen zu bringen. Der letzte Kilometer brach an.
„Capelle startet!“, schrie Jan. „Eric, noch nicht, noch nicht! Es ist zu früh!“
Ich wagte einen kurzen Blick auf das kleine Display. Capelle war extrem früh in den Sprint gegangen und setzte sich zügig von seiner Konkurrenz ab. Da! Jetzt gingen einige Fahrer hinterher.
Nun kam auch Jans Befehl: „Jetzt, Eric! Los!“
Wir waren mittlerweile zur Seite gewinkt worden und ich konnte den Wagen abstellen. Endlich konnte ich mich dem Monitor zuwenden.
Capelles Vorsprung schmolz dahin. Er hatte seine Kräfte wohl überschätzt. Jetzt überholten ihn zwei andere Fahrer und auch Eric zog vor der Ziellinie noch an ihm vorbei.
„Perfekt!“, rief Jan.
Matteo Carrara von De Nardi sicherte sich den Sieg mit einem hauchdünnen Vorsprung vor David Fernandez Domingo von Colchon Relax. Vor dem völlig entkräfteten Ludovic Capelle fuhr Eric als Dritter über die Ziellinie.
Ich konnte deutlich Erics „JAAAA!“ durch Jans Kopfhörer hören. Auch wir brachen jetzt in Jubelstürme aus.

Wir hatten es geschafft! Die erste Rundfahrt des Jahres in Division 2 gehörte Team Bärenmarke!

Bild
Carrara (DNC) siegt auf der letzten Etappe der Tour of Qatar vor Fernandez Domingo (COL) und dem Gewinner Baumann (BAE) –
Im Hintergrund der geschlagene Capelle (LAN)

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Beitrag: # 6733007Beitrag Challenger
29.8.2008 - 14:26

sauber glückwunsch. super ergebniss, klasse story

bin gespannt was als nächstes aufm kalender steht 8)
José Maria Jimenez, du warst einfach der beste !!!!!

UlleDoper
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Beitrag: # 6733071Beitrag UlleDoper
29.8.2008 - 17:05

ein gelungener Saisonstart...weiter so

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Beitrag: # 6733585Beitrag Shimano
1.9.2008 - 12:05

UlleDoper hat geschrieben:ein gelungener Saisonstart...weiter so
Challenger hat geschrieben:sauber glückwunsch. super ergebniss, klasse story
Danke Euch!
Challenger hat geschrieben:bin gespannt was als nächstes aufm kalender steht
Das weiss noch nicht mal Siggi so genau.

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Dumm gelaufen

Beitrag: # 6733586Beitrag Shimano
1.9.2008 - 12:22

Dumm gelaufen

27.01.2003

Das Telefon klingelte. Ich tastete den Boden neben meinem Bett ab, bekam den Hörer zu fassen und drehte mich auf den Rücken.
Ich räusperte mich. „Rauch.“, würgte ich hervor.
„Alles Gute zum Geburtstag, Siggi! Wie geht’s Dir?“, fragte eine herzliche, weibliche Stimme.
Ich war verwirrt. Wer war das?
„Anna?“, krächzte ich in die Leitung. „Bist Du das?“
Eine Pause entstand. Mist! Das war nicht Anna! Natürlich war es nicht Anna!
„Nein, hier ist Julia.“, sagte die Stimme jetzt mit förmlichem Unterton. „Johann lässt fragen, ob Du heute noch kurz ins Büro kommst. Er ist in einer Viertelstunde wieder hier und würde Dich gerne noch sehen.“
Oh Mann. Ich Idiot. Na klar! Johann hatte meinen Geburtstag natürlich nicht vergessen.
Ich räusperte mich noch einmal: „Hallo Julia, entschuldige, aber Du hast mich gerade geweckt. Wie spät ist es denn?“
„Es ist 16.30 Uhr. Kommst Du nun noch rein oder nicht?“, fragte sie jetzt ziemlich ungeduldig.
„Jaja, ich bin in einer halben Stunde da. Bis gleich!“, sagte ich und fügte hinzu: „Du, Julia…“
Aber ich hörte nur noch: „OK, bis gleich!“
Sie hatte aufgelegt.

Ich Trottel! In meinem Dämmerzustand hätte ich mir außer Anna kein anderes weibliches Wesen vorstellen können, das mich an meinen Geburtstag anruft. Vielleicht noch meine Mutter oder irgendeine Tante, aber deren Stimme hätte ich dann auch sofort erkannt. Ich war einfach noch zu platt. Gerade mal drei Stunden hatte ich geschlafen. Jan und ich waren gestern direkt nach der Siegerehrung zum Flughafen gefahren und heute Morgen in Frankfurt angekommen. Um halb eins waren wir dann endlich in Thalfang. Erst hatte ich noch überlegt, ganz kurz beim Team Bärenmarke vorbeizuschauen, aber ich wollte niemanden mit meiner Erscheinung erschrecken und entschied mich für den sofortigen Schönheitsschlaf.

Ich begab mich in die Vertikale, reckte mich und rieb mir die Augen. Na los! Ich setzte einen Kaffee auf und begab mich ins Bad. Ich sah in den Spiegel. Ohne Zweifel hatte der Typ, den ich da im Spiegel sah, schon mal besser ausgesehen. Ich hatte einen leichten Sonnenbrand im Gesicht. Unter meinem rechten Auge war der blaue Bluterguss zu sehen, den ich Jans Freude über Erics Sieg auf der ersten Dakar-Etappe zu verdanken hatte. Meine Haare standen wild durcheinander und der Bart ging auf keinen Fall mehr als Drei-Tage-Version durch. Ich versuchte, meine verklebten Augen etwas weiter zu öffnen.
„Hmmm, für 32 siehst Du noch ganz manierlich aus.“, log ich mein Spiegelbild an.

Nach einer heißen Dusche und einer wohltuenden Rasur trank ich meinen Kaffee, las meine E-Mails und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Das hatte ich vorhin bei meiner Ankunft nicht mehr geschafft. Meine Eltern: Sie würden heute Abend noch einmal anrufen. Tante Monika: Alles Liebe und wann sehen wir uns mal wieder und Dein neuer Job und das wurde ja mal Zeit und Du bist immer noch nicht verheiratet und willst Du keine Kinder und warum ich nicht mal anrufe. „Leck mich!“, murmelte ich. Dann noch ein Anruf von Paule aus Hamburg: Glückwunsch und ob ich nicht am kommenden Wochenende in Hamburg sei. Wir könnten mal wieder um die Häuser ziehen. So richtig feiern halt. Ein leichter Kopfschmerz durchfuhr mich bei dem Gedanken an eine Sause mit Paule und Konsorten. „Nene, lass mal stecken.“, antwortete ich Paules Stimme und löschte alle eingegangenen Anrufe.

Im Büro angekommen, sammelte sich sofort eine ganze Schar von Leuten um mich herum. Johann gratulierte mir als Erster. Er nahm mich in den Arm und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, Alter! Gute Arbeit habt Ihr geleistet. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich über diesen Auftakt freue. Ich hoffe, Dir geht’s genauso.“
„Auch wenn man es mir nicht ansieht. Ich freue mich auch! Danke, Alter!“, entgegnete ich und erwiderte seine Umarmung.
Dann gratulierte mir Julia. Es sollte wohl herzlich wirken, kam aber etwas verkrampft in die Wertung. Eine zu kurze Umarmung und ein flüchtiges Bussi auf die Wange war bis auf den kurzen Hauch Chanel N°5 alles, was ich von ihr bekam. Ich war ja auch selber schuld, ich Honk! Wie konnte ich allen Ernstes denken, dass Anna mich nach zwei Jahren Funkstille zum Geburtstag anruft! Das musste ich wohl oder übel zeitnah gerade rücken, wenn mein „Kaffee-Trinken-Gehen“-Plan noch aufgehen sollte.
Nachdem mir alle Anwesenden gratuliert hatten, aßen wir ein Stück Kuchen und ich musste meine Erlebnisse der Katar-Rundfahrt zum Besten geben. Für besondere Erheiterung sorgte dabei meine schonungslose Offenheit in der „Arabischer-Mokka-Affäre“. Gegen 18.00 löste sich die Bärenmarke-Gesellschaft langsam auf und meine Kollegen verabschiedeten sich in den Feierabend. Julia war eine der ersten, die das Büro verließen. Ach scheißegal, dachte ich. Sollte sie wirklich verletzt oder vor den Kopf gestoßen sein, dass ich sie am Telefon mit einer anderen Frau verwechselt hatte, dann war das kindisch! Andererseits wäre es auch ziemlich süß.
„Siggi, komm mal mit.“, riss mich Johann aus meinen Gedanken.

Wir gingen in sein Büro.
„Setz Dich.“, sagte Johann. Er schob einige Papiere zur Seite und kramte seinen Kalender hervor. „Wir müssen mal die nächsten ein, zwei Wochen durchgehen, weil ich morgen und übermorgen nicht hier sein werde.“, begann er. „Eigentlich wollte ich Dich zu unserem ersten Einzelrennen der Saison, dem GP des Côtes Etrusques, ja mitnehmen, aber durch unseren Erfolg in Katar hast Du Dir jede Menge Arbeit eingebrockt, mein Lieber!“, lachte er und fuhr fort: „Es gibt vier oder fünf Anfragen für Interviews mit Eric. Dann hat dieser Redakteur vom Trierer Volksfreund noch einmal angerufen. Schneider oder so. Er möchte mit Dir über die Durchführbarkeit eines Projekts sprechen. Soll sich wohl um eine Art regelmäßige Berichterstattung handeln. Und außerdem möchtest Du Dich bitte spätestens morgen bei einer Frau DeLonghi von der Allgäuer Alpenmilch GmbH melden. Sie ist dort für „Marketing und interne Kommunikation“ verantwortlich. Soweit ich weiß, geht es um eine Art Broschüre für das Sponsoring der AA.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das waren mir eindeutig zu viele Informationen auf einmal. Und dann noch in meinem halbkomatösen Zustand. „Aha.“, sagte ich nur.
„Ich würde vorschlagen, dass Du jetzt erst einmal nach Hause gehst und Dich richtig ausschläfst. Sobald Du Dir morgen ein Bild von dem Aufwand gemacht hast, der Dich in den nächsten Tagen erwartet, ruf mich kurz an und sag mir Bescheid. Ich muss Vorbereitungen für den GP am 02.02. und die Algarve-Volta vom 05.-09.02 treffen. Spätestens am Donnerstag will ich die Planungen abgeschlossen haben. Dann ist ja auch unser Qatar-Team wieder hier.“, fuhr Jan mit seinem Monolog fort. „Machen wir’s so?“, fragte er abschließend.
„So machen wir’s.“, sagte ich.

Nachdem ich wieder in meiner Wohnung war, telefonierte ich mit meinen Eltern und Tante Monika. Paule rief ich vorerst nicht zurück. Ich wollte mir die Möglichkeit einer Hamburger Kneipentour vorerst noch offenhalten. Vielleicht war ich ja zum Wochenende doch in der Stimmung ein wenig zu feiern. Bei der Gelegenheit könnte ich gleich noch ein paar Sachen aus meiner Hamburger Wohnung holen. Mal sehen. Ich machte mir noch ein paar Nudeln und setzte mich vor den Fernseher. Nach nur fünf Minuten fielen mir schon die Augen zu. Ich quälte mich hoch. Ab in die Falle!

Mit vollem Magen ins Bett zu gehen, war ein Fehler, denn ich träumte einen ziemlichen Dünnsinn:
Ich saß auf dem Rücksitz unseres Teamfahrzeugs und beobachtete den Monitor. Dort stand „Sigismund Rauch. 27.01.1971.“ Ich wollte gerade Jan oder Malte fragen, warum anstatt der Fahrer mein Name und Geburtsdatum auf dem Schirm zu sehen waren, als ich merkte, dass keiner der Beiden im Auto saß. Stattdessen saß Anna am Steuer und blickte mich durch den Rückspiegel an. Ich blickte nach rechts. Dort auf dem Beifahrersitz saß Julia Winterkorn. Sie hatte ein Handy in der Hand und wählte gerade anscheinend eine Nummer. Plötzlich klingelte es. Anna griff in die Mittelkonsole und fingerte ihr Handy hervor. „Hallo?“, sagte sie.
„Hallo. Ist da nicht Sigismund Rauch? Ich wollte ihm zum Geburtstag gratulieren.“, hörte ich Julia sagen.
Anna lachte: „Nein, Siggi ist seit zwei Jahren nicht mehr da. Sie möchten sicher wissen, warum. Ich werde es Ihnen sagen.“
„Halt! Das geht nur uns beide was an!“, rief ich und beugte mich nach vorne, um Anna das Telefon wegzunehmen.
„Jaaaa!“, schrie Jan und riss vor Freude die Arme hoch. Seinen Ellenbogen kriegte ich genau unter das rechte Auge. „Super, Eric!“
Ich flog zurück auf den Rücksitz. Auf dem Beifahrerplatz saß nun Jan Fidelius und stierte auf den Monitor.
Ich guckte nun ebenfalls auf den Schirm. Dort standen Anna und Julia Arm in Arm und winkten in die Kamera.
Auf dem Fahrersitz saß Johann und drehte sich zu mir um: „Dumm gelaufen, Alter! Schlaf Dich erst mal aus!“

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Seelenstriptease

Beitrag: # 6733743Beitrag Shimano
2.9.2008 - 11:54

Seelenstriptease

01.02.2003

Wir saßen in der Washington Bar und tranken Becks. Die laute Musik verhinderte eine normale Unterhaltung, aber Paule und Matthias waren sowieso schon zu voll, um einer echten Konversation zu folgen. Nur Sabine – Paules Schwester – hielt sich ebenso wie ich mit dem Vernichten von Alkohol an diesem Abend zurück. Bei mir hatte es berufliche Gründe. Ich musste schon morgen wieder in Thalfang sein, da wir im Bärenmarkenhaus - so hatten wir mittlerweile unsere Arbeitsstätte getauft - gemeinsam den GP des Côtes Etrusques verfolgen wollten.

Johann und Jan waren bereits vorgestern in die Toskana abgereist. Sie planten, nach diesem Einzelrennen gleich nach Portugal weiterzureisen, wo ab dem 05.02. die Algarve-Rundfahrt stattfand. Ich konnte bei diesen beiden Veranstaltungen leider nicht mitreisen, obwohl der Gedanke an drei, vier Tage Portugal mich extrem reizte. Ich hatte in Thalfang einfach viel zu viel zu tun. Mit Fred Schneider, dem Redakteur des Trierer Volksfreund hatte ich vereinbart, dass wir im Zwei-Wochen-Rhythmus jeweils einen Beitrag zum aktuellen Stand beim Team Bärenmarke bringen würden. Eine Art Bärenmarke-Tagebuch. Wir würden uns nächste Woche noch einmal treffen, um das endgültige Konzept zu besprechen.
Mit Frau DeLonghi, einer PR Managerin der Allgäuer Alpenmilch, hatte ich mich ebenfalls getroffen. Diese Frau war einfach nur skurril. Sie mochte etwa Anfang vierzig sein, war schlank und groß und hatte einen unfassbaren Vorbau. Das ging auf keinen Fall mit rechten Dingen zu! Ihr Make-Up musste entweder permanent sein oder sie entfernte es jeden Abend mit einem Spachtel. Sie hatte vermutlich einen privaten Kooperationsvertrag mit einem Kosmetikhersteller abgeschlossen. Ich erwischte mich mehr als einmal bei dem Gedanken daran, was diese Frau wohl früher in ihrer beruflichen Laufbahn so „getrieben“ hatte. Unser Gespräch allerdings war produktiv. Sie plante den Sponsoring-Teil der Firmenbroschüre und ich händigte ihr alle benötigten Unterlagen für dieses Unterfangen aus. Auch sie wollte nächste Woche nochmals auf mich zukommen.
Die meiste Arbeit aber hatte ich mit dem Koordinieren der gewünschten Interviews mit Eric Baumann. Hierzu musste ich mit Julia, die ja die Teamkoordination leitete, die möglichen Termine durchsprechen. Leider war Julia irgendwie immer noch eingeschnappt wegen des Geburtstagsanrufs und wohl unter anderem deshalb war sie nicht wirklich kooperativ. Es war mir allerdings zu blöd, mich für mein Verhalten zu entschuldigen und einer Frau, die ich seit gut drei Wochen kannte, zu erklären, warum ich sie am Telefon für eine andere gehalten hatte. Also machte ich auf gute Laune und versuchte, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Letztendlich schafften wir es, die Interviews zu koordinieren und alle waren zufrieden.

Ich war heute Mittag mit dem Zug nach Hamburg gekommen, war in meine Wohnung gefahren und hatte dort einige Sachen zusammengepackt, die ich beim „Umzug“ vergessen hatte. Außerdem hatte ich meinen AB abgehört und diverse Leute zurückgerufen, die von meiner neuen Tätigkeit noch nichts wussten. Dann war ich zu meinem Lieblingstürken gegangen und hatte einen riesigen Dönerteller verspeist. Nach einem kleinen Verdauungsspaziergang kehrte ich in meine Wohnung zurück und wartete auf Paule, Matthias und Sabine. Irgendwie fühlte ich mich hier nicht mehr zu Hause. Die halbleere Wohnung und Erinnerungen an weniger gute Zeiten machten mich trübsinnig und ich war kurz davor, meine Tasche zu nehmen und zum Bahnhof zu fahren. Dann jedoch klingelte es und mein Besuch kam erst mal hoch. Paule war eigentlich nicht wirklich ein guter Freund, eher ein netter ehemaliger Arbeitskollege vom NDR, mit dem ich früher öfter zu St. Pauli-Spielen gegangen war und das ein oder andere Becks auf der Reeperbahn geschlürft hatte. Dennoch hielten wir nach wie vor Kontakt und sahen uns mindestens alle zwei Monate mal. Im Winter hatten wir auch gelegentlich Tennis gespielt. Seine Schwester Sabine studierte derzeit noch. Philosophie und Geschichte auf Magister oder so. Jedenfalls irgendeine brotlose Kunst. Sie war klein, hatte lange, blonde Haare mit einem leichten Rotstich und ein nettes, freches Gesicht. Lediglich das Kassengestell auf ihrer Nase hätte einen Typberater zur Verzweiflung gebracht. Der Dritte im Bunde war Matthias, ein winziger, untersetzter Zwerg mit hochrotem Gesicht und speckiger Haut, der gerne und viel lachte. Am ehesten konnte man ihn als außen pfui, innen hui beschreiben. Matthias arbeitete in der gleichen Redaktion wie Anna beim NDR und er war eine echte Tratschtante. Anscheinend hatte Paule ihn vorher gebrieft, denn Matthias erzählte mir ausführlich alles, was er von Anna zu berichten wusste. Sie hatte wohl einen neuen Freund, also nicht mehr den fiesen Versicherungsfuzzi, mit dem sie sich nach unserer gemeinsamen Zeit getröstet hatte. Der Neue machte wohl irgendwas mit Sportmarketing. Seitdem sei sie auch wieder lustiger und entspannter, trotzdem immer noch kein Vergleich zu der Zeit, als sie noch mit mir zusammen gewesen sei. Ein schwacher Trost. Ich war deprimiert. Die Wohnung, Anna, Hamburg… All das war nicht mehr mein Leben. Ein neuer Abschnitt hatte begonnen und ich musste mich damit abfinden, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Glücklicherweise drängte uns Sabine irgendwann zum Aufbruch.

„Siggi, alles OK?“, Sabine griff nach meiner Hand.
Die Washington Bar war ein schummriger Laden. Ich blickte sie durch das Halbdunkel an.
„Nein, nichts ist OK.“, antwortete ich und lachte.
Sie lächelte unsicher. „Wollen wir runter zum Hafen? Vielleicht hast Du Lust, ein wenig zu reden?“, fragte sie.
„Auf jeden Fall besser, als hier zu sitzen und kein Wort zu verstehen.“, antwortete ich.
Wir fragten Paule und Matthias, ob sie mitkommen wollten, aber es war mehr eine rhetorische Frage, denn die beiden hatten ihre heutige Endhaltestelle in die Washington Bar verlegt.
„Wir kommen gleich wieder.“, sagte ich und klopfte Paule auf den Rücken.
„Nicht nötig! Lasst Euch ruhig Zeit.“, lallte er und zwinkerte mir zu.
„Bis später!“, krakeelte Matthias.

Der eiskalte Wind, der uns draußen empfing, ging durch Mark und Bein. Gemeinsam liefen wir nebeneinander die Stufen zum Hafen hinunter und kamen dabei am Pudels Club vorbei. Einige Leute saßen auf der Treppe und schnappten frische Luft, einige unterhielten sich und drei Szenetypen in Sportjacken rauchten eine dicke Tüte. Der schwere Geruch des Grases ließ alte Erinnerungen an gloriose Pudel-Club-Abende aufkommen. Ich atmete tief ein und schloss die Augen.
Sabine beobachtete mich. „Willst Du auch was rauchen, Siggi? Ich habe hier noch einen Krümel.“, sagte sie und fingerte in ihrer Jackentasche herum.
„Nein, danke!“, entgegnete ich und lächelte sie an. „Ich bin sowieso schon viel zu melancholisch heute Abend.“
Wir wandten uns nach rechts und hielten auf den Fischmarkt zu.
„Wieso eigentlich, Siggi?“, fragte Sabine und hakte sich bei mir ein. Sie blickte zu mir hoch: „Du hast einen neuen Job, bei dem Du reisen kannst und mit Sicherheit mehr verdienst als ein freier Redakteur für Lokalzeitungen. Dein Leben hat sich zum Positiven gewendet und Du bist hier, um Deinen Geburtstag nachzufeiern, aber stattdessen bläst Du Trübsal. Ist es wegen Anna?“
„Ganz ehrlich, Sabine. Ich weiß es nicht.“, entgegnete ich und blieb stehen. „Ich glaube ich bin einfach hier nicht mehr zu Hause. Vorhin in meiner Wohnung hatte ich schon dieses Gefühl und als wir eben beim Pudels vorbeigegangen sind, da ist es mir irgendwie noch klarer geworden. Meine Zeit hier in Hamburg ist vorbei. Genauso beendet wie meine Beziehung mit Anna. Das ist mir erst durch Johann klargeworden und immer, wenn ich jetzt nach Hamburg zurückkomme, dann bin ich traurig, dass ich die Vergangenheit nicht zurückholen kann und alles anders machen kann anstatt froh, dankbar und guter Dinge zu sein, dass ich die Chance auf einen neuen Anfang bekommen habe. Bescheuert, oder?“
„Gar nicht bescheuert, Siggi!“, sagte Sabine und drückte meine Hand. „Du brauchst nur etwas mehr Abstand und Zeit. Irgendwann wirst Du Dich der schönen Dinge erinnern und nicht alles auf Deine gescheiterte Beziehung mit Anna reduzieren. Gib Dir einfach ein bisschen mehr Zeit. Genieße Dein neues Leben! Du gefällst mir nämlich noch besser, wenn Du gute Laune hast.“ Sie machte eine Pause, dann sah sie mir in die Augen und sagte: „Du kannst nur der alte Siggi werden, wenn Du bereit für den neuen Siggi bist.“
Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Ich fühlte mich irgendwie nackt nach diesem ganzen Seelenstriptease. „Vielleicht hast Du recht, Sabine!“, sagte ich. „Vielleicht hast Du recht.“
Etwas hilflos und unbeholfen standen wir uns gegenüber.
„Und jetzt?“, durchbrach Sabine die Stille.
„Jetzt geht es mir viel besser!“, sagte ich. „Danke!“ Ich nahm sie in den Arm.
Wir drückten uns in der Kälte fest aneinander. So standen wir etwa eine Minute. Ich genoss die Stille und Sabines Wärme.
„Komm, wir gehen zurück.“, sagte ich schließlich.

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Beitrag: # 6733745Beitrag UlleDoper
2.9.2008 - 12:08

Alter Schwede...wenn du nicht bald ein buch schreibst dann weiß ich es auch nicht! Weiter so :P

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Beitrag: # 6733787Beitrag Challenger
2.9.2008 - 14:45

gogo geile story, auch mal ne tüte reinzihen 8)
José Maria Jimenez, du warst einfach der beste !!!!!

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Beitrag: # 6733793Beitrag Österreicher
2.9.2008 - 15:15

Ich wette du schummelst, aber wenn du mir sagst aus welchem Buch du abschreibst, dann vergess ich die ganze Sache! ;)

Nein, Scherz bei Seite. Der Dialog zwischen Siggi und Sabine war echt der Hammer, Hut ab.

Und die Textpassage mit dem Schlag unters Auge, nicht der Traum, das in "Real-Life", mit dem benebelt sein, war echt zum Brüllen!

Bitte weiter so! Kann was ganz Großes werden.
DanyHilarious
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Beitrag: # 6733828Beitrag Shimano
2.9.2008 - 17:38

UlleDoper hat geschrieben:Alter Schwede...wenn du nicht bald ein buch schreibst dann weiß ich es auch nicht! Weiter so :P
Das wäre gar nicht so schlecht. Aber erst einmal übe ich hier noch ein bisschen.
Challenger hat geschrieben:gogo geile story, auch mal ne tüte reinzihen
Erstmal muss Siggi wieder zu sich selber finden. Außerdem hat wohl Doping in AARs nichts zu suchen. ;)
Österreicher hat geschrieben:Ich wette du schummelst, aber wenn du mir sagst aus welchem Buch du abschreibst, dann vergess ich die ganze Sache!

Nein, Scherz bei Seite. Der Dialog zwischen Siggi und Sabine war echt der Hammer, Hut ab.

Und die Textpassage mit dem Schlag unters Auge, nicht der Traum, das in "Real-Life", mit dem benebelt sein, war echt zum Brüllen!

Bitte weiter so! Kann was ganz Großes werden.
Danke Dir! Waren bis jetzt auch zwei meiner Lieblingsstellen in dem AAR.

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Bärenmarke Lichtspiele presents: GP des Côtes Etrusques

Beitrag: # 6733846Beitrag Shimano
2.9.2008 - 18:10

Bärenmarke Lichtspiele presents: GP des Côtes Etrusques

02.02.2003

Es war zwar Sonntag, aber auf dem Bärenmarke-Gelände steppte trotzdem der Bär. Wir hatten so viele Mitarbeiter wie möglich zusammengetrommelt, um den GP des Côtes Etrusques gemeinsam zu verfolgen. Sogar der alte Winterkorn war gekommen. Nervös stand er im Konferenzraum, den wir in eine Art Mini-Kino umgewandelt hatten und starrte immer wieder auf seine Uhr.
„Herr Rauch! Ab wann übertragen die Italiener noch mal?“, fragte er mich jetzt zum dritten Mal.
„Geht gleich los.“, gab ich zurück und fügte hinzu: „Wir sind hier auch gleich so weit. Nur noch den Ton müssen wir anschließen. Sie könnten mal den Anderen Bescheid geben, dass sie reinkommen können.“
Froh, dass er jetzt eine Aufgabe hatte, stapfte unser Geschäftsführer aus dem Raum.
„OK, jetzt müsste alles funktionieren.“, sagte Malte. Auch er war in Thalfang geblieben.
Johann praktizierte von Beginn der Saison an eine Art Rotation – und zwar nicht nur bei den Fahrern, sondern auch beim mitreisenden Personal. Ich hatte ihn deswegen in Anspielung auf den Bayern-Trainer Hitzfeld scherzhaft schon „Ottmar“ getauft.

Langsam füllte sich der Raum. Sogar drei unserer Fahrer waren am heutigen Tag hier. Stefan Schumacher, Markus Fothen und Markus Knöpfle waren über das Wochenende nicht nach Hause gefahren, sondern schoben einige Extraschichten Training. Sehr lobenswert! Da kam auch Martin Neuner, unser Chefscout für Nachwuchs und Material, sozusagen Maltes direkter Vorgesetzter. Er war ein brillanter Tüftler und hatte ein spezielles Auge für angehende Talente. Eine solch seltene Kombination bekam man eigentlich so gut wie nie zu Gesicht und daher konnte ich Johanns Freude nachvollziehen, als es ihm gelungen war, Martin mit ins Boot zu holen. Er lief immer mit einem kleinen Notizbüchlein durch die Gegend, in das er ständig irgendwelche nicht entzifferbaren Zeilen hineinschrieb. Um noch einen Fußballtrainer-Vergleich zu strapazieren: Er war sozusagen der „Ewald Lienen“ unter den Talentscouts. Jetzt betrat auch Julia den Raum. Sie hatte heute ihrem Office-Dresscode eine Absage erteilt und war ziemlich „casual“ angezogen. Sie trug Jeans, Turnschuhe und einen grauen Kapuzensweater, der ihre strahlend grünen Augen noch mehr leuchten ließ, als sie dies ohnehin schon taten. Sportlich sexy! Gerne wäre ich so mit ihr eine Runde durch den Hunsrück spaziert. Nun ja, kommt Zeit, kommt Rat. Zumindest erhielt ich ein kleines, aufmerksames Lächeln von ihr. Ich gab ihr mein breitestes Grinsen zurück.

Ungefähr 20 Leute hatten sich mittlerweile eingefunden und nahmen auf den Stühlen Platz, die wir in drei Reihen vor der Leinwand platziert hatten. Der alte Winterkorn gab mir ein Zeichen, dass ich bitte den Beamer noch nicht einschalte und marschierte dann vor die Leinwand. Er hob die Hände, um sich Ruhe zu erbitten und begrüßte dann alle Anwesenden.

„Liebes Bärenmarke-Team, zunächst einmal freue ich mich, dass Sie sich heute am heiligen Sonntag so zahlreich hier eingefunden haben. Ganz besonders hervorheben möchte ich, dass Stefan Schumacher, Markus Knöpfle und Markus Fothen ebenfalls hier sind. Ich würde mich freuen, wenn wir das gemeinsame Ansehen der Rennen hier in den Bärenmarke-Räumlichkeiten zu einer Tradition werden lassen. Vielen Dank auch an Herrn Rauch und Herrn Andresen für ihre tatkräftige Unterstützung in technischer Hinsicht. Wenn alles so klappt, wie Herr Rauch mir zugesichert hat, dann genießen wir gleich das letzte Drittel des GP des Côtes Etrusques auf dieser Leinwand. Leider sind wir auf italienischen Kommentar angewiesen, aber wenn die Saison so verläuft wie unser Hauptsponsor und auch ich mir das vorstellen, dann sollten ab nächstem Jahr auch vermehrt deutsche Kommentare aus diesen Lautsprechern kommen.“

Eine Anspielung auf den Aufstieg. Das hatte jeder kapiert. Applaus brandete auf, einige der Anwesenden johlten.

„Lassen Sie mich noch kurz zu den teilnehmenden Fahrern kommen.“, fuhr Winterkorn fort. „Da unser Hauptsponsor bei diesem Rennen eine Platzierung unter den Top 5 wünscht, haben Herr Brauner und Herr Fidelius die bestmögliche Kombination aus Klassikerfahrern und Sprintern gesucht, um in der Toskana erfolgreich zu sein. Heute dabei sind:

Jörg Jaksche
Matthias Kessler
Gerhard Trampusch
René Haselbacher
Grégory Rast
Andreas Klier
Björn Schröder
Johann Tschopp

Wünschen wir unseren Fahrern das Beste und drücken die Daumen! Ich wünsche Ihnen viel Spaß! Herr Rauch, Film ab!“

‚Nicht schlecht, der alte Winterkorn!‘, dachte ich und schaltete den Beamer ein.
Malte drehte an der Lautstärke der Anlage herum. Ein italienisches Stakkato an Wörtern gurgelte aus den Lautsprechern. Sekunden später hatten wir auch die winterliche Toskana auf die Wand projiziert. So wie es aussah, wurden wir von Pleiten, Pech und Pannen verschont. Sehr gut! Ich atmete tief durch.

Die ersten zwei Drittel des Rennens waren gelaufen. Das Péloton fuhr geschlossen und ziemlich schnell. Man wollte wohl auf den letzten 70 Kilometern niemanden auf der Ebene ziehen lassen. Wir waren auf jeden Fall in einer interessanten Phase des Rennens eingestiegen, denn gerade begann ein welliger Abschnitt, der unseren Klassikerfahrern im Team mit Sicherheit lag und diverse Ausreißmöglichkeiten bot. Am ersten ernstzunehmenden Hügel machte Team Bärenmarke dann auch gleich Druck. Andreas Klier, Matthias Kessler und Jörg Jaksche setzten sich an die Spitze des Feldes und zogen es durch ihren kraftvollen Antritt in die Länge.

Bild
Team Bärenmarke eröffnet das letzte Drittel des GP des Côtes Etrusques mit Druck am Anstieg

Die Bemühungen im hügeligen Teil der Etappe waren allerdings leider umsonst. Zu hoch war das Tempo der nachführenden Teams, als dass sich einer der Bärenmarke-Tempomacher vom Feld hätte absetzen können. Ich beobachtete Ullrich Winterkorn aus den Augenwinkeln. Er krallte seine Hände in die Oberschenkel und kaute verbissen auf seiner Unterlippe herum. Ich sah zu Julia. Auch sie beobachtete gerade ihren Vater. Die Sorgenfalte auf ihrer Stirn kannte ich bereits. ‚Bleib cool, Baby, wir schaukeln das schon!‘, dachte ich und widmete mich wieder der Leinwand.

Nachdem der hügelige Part der Strecke absolviert war, hatte sich immer noch kein Fahrer vom Feld absetzen können. Alles lief auf einen Massensprint hinaus. Langsam stieg mein Puls wieder, aber das kannte ich ja jetzt schon zur Genüge. Etwa zehn Kilometer vor dem Ziel formierte sich das Bärenmarke-Team erneut als Pacemaker an der Spitze des Feldes. Zu gerne hätte ich jetzt bei Johann und Jan auf dem Rücksitz gesessen. Vereinzelt riefen jetzt Mitarbeiter: „Zieht!“ oder „Hopp, hopp, hopp!“ Die Stimmung war angespannt. Ich warf nochmal einen Blick auf Ullrich Winterkorn. Seine Anzughose war mittlerweile so zerknautscht, dass er sie morgen auf jeden Fall würde bügeln lassen müssen. Meine Augen wanderten weiter zu Julia. Auch die zweite Falte war nun auf ihrer Stirn zu sehen. Allerdings betrachtete sie jetzt nicht ihren Vater, sondern das Geschehen auf der Leinwand. Ich tat es ihr gleich. Die heiße Phase begann.

Noch drei Kilometer. Die Tempoarbeit unseres Teams hatte das Péloton zu einer langen, dünnen Schnur werden lassen. Ich konnte vorne immer noch drei unserer Fahrer ausmachen. Markus Fothen behauptete, es handele sich um René, Andreas und Gerhard. Stefan Schumacher erkannte allerdings auch einige Sprintspezialisten in der Spitzengruppe. „Da ist Poitschke, da ist Carrara und da! Das müsste Capelle sein!“, sagte er.
‚Capelle?‘, dachte ich und musste schlucken. ‚Na toll!‘
Jetzt ging es in den Sprint.
„Poitschke geht!“, rief Markus Knöpfle.
Enrico Poitschke vom Team Wiesenhof zog den Sprint an. Ihm folgten Matteo Carrara und Ludovic Capelle. Jetzt fingen auch zwei Bärenmarke-Trikots an, auf der Leinwand hin- und herzuwippen.
„Das sind Gerhard und René!“, schrie Stefan Schumacher.
Ich hielt die Luft an. Das würde ganz eng werden. Momentan lagen unsere beiden Fahrer vielleicht an siebter und achter Position. Vielleicht noch dreihundert Meter.
Der Konferenzraum war zum Tollhaus geworden. Niemanden hielt es mehr auf dem Sitz. Auch ich schrie mir jetzt die Lunge aus dem Hals.
Auf den letzten hundert Metern entschied sich das Rennen. Franck Renier vom Team Brioches La Boulangère überquerte mit knappem Vorsprung vor Enrico Poitschke vom Team Wiesenhof und Matteo Carrara von DeNardi als Erster die Ziellinie. In buchstäblich letzter Sekunde gelang es René und Gerhard an einer Dreiergruppe vorbeizusprinten, die den Sprint allem Augenschein nach zu früh angezogen hatte und jetzt dem hohen Tempo Tribut zollen musste. Platz Vier und Fünf gingen an Team Bärenmarke!

Bild
Franck Renier (BLB) siegt vor Enrico Poitschke (WIE) und Matteo Carrara (DNC) –
Im Vordergrund sprinten René Haselbacher und Gerhard Trampusch auf die Plätze Vier und Fünf


Die Reaktion im Konferenzraum war nicht einheitlich. Während Julia, der alte Winterkorn, Martin Neuner und auch ich ziemlich aus dem Häuschen waren, machten unsere drei Fahrer zwar einen zufriedenen Eindruck, doch absolute Euphorie sah anders aus. Johann hatte mir das schon avisiert. Bei Einzelrennen fragte am nächsten Tag niemand mehr nach Platz Zwei oder Drei, geschweige denn nach Platz Vier oder Fünf. Sicherlich, es gab ein paar Punkte für die Rangliste, aber ein Sieg war bei einem Einzelrennen das Einzige was wirklich zählte. Für uns aber war wichtig, dass wir das erste Nebenziel unseres Hauptsponsors erfüllen konnten und das feierten wir ausgiebig und ausgelassen. Ich wurde vom alten Winterkorn fast zerdrückt. Der alte Herr wurde mir immer sympathischer. Ein echter Gefühlsmensch! Auch von Julia bekam ich eine Umarmung.
„So eine Umarmung hätte ich gerne an meinem Geburtstag von Dir gekriegt!“, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Sie sah mich mit schmalen Augen an. Dann entspannten sich ihre Züge und sie lächelte ihr Sphinx-Lächeln. „An dem Tag hast Du Dir’s verbockt, Sigismund Rauch! Alles Liebe zum Geburtstag nachträglich!“, flüsterte sie und ich kam in den Genuss einer zweiten Umarmung.
Über ihre Schulter hinweg sah ich das Endergebnis des GP des Côtes Etrusques auf der Leinwand.

GP des Côtes Etrusques:
1. Franck Renier BRIOCHES LA BOULANGERE 4h32'35
2. Enrico Poitschke TEAM WIESENHOF s.t.
3. Matteo Carrara DE NARDI - COLPACK s.t.
4. René Haselbacher TEAM BAERENMARKE s.t.
5. Gerhard Trampusch TEAM BAERENMARKE s.t.

6. Jans Koerts BANKGIROLOTERIJ s.t.
7. Guillermo Bongiorno CERAMICHE PANARIA - FIORDO s.t.
8. Marc Streel LANDBOUWKREDIET - COLNAGO s.t.
9. German Nieto COLCHON RELAX FUENLABRADA s.t.
10. Ludovic Capelle LANDBOUWKREDIET - COLNAGO s.t.
...

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Shimano
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An die Algarve

Beitrag: # 6733966Beitrag Shimano
3.9.2008 - 14:22

An die Algarve

03.02.2003

Ich blickte aus meinem Bürofenster. Es hatte angefangen zu schneien. Dicke, weiße Flocken fielen wie Federn zu Boden. Schon hatte sich eine dünne Schneedecke gebildet. Der graue, nebelverhangene Himmel gab immer wieder ein paar Löcher für die Sonne frei, so dass die Schneeflocken mal grau, mal weiß, mal blassgelb erschienen. Ich trank einen Kaffee und las mir gerade die Rennberichte und Kommentare zum GP des Côtes Etrusques auf verschiedenen Internetseiten durch. Vor allem auf den österreichischen Radsportportalen prangte unser Logo auf den Trikots von René und Gerhard auf fast jeder Startseite. Wäre ich in der Sponsoring-Abteilung der Allgäuer Alpenmilch beschäftigt, ich wäre durchaus zufrieden mit der Publicity.

Gestern Abend hatte ich noch mit Johann telefoniert. Er war erleichtert und glücklich, gleich das erste der Sponsorenziele auf unserer Liste erreicht zu haben. Mehrmals hatten er und Jan versucht, einen der Bärenmarke-Fahrer auf die Flucht zu schicken und jedesmal hatte das Feld sofort wieder Tempo gemacht. Im Nachhinein waren diese Tempoverschärfungen nach hinten losgegangen, weil sie natürlich auch bei René Haselbacher Kraft kosteten. Kraft, die ihm im Sprint dann nicht mehr zur Verfügung stand. Insofern konnten wir mit Platz Vier und Fünf absolut zufrieden sein. Johann und Jan würden sich nun auf den Weg an die portugiesische Algarve machen, um sich dort mit dem Team zu treffen, das die Volta ao Algarve bestreiten sollte. Johann wollte die Algarve-Rundfahrt als Prüfstein und Vorbereitung für den Giro Riviera Ligure nutzen, der am 19.02. begann und bei dem wir laut Allgäuer Alpenmilch ebenfalls unter die Top 5 in der Gesamtwertung fahren sollten. Beide Rundfahrten führten größtenteils über hügeliges Terrain und vor allem beinhalteten beide ein Einzelzeitfahren. Gerade „Contre la Montre“ betrachteten wir als eine unserer großen Stärken, daher waren wir natürlich besonders auf die Leistungen des Teams Bärenmarke am letzten Tag der Algarve-Rundfahrt gespannt. Unsere Équipe für die Volta bestand aus folgenden Fahrern:

Jörg Jaksche (Kapitän)
Markus Fothen
Bernhard Kohl
Sebastian Lang
René Haselbacher
Stefan Schumacher
Fabian Wegmann

Ich blickte nach draußen. Einzelne Flocken waren jetzt schon gar nicht mehr auszumachen. Ein echtes Schneegestöber machte sich breit. Bestimmt schon vier, fünf Zentimeter hoch lag der Schnee. Mann, war das dunkel hier drin! Ich nahm meine leere Kaffeetasse, stand auf, knipste das Deckenlicht meines Büros an und ging dann den Flur hinunter, um mir Koffein-Nachschub zu holen. In der Küche traf ich Julia.
„Das Wetter macht mich fertig!“, sagte ich während ich mir den Kaffee einschenkte.
Julia lehnte sich an den Kühlschrank und entgegnete. „Soll auch so bleiben. Um den Gefrierpunkt, Schneegestöber, Matschwetter.“
Ich trank einen Schluck Kaffee und zeigte dann in den Flur: „Am meisten nervt mich diese Dunkelheit! Noch mindestens eineinhalb Monate, bevor der Frühling sich blicken lässt. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich jetzt mit Johann und Jan in Portugal wäre.“
„Oh doch, das kann ich!“, entgegnete sie und seufzte. „Ich hoffe, dass ich auch irgendwann mal zu einer Rundfahrt mitgenommen werde. Als Teamkoordinatorin ist das aber wohl eher unwahrscheinlich.“
„Sag mal, was ich Dich fragen wollte…“, begann ich. Es war an der Zeit für meinen „Kaffee-Trinken-Gehen“-Plan.
„Dein Telefon!“, unterbrach mich Julia und zeigte in Richtung meines Büros.
‚Mist!‘, dachte ich und spurtete los. „Bis später!“, rief ich noch über meine Schulter zurück.

„Team Bärenmarke. Sigismund Rauch.“, schnaufte ich in den Hörer. Es hörte sich immer noch gewöhnungsbedürftig an, aber ich arbeitete dran.
„Hallo, Herr Rauch. Carolin DeLonghi von der Allgäuer Alpenmilch hier. Wo habe ich Sie denn hergeholt? Sie sind ja ganz aus der Puste.“, schnurrte sie mir entgegen.
„Ich war gerade nebenan. Entschuldigen Sie!“, sagte ich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Nun, Sie könnten mich nach Portugal begleiten. Genauer gesagt an die Algarve.“, flötete sie und fügte hinzu: „Morgen Abend geht unser Flieger. Ich hoffe, das passt Ihnen!“

Wie sich herausstellte, war das Informationsmaterial, welches ich Frau DeLonghi überlassen hatte, zwar textlich hervorragend, doch mit dem Bildmaterial sei die Allgäuer Alpenmilch nicht zufrieden. Man plante nun nicht nur einen großen Bericht im Sponsoring-Teil der Firmenbroschüre, sondern wollte ebenfalls für die im März anstehende Jahreshauptversammlung ein großes Team-Bärenmarke-Special erstellen. Hierfür sei es notwendig, vernünftiges Bild- und Videomaterial zur Hand zu haben und Frau DeLonghi konnte sich keinen besseren Platz als die Algarve für dieses Unterfangen vorstellen. Sie hatte bereits ein kleines Film-Team und zwei Fotografen organisiert, die uns begleiten würden. Mich wollte sie aus „kompetenztechnischen“ Gründen mitnehmen. Als Radrenn- und Team-Bärenmarke-Spezialisten sozusagen. Wenn die wüsste! Außerdem könnten sich meine journalistischen Fähigkeiten ebenfalls als nützlich herausstellen. Herr Brauner sei zudem bereits informiert und habe keinerlei Einwände.

„Planen Sie denn auch Porträts unserer Fahrer, ich meine, geht es nur um Bilder oder soll in dem Special zur Jahreshauptversammlung auch Bezug auf die Profile ihrer wichtigsten Werbebotschafter genommen werden? Eventuell auch in Form kurzer Filme?“, fragte ich nicht ohne Hintergedanken.
„Das haben Sie aber hübsch formuliert, Herr Rauch.“, sagte Frau DeLonghi und machte eine kurze Pause. Dann fuhr sie fort: „In der Tat wäre das eine interessante zusätzliche Komponente. Ein guter Vorschlag, Herr Rauch. Wären denn für dieses Vorhaben interessante Fahrer bei der Algarve-Rundfahrt dabei?“
„Nun, da wäre zunächst einmal der wichtigste Mann im Team, unser Kapitän Jörg Jaksche, außerdem unser Sprintstar René Haselbacher und einer der besten deutschen Zeitfahrer, Sebastian Lang. Die anderen Vier sind große Talente und mit Sicherheit…“, begann ich meine Ausführungen.
„Sie haben mich schon überzeugt, Herr Rauch.“, unterbrach sie mich. „Wer könnte denn die Aufnahmen zur Erstellung der Kurzpräsentationen während der Rundfahrt koordinieren? Werden Sie das machen? Viel Spielraum in zeitlicher Hinsicht haben wir ja nicht und als gelernter Journalist wissen Sie mit Sicherheit, wie aufwändig und zeitintensiv es ist, vernünftiges Videomaterial für eine hochwertige Dokumentation zu erstellen.“
„Wir haben da einen Koordinations-Spezialisten für diese Aufgabe.“, entgegnete ich.

Ich klopfte an Julias Tür.
„Ja?“, hörte ich sie sagen.
Ich öffnete die Tür halb, lehnte mich lässig in ihr Büro und fragte: „Kommst Du mit?“
„Wohin?“, fragte sie sichtlich verwirrt.
„An die Algarve.“, versuchte ich so emotionslos wie möglich zu sagen.
Ihr Blick war unbezahlbar!

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Shimano
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Zickenkrieg

Beitrag: # 6734129Beitrag Shimano
4.9.2008 - 13:30

Zickenkrieg

04.02.2003

Es war beinahe Mitternacht. Ich schloss die Tür zu meinem Hotelzimmer auf und wuchtete meinen Koffer erst einmal aufs Bett. Dann sprang ich unter die Dusche und ließ mir das heiße Wasser ins Gesicht laufen. Das tat gut! Ich rasierte mich noch schnell, um am nächsten Tag etwas entspannter aufstehen zu können und legte mich dann ins Bett. An Schlaf war nicht zu denken. Ich war völlig aufgekratzt. Nach einer halben Stunde vergeblicher Einschlafbemühungen ging ich an den kleinen Kühlschrank und durchsuchte das Getränkeangebot nach der besten Einschlafhilfe. Ich entschied mich für das kleine Fläschchen Medronho – ein Schnaps aus den Früchten des Erdbeerbaumes. Ich schloss die Augen und ließ die Spezialität der Region meine Kehle hinunterrinnen. Das tat gut! Ich leerte das Fläschchen mit zwei weiteren Zügen, ließ mich wieder aufs Bett fallen und genoss die wohlige Schwere, die nun langsam durch meinen Körper kroch. Was für ein Tag!

Julia und ich waren gegen 15.00 Uhr in Richtung Frankfurt losgefahren. Fast den gesamten Tag hatten wir Vorbereitungen für die fünf Tage in Portugal getroffen. Ich hatte Fred Schneider angerufen, um den geplanten Termin abzusagen und versprach ihm als Wiedergutmachung einen Artikel über die Algarve-Rundfahrt aus meiner Feder. Dann besprach ich mit Julia, wie wir uns am besten koordinieren würden, um drei bis vier Fahrerporträts in der kurzen uns zur Verfügung stehenden Zeit hinzubekommen. Julia, die gestern noch Feuer und Flamme gewesen war und mir nach meiner Schilderung des Gesprächs mit Frau DeLonghi um den Hals gefallen war, hatte seit heute Morgen extrem schlechte Laune.
„Das ist doch ein irrwitziges Unterfangen, Siggi!“, keifte sie und blies sich den Pony aus dem Gesicht. „Wie sollen wir das zeitlich hinbekommen? Jeden Tag gibt es eine Überführung zu einem anderen Ort, das heißt wir werden extrem improvisieren müssen und vor allem können wir es uns nicht leisten, Aufnahmen zu wiederholen. Das würde alles viel zu lange dauern. Eine tolle Idee von Dir mit den Fahrerporträts!“
Ich war sauer. „Wer hat denn gestern noch geheult, dass er bestimmt nie mit zu einer Rundfahrt fahren wird? Wer wäre denn so gerne an die Algarve geflogen?“, fragte ich und fügte dann noch hinzu: „Wenn es Fräulein Winterkorn zu anstrengend ist, dann werde ich Frau DeLonghi gerne von der Schwachsinnigkeit meiner Idee überzeugen. Allerdings wäre das dann wahrscheinlich Deine letzte Einladung zu einer Rundfahrt durch die Allgäuer Alpenmilch.“
Julias Gesicht wurde rot und ich erwartete einen weiteren Gefühlsausbruch. Stattdessen blies sie nur erneut ihren Pony zur Seite. Wenn sie wüsste, was das für eine Wirkung auf mich hatte.
Kontrolliert sagte sie: „Sigismund Rauch. Frau DeLonghi hat Dich eingeladen, um sie als Spezialist für Radrennen und Team Bärenmarke zu begleiten. Wahrscheinlich beschränkt sich Deine Tätigkeit darauf, mit dem Finger auf einen Fahrer im Bärenmarke-Trikot zu zeigen und zu sagen: ‚Den da filmen!‘ Wahrscheinlich nimmt sie Dich nur mit, weil sie scharf auf Dich ist. Mein Vater jedenfalls behauptet, sie sei ein männerfressender Vamp! Ich aber soll die Koordination für mindestens drei Fahrerporträts machen – während einer fünftägigen Rundfahrt! Ist doch klar, dass ich da im Vorfeld gestresst bin. Ich bin eine Frau! Wir sind sogar gestresst, wenn wir in den Urlaub fliegen, klar?“
„Klar!“, entgegnete ich knapp. Weiber!

Meine Hoffnung, dass sich die Gemüter erst einmal beruhigen würden, sobald wir im Flugzeug saßen, wurde gnadenlos zerschlagen. Schon am Terminal bei der Zusammenkunft mit Frau DeLonghi wurde mir klar, dass mir heute noch ein Tanz auf dem Vulkan bevorstand. Die Begrüßung zwischen meinen beiden Begleiterinnen konnte man nur als eisig bezeichnen und die nadelscharfen Blicke, die sie sich entgegen schleuderten, konnte man nahezu sehen. Die Luft brodelte vor chemischer Antipathie. Das konnte was werden! Und tatsächlich: Im Flugzeug ging das Spiel weiter. In guter Absicht setzte ich mich zwischen die beiden und gab damit auch meinen Lieblingsplatz im Flugzeug, nämlich den Fensterplatz auf. Dort hatte Frau DeLonghi Platz genommen, während Julia zu meiner Rechten am Gang saß. Bis kurz nach dem Start hatte es noch einen stillschweigenden Waffenstillstand der beiden gegeben, doch damit war es jetzt vorbei. Im Bordkino lief ein Madonna-Clip – ich glaube es war ‚Die Another Day‘ – und Julia behauptete, so jugendlich könne keine Frau jenseits der 40 aussehen und bestimmt sei sie geliftet. Frau DeLonghi fühlte sich anscheinend angesprochen, um nicht zu sagen angegriffen.
„Warum soll eine Frau über 40 nicht mehr jugendlich aussehen können ohne geliftet zu sein? Sie treibt viel Sport und wird mit Sicherheit sehr gute Körper- und Gesichtspflegeprodukte benutzen. Es gibt eben Frauen, die in natürlicher Schönheit älter werden. Man kann froh sein, wenn man zu dieser Gattung gehört, Schätzchen!“, giftete sie.
Ich brauchte gar nicht hinzusehen. Das leise Pusten verriet es mir. Das war der Ponypuster. Frau DeLonghi konnte sich auf was gefasst machen.
„Ach ja?“, sagte Julia. „Nun, Sie haben mir die Erfahrung des 40-Jahre-alt-Werdens voraus, doch ich wage zu behaupten, dass ich sehr gut erkennen kann, ob in punkto Schönheit der Natur nachgeholfen wurde oder nicht.“, stänkerte sie und blickte tatsächlich mit messerscharfem Blick auf Frau DeLonghis riesige Glocken.
Das war zu viel! Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, doch leider befand ich mich 12 Kilometer hoch in der Luft, eingeklemmt zwischen zwei streitlustigen Hexen. Ich versuchte beiläufig aus dem Fenster zu gucken, doch leider versperrte mir das DeLonghi-Gebirge die Sicht. Die PR-Managerin unseres Hauptsponsors hatte meinen Blick bemerkt und lächelte mich jetzt vielsagend an. Ich grinste blöd zurück. Die Schweißporen auf meiner Stirn öffneten ihre Ventile.
„Aua!“, schrie ich. Julia hatte mir mit dem Ellenbogen einen Schlag in die Rippen verpasst. Ihre Blicke töteten mich – mehrfach, langsam und qualvoll. Ich sah sie entschuldigend an und zuckte hilflos mit den Schultern.
Mein in Frau DeLonghis Augen bewundernder Blick auf ihr Dekolleté hatte sie augenscheinlich besänftigt. Jedenfalls entgegnete sie auf Julias Frontalangriff nichts. Stattdessen bestellte sie bei der vorbeieilenden Stewardess einen Sekt. Ich orderte einen Kaffee. Julia hatte jedoch den Fehdehandschuh längst noch nicht zur Seite gelegt. „Für mich keinen Alkohol. Ein Wasser bitte.“, sagte sie und warf einen abschätzigen Blick auf das Glas Sekt, das Frau DeLonghi gerade gereicht wurde. Als nun noch ein Kosmetik-Werbespot für die Frau in reiferen Jahren im Bordkino anlief, trat ich die Flucht an. Schnell weg, bevor ich endgültig im Zickenkrieg-Epizentrum gefangen war!
„Entschuldige bitte!“, sagte ich zu Julia, griff nach meinem Kaffee und zwängte mich an ihr vorbei auf den Gang. Während ich mich auf den Weg in das Heck des Fliegers machte, hörte ich Julia gerade noch sagen: „Sehen Sie mal, das gibt es sogar runtergesetzt im Bordshop!“ Mann, hatte die Nerven!

An den hinteren Bordtoiletten angekommen erspähte ich einen freien Platz im Raucherabteil. Der ältere, südländisch aussehende Herr auf dem Sitz daneben bemerkte meinen Blick und machte eine einladende Handbewegung. Ich nickte ihm freundlich zu und nahm Platz. Er kramte in der Westentasche seiner Jacke herum und bot mir dann eine Zigarette an. Ich hatte seit über einem Jahr nicht mehr geraucht, aber hier und jetzt war mir nichts willkommener als eine Kippe. Ich bedankte mich, winkte die Stewardess heran und fragte meinen Nachbarn auf Englisch, ob er etwas trinken wolle. Wir tranken dann gemeinsam einen Whisky, rauchten und schwiegen uns an. War das schön!

Als ich nach ungefähr einer halben Stunde an meinen Platz zurückkehrte, erwartete ich dort ein Loch im Rumpf des Flugzeugs vorzufinden. Stattdessen prosteten sich die beiden Xanthippen gerade mit einem Sekt zu und schienen bester Laune zu sein. Verstehe einer die Frauen! Ihre neu gefundene Einigkeit bekam ich sogleich zu spüren, denn nachdem ich wieder Platz genommen hatte, hustete Frau DeLonghi übernatürlich laut und ausführlich während Julia mich fragte, in welcher Kneipe ich denn gewesen sei.
„Hätte ich einen Fallschirm gefunden, dann säße ich jetzt tatsächlich in einer.“, grummelte ich und schob mir das winzige Schlafkissen in den Nacken. Ich konnte vielleicht im Flugzeug nicht schlafen, aber ich konnte zumindest so tun.
Als Entschädigung für die bisherigen Flugstrapazen diente in der restlichen Stunde des Fluges Julias Kopf auf meiner Schulter. Sie schlief tief und fest und ich atmete ihren Duft ein. Ich sah zu Frau DeLonghi herüber. Sie lächelte und prostete mir mit ihrem dritten Sekt zu.

Auf dem Flughafen in Faro holte Frau DeLonghi den Schlüssel für unseren Leihwagen, einen T4 Multivan, ab. Auf den gut 30 Kilometern nach Tavira, wo morgen die erste Etappe der Algarve-Volta starten würde, besprachen wir dann den geplanten Tagesablauf. Julia würde mit einem Fotografen und einem Mann aus der Filmcrew zunächst in Tavira bleiben und noch vor Beginn des Rennens mit René Haselbacher die ersten Aufnahmen unter Dach und Fach bringen. Anschließend könnten sie und der Kameramann im Technikwagen mit dem Auswerten des Materials beginnen und bei Bedarf nach Ende der Etappe nochmals mit René zusammentreffen, um eventuell weiteren Film zu belichten. Ich hingegen würde mit Frau DeLonghi und dem zweiten Film- und Kamerateam gleich nach dem Frühstück zu einem Hügel bei Kilometer 78 der Etappe fahren, um dort Bilder der Team Bärenmarke – Fahrer einzufangen. Sollten diese Aufnahmen nicht genügen, wollten wir zum Kilometer 104 weiterfahren, um dort das Gleiche noch einmal durchzuführen. Anschließend würden wir zum Zielbereich zurückkehren und dort die letzten Aufnahmen des Tages machen. Hörte sich nach einem strammen Programm an.

Der Medronho hatte gute Arbeit geleistet. Schon fielen mir die Augen zu. Ich blickte auf den Wecker. Gleich eins. Ich stellte ihn auf sieben Uhr und knipste das Licht aus. Ich war sofort weg.

UlleDoper
Beiträge: 95
Registriert: 27.6.2008 - 12:35

Beitrag: # 6734201Beitrag UlleDoper
4.9.2008 - 19:13

Sauber!!!

Vorallem der "Zickenterror" war köstlich

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