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Ein langer Weg

Verfasst: 3.8.2008 - 18:51
von arkon
Und es geht weiter. Ich beschäftige mich schon länger mit neuen Projekten, auch eine Fortsetzung von "Jerdona Zeres" hab ich erwogen. Aber letztlich brauch ich neuen Stoff. Ihr sicherlich auch ;). Der Drang, zu schreiben, war wieder einmal zu stark. Jetzt will ich die Semesterferien nutzen und noch ein bisschen was voran bringen. Kommentiert fleißig, noch ist nichts in Beton gegossen und eure Kommentare können noch Einfluß auf den Charakter haben.
Jetzt erstmal: Viel Spaß beim Lesen!

Edit 1: Da ich die Geschichte demnächst beenden und ersteinmal nicht mehr weiterführen werde zerteile ich diesen AAR in mehrere Teile. Alle spielen in derselben Radsportwelt. Ersteinmal gibt es nur diesen einen Teil, die Geschichte von Eusebio. Später wird sie vll durch andere Erzählungen (Kurzgeschichten, andere "Bücher", etc.) ergänzt. Theoretisch steht diese Möglichkeit auch Fremdautoren offen, natürlich nur nach Absprache.

Verfasst: 3.8.2008 - 18:51
von arkon
Buch 1: Der Ausgang


Sie war gekommen. Er konnte es kaum glauben, aber sie war wirklich gekommen. Es war ihm eigentlich völlig egal. Nein, das stimmte nicht ganz. Immer, wenn seine Mutter Interesse an seinen Aktivitäten heuchelte, trieb ihn das auf die Palme. Er sah sie neben dem kleinen Wohnwagen stehen, bei dem sich die Fahrer einschreiben mussten.
„He du, wolltest du dich vor deiner Mutter drücken?“ Sie stand vor ihm, lächelte etwas unsicher und Eusébio spürte, das sie ihn am liebsten umarmt hätte. Er machte angewidert einen Schritt zurück. Seine Mutter.
„Ja, das wollte ich. Es wäre besser gewesen, wenn du nicht gekommen wärst.“
Sie stockte einen Moment.
„Ich bin den ganzen Weg nach Boulder gefahren, nur um dir beim Fahren zuzuschauen.“
Sie kämpfte schon wieder um Fassung, hätte am liebsten vor allen Leuten hier eine Szene gemacht.
„Hat er dich gefahren?“
Betreten blickte sie zu Boden.
„Ja“
Eusébio schob sie halb zur Seite, rempelte sie an.
„Von all deinen Typen ist er der bisher schlimmste. Arschlochpunktzahl 15 von 10. Aber so wie ich dich kenne, wirst du dich noch steigern können. Wenigstens etwas, in dem du landesweit zur Spitze gehörst. Maria Pineda, die kolumbianische F... mit dem Riecher für die ärmsten M... von Detroit!“
Er hatte sie sicher nur hierher gefahren um sie ein ganzes Wochenende in seinem Elternhaus, das irgendwo hier in der Gegend lag, d... und verprügeln zu können. Nicht seine Angelegenheit. Sie packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum und verpasste ihm eine Ohrfeige. Jetzt hatte sie ihre Fassung verloren.
„Du bist ein undankbarer Kerl. Warum hab ich ihn nur gebeten, den Abstecher nach Boulder zu machen. Um dein Rennen zu sehen! Du dreckiger…“
Eusébio drehte sich um. Er hatte nichts Anderes von ihr erwartet. Warum war sie gekommen? Wahrscheinlich kam auch noch die Idee von ihm. Hieß er Stephen? Stefan? Stev? Er hatte es schon wieder vergessen. Es kümmerte ihn nicht.
Ohne eine Mine zu verziehen schrieb er sich beim Veranstalter ein, nachdem er ihm die geforderten 10 Dollar und einen kleinen Bonus für seine kurzsichtigen Augen zugeschoben hatte. In dieser Klasse der Boulder Classics durfte man erst mit 18 Jahren starten, ein halbes Jahr älter als er war. Aber er wollte, er musste hier starten und gewinnen. Er durfte Marc nicht enttäuschen. Sein Sportlehrer, Marc Stevenson, war mit ihm extra die 19 Stunden hierher gefahren, nur, damit er an diesem Rennen teilnehmen konnte. Es schien ihm als wäre er der einzige, der ihn in seinen Bemühungen unterstützte. Unterstützte? Teilweise schien es sogar mehr Marcs Wunsch zu sein dass er bei Rennen startete und sich um einen Profivertrag bemühte. Sein Weg raus aus Detroit. Das war er. Marc hatte Recht.
Er ließ seine keifende Mutter zurück und schob sein Rad zum Start des Rennens. Zwischen all den anderen Amateuren und Jungprofis fühlte er sich ein wenig fehl am Platz. Sie waren allesamt älter als er, die meisten deutlich schwerer und größer. Und sie waren weiß. Weiß und einige wenige schwarz. Sie redeten miteinander, kannten sich. Es wurden Hände geschüttelt, auf die Schultern geklopft, gelacht und geredet. Es war eine eigene Gruppe, eine eigene Gemeinschaft, eine eigene Gang. Und er war kein Teil davon.
Er schluckte schwer. Irgendwie flößte ihm das alles Respekt ein. Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche, eine eher nervöse Geste, und hielt Ausschau nach Marc. Anfangs war er ihm gegenüber sehr misstrauisch gewesen – ein Lehrer! Aber Marc mochte ihn, und Marc wusste, was in ihm vorging, was er in seinem Leben wollte. Und Eusébio wollte nichts sehnlicher als aus Detroit zu verschwinden.
Da stand er, am Rande der Fahrermenge und blickte sich suchend nach ihm um. Er richtete sich auf und winkte. Etwas peinlich war es ihm schon, aber da musste er durch. Außerdem hatte er ohnehin nicht vor, sich heute bei den anderen Startern viele Freunde zu machen.
Marc kam herüber und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.
„Nervös?“
Er stellte sich dumm
„Ne, wieso sollte ich?“
„Immerhin ist es dein erstes Rennen seit einer ganzen Zeit, dein erstes Rennen, was nicht U18 ist.“
Er lächelte nur zur Antwort. Er konnte, er durfte es ihm nicht zeigen, aber er war sehr nervös. Und er war froh, dass Marc ihm hier zur Seite stand. Es waren nicht alle gegen ihn. Er würde diesen Kampf nicht auf sich allein gestellt ausfechten müssen.
Nachdem Marc ihn verabschiedet hatte stellte er sich wieder zu den anderen Fahrern. Die Nervosität wurde von einer ganz eigenartigen Ruhe übertüncht. Die Ruhe vor dem Sturm? Schon ein wenig Professionalität, auch in seinen jungen Jahren? Mit diesen Phrasen, die ebenso gut von einem Sportkommentator hätten stammen können, machte er sich selbst Mut.
Das Rennen wurde mit einem krachenden Schuss gestartet. Instinktiv duckte er sich, schutzsuchend vor dem Schützen. Erst einen Augenblick später setzte sein Gehirn ein, schalt ihn einen Feigling und hetzt ihn auf sein Rad.
Insgesamt ging es über 150 Kilometer, zunächst am Stadtrand von Boulder entlang, dann hinein in den östlichen Teil der Rocky Mountains. Während der erste Teil noch eher einer Spazierfahrt glich wurde es urplötzlich ernst, als sie die erste Steigung erreichten. Es gab einige Teams in diesem Rennen, die sich für ihre jeweiligen Kapitäne aufopferten, daher war das Tempo für ein Amateurrennen erstaunlich hoch. Um sich herum konnte Eusébio sehen, wie hart die Auswirkungen waren. Die Gruppe wurde immer kleiner und kleiner, immer mehr Fahrer fielen zurück. Auf ihren Gesichtern war klar zu sehen, dass sie wahrscheinlich eher den Weg zurück antreten würden als sich hinter den Spitzenreitern her zu quälen.
Nach ungefähr 70 Kilometern fingen die Angriffe an. Eusébio konnte klar erkennen, wer von ihnen mehr aus Verzweiflung die Flucht nach vorne suchte und wer ernsthaft eine Selektion herbeiführen wollte. Entsprechend ging er dann eine der Attacken mit. Schnell bildete sich eine Spitzengruppe von vielleicht zehn Mann. Außer ihm gab es noch einen anderen Fahrer, dem er ernsthaft etwas zutraute. Es war schon fast lustig zu beobachten, wie jedes Mal, wenn einer von ihnen beiden durch die Führung ging, hinter ihnen sofort Löcher aufbrachen. Keiner wagte einen Antritt, allen war klar, wie die Kräfte in dieser Gruppe verteilt waren.
Dann schließlich, etwa 20 Kilometer vor dem Ziel, griff der andere starke Fahrer an. Eusébio ging mit, er hatte so etwas schon erwartet. Auch sein Begleiter schien wenig überrascht dass einzig der Kolumbianer ihm hatte folgen können. Nachdem sie sich ein wenig taxiert hatten und einen ausreichenden Abstand nach hinten geschafft hatten rollte er neben ihn. Er war ein wenig athletischer als er selbst, aber schien stämmig und sehr konzentriert. Eusébio schätzte ihn auf 18 oder 19. Er war ein Weißer, aber schien trotz seiner Herkunft klein und drahtig genug, um am Berg gute Leistung bringen zu können.
„He, ich bin Terence. Wie heißt du?“
Wollte er sich mit ihm anfreunden um seinen Willen, ihn am Schluss zu schlagen, zu schwächen?
„Ich bin Eusébio“ antwortete er knapp
„Ich hab dich noch nie bei einem Rennen gesehen. Und du fährst sehr stark du wärst mir aufgefallen.“
Anstatt einer Antwort nickte er nur kurz.
Terence schien zu verstehen, das Eusébio eher Fahrrad fahren als Gespräche führen wollte und scherte wieder hinter ihm ein. Nicht ohne ihm vorher einen Klaps auf die Schulter zu geben. Ein wenig angewidert schaute er zurück auf seinen Begleiter. Der wollte doch sicher nicht nur freundlich sein?
Sie schauten sich bei nicht nach ihren Verfolgern um. Sie wussten, dass ihnen von hinten keine Gefahr drohte. Unmerklich wurden sie langsamer, je näher sie dem Ziel kamen. Mehr und mehr stockte ihre Zusammenarbeit. Keiner wollte zu viel Kraft lassen beim Bemühen, Abstand zu Gegnern zu schaffen, die ohnehin keine Chance mehr auf den Sieg hatten. Es wurde mehr und mehr zum Belauern. Wer hielt sich im Zielsprint für den Stärkeren? Welcher der beiden vertraute sich mehr? Ein Spielchen ohne wirklich Informationen – sie kannten sich erst seit wenigen Minuten.
Dann, endlich, kam der Angriff. Terence wagte den ersten Vorstoß. Auf einer kurzen Rampe forcierte er das Tempo. Eusébio musste sich ordentlich anstrengen um den Anschluss zu schaffen. Mit einer weiten Welle wurde er genötigt, die Initiative zu ergreifen, doch er blieb sitzen. Er war verdammt noch mal in Detroit groß geworden, in den gemeinsten, fiesesten Ghettos, die diese Nation zu bieten hatte. Sollte er nun etwa nervös werden?
Sie befanden sich in einer kleinen Abfahrt. Kurz vor sich sahen die den Eingang in einen dichten, kühlen Nadelwald, eine willkommene Abwechslung von der Hitze des Tages. Eusébio ging in die Führung. Er schlug kein besonders hohes Tempo an, aber auch nicht wieder so langsam, das ihn sein Gegner hätte überraschen können. Sie rauschten durch die grüne Mauer und sahen vor sich ein kleines Schild, dass das Ziel in nur 2 Kilometern Entfernung versprach. Bergauf.
Er tastete sich in den Berg hinein. Keine Serpentinen, eine breite, gewundene Straße aus dem üblichen, brüchigen Beton. Er trat an. Vielleicht ein bisschen früh, aber er versuchte es. Leicht brachte er sich auf Touren, sprintete die Steigung empor. Doch da: Er rutschte aus der Pedale, klatschte auf seine Oberstange und konnte froh sein, nicht ernsthaft verletzt zu sein. Ein Loch tat sich auf. Er lag zurück. Eusébio klickte sich wieder ein und wirbelte hinterher. Sein Gegner hatte eine beeindruckend ruhige Fahrweise. Einen verhältnismäßig großen Gang tretend erklomm er die Steigung. Ganz anders er selbst: Ohne Konzept, Sinn und Verstand kurbelte er den nächstbesten, meistens ziemlich kleinen, Gang in den irrsten Verrenkungen dem Ziel entgegen. Seine rechte Wade brannte, er konnte deutlich das Blut spüren, welches außen hinab rann. Er hatte sich also doch ein wenig verletzt. Aber Zeit, hinab zu blicken, hatte er nicht. Immer weiter, immer schneller befahl er sich zu fahren. Der Wald, die Straße, die Bäume, all das verschwand. Er sah nur noch einen engen Tunnel, in dem irgendwo vor ihm Terence fuhr. Ging es bergauf? Ging es bergab? Er vermochte es nicht zu sagen. Geradeaus, das ging es.
Da hatte er ihn erreicht! Da zog er vorbei! Im zurückschauen konnte er in sein Gesicht blicken: Zu seiner Überraschung war es entspannt und er schien sogar zu lächeln. Aber im nächsten Moment, als er sich wieder nach vorne umgedreht hatte, kam ihm das schon wie ein böser Spuk vor.
Die Ziellinie? Die Ziellinie! Er richtete sich auf, ballte seine Fäuste und trommelte sich voller Aufregung auf die Brust. Er hatte gewonnen!

noch etwas neues: eine nummerierung der posts. mehr für mich selber, damit ich verweise auf die charaktere einsortieren kann. aber ich mach es mal öffentlich, damit ihr auch was davon habt ;)
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Verfasst: 3.8.2008 - 19:59
von Österreicher
Einfach himmlisch. Schön getextet, gute Wortwahl(vor allem bei dem einen Satz zu seiner Mutter, ;)).
Freut mich, dich wieder lesen zu dürfen...

Verfasst: 3.8.2008 - 20:12
von SantiPerezFernandez
Da hier auch junge Jugendliche mitlesen, sah ich mich gezwungen, einige Worte zu zensieren.

Verfasst: 4.8.2008 - 14:33
von arkon
Die Heimfahrt war traurig und aufregend zugleich. Zum einen fuhr er zurück nach Detroit, nach Hause, an den Ort, von dem er eigentlich weg wollte. Zum anderen aber hatte er viele schöne Erinnerungen an das Rennen gesammelt. Er hatte seinen Kopf zum ersten Mal in eine neue, fremde Welt gesteckt. Das heutige Rennen unterschied sich stark von den kleineren Jugendrennen, die er schon bestritten hatte. Die Atmosphäre, die Fahrweise, die Gegner. Und er war begeistert. Während er vorher nur gewusst hatte, dass er das Leben, welches er führt, verabscheute, war es sich nun sicher dass der Pfad, den er schon eingeschlagen hatte, ihn zu seinem Ziel führen würde. Er sah aus dem Fenster, sah die sommerliche Landschaft vorbeihuschen, grüne Bäume, weite Felder. Die Weiten der USA taten sich vor ihm auf. Und er wünschte sich, er könnte im Fahrrad nebenher fahren. Wünschte sich, dass es schon das nächste Wochenende wäre, das nächste Rennen, das die Reise nicht nach Hause sondern von dort weg führen würde.
Marc lobte ihn und versuchte ihn ein paar Würmer aus der Nase zu ziehen: Was hatten Terrence und er geredet? Was hielt er von seinem Konkurrenten? Wie hatte er sich mit den anderen Fahrern verstanden? Freute er sich aufs nächste Wochenende? Als Eusébio nur einsilbige Antworten gab und das Gespräch immer wieder versickerte gab Marc es auf. Er wusste, was für einen Sturkopf er neben sich sitzen hatte. Und er hatte eigentlich auch nicht mit Dank gerechnet. So war Eusébio nicht. Beizeiten würde er sich bedanken, aber nicht, bevor er nicht mit sich selbst im reinen war. Er war eben doch noch ein Kind.
Sie fuhren bis in die Nacht hinein, bevor sie in einem Motel abstiegen. Sie nahmen sich ein kleines Doppelzimmer, das Rennrad lehnte an der Wand vor dem Fußende des Bettes. Sie rückten die beiden Betthälften auseinander, Eusébio war doch ein bisschen nervös bei dem Gedanken, mit einem Lehrer in einem Bett zu schlafen. Sie würden montags den Unterricht verpassen, aber das war mit der Schulleitung schon abgeklärt. Es kam eben nicht oft vor, das sich ein Schüler als so überdurchschnittlich begabt in irgendeiner Sache erwies, als das er hoffen konnte, die Nationale Spitze zu erreichen. Und schon gar nicht in Downtown Detroit.
Eusébio war schüchtern, achtete sehr darauf, dass Marc ihn nicht in Shorts oder gar nackt zu Gesicht bekam. Er schlüpfte ins Bett während sein Lehrer noch einmal nach unten in die Bar ging. Obwohl er es sicher niemals zugegeben hätte hielt in Eusébio für einen ziemlichen Alkoholiker. Sollte er doch machen, was er wollte. Er selbst hingegen ließ seine Gedanken wandern, die sich wie von selbst um das Rennen zu drehen begannen. Und um den kleinen Pokal, den er auf das Fensterbrett gestellt hatte, stolz wie er nur sein konnte. Voller Sehnsucht seufzte er. Er konnte an nichts anderes denken als an den nächsten Ausflug, das nächste Wochenende, das er nicht in Detroit verbringen musste. An das nächste Fahrradrennen.
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Verfasst: 4.8.2008 - 18:35
von arkon
An seinen Vater konnte sich Eusébio nur schwach erinnern. Er war sieben Jahre alt gewesen, als er seine Mutter verlassen hatte. Die Gründe hatte er damals nicht einmal erahnen können und mittlerweile waren ihm so viele verschiedene und widersprüchliche Geschichten seiner Mutter geläufig, dass er damit eine ganze Wand hätte vollkritzeln können. Entgegen ihrer anhaltenden Versuche, das Ansehen seines Vaters, ihres Ehemannes in den Dreck zu ziehen, war er für Eusébio eine Heldenfigur. Mehr noch: Mit jedem Angriff seiner Mutter schwand in seinen Augen ihr Ansehen und seines wuchs.
Einer der ganz wenigen Erinnerungen an ihn war schon verblichen und für ihn nicht mehr genau einzuordnen: Ein kalter Sommermorgen. Die Wolken verzogen sich gerade und machten der Sonne Raum. Er wachte auf und rannte sofort die kleine Holztreppe in ihrem kleinen Haus hinab. In der Küche saß sein Vater am Tisch, trank seinen Kaffee und sah sich überrascht um.
„Was denn, schon so früh auf? Gibt’s heute etwas Besonderes?“
Der kleine Eusébio sprang an seinem Vater hoch.
„Ich hab heut Geburtstag! Geburtstag!“ krähte er fröhlich.
Der Vater schüttelte etwas verwirrt den Kopf und trank dann weiter Kaffee.
„Wo sind meine Geschenke? Ich hab Geburtstag, ich will Geschenke!“ Ereiferte er sich weiter.
Der Vater machte eine wegscheuchende Handbewegung und brummte etwas in seinen Bart hinein wie „Schau mal im Garten nach.“
Der Sohn sprang auf, rannte nach draußen, und da stand es: Ein Fahrrad! Es lehnte an der Hauswand und strahlte ihn an. Es war nicht mehr ganz neu, aber offenbar gut in Schuss. Jemand hatte eine Menge Mühe und Liebe hinein gesteckt. Eusébio, der noch nie viel besessen hatte, stand davor und konnte seinen Augen kaum glauben. Schließlich legte sich sanft eine Hand auf seine Schulter. Als er sich umdrehte strahlte ihn sein Vater an.
„Na, willst du es einmal Probe fahren?“
Den Rest des Tages rannten sie den Bürgersteig auf und ab, im Bemühen, ihm das Radfahren bei zu bringen. Mürrisch ging er ins Bett um am Morgen darauf mit den ersten Sonnenstrahlen aufzustehen und sich mit dem Rad abzumühen. Beim Frühstück konnten seine Eltern schon die nächsten Schürfwunden und Prellungen von seinen vergeblichen Versuchen bewundern. Die nächsten Tage und Wochen verbrachte er jede freie Minute mit seinem Rad, fuhr es überall hin. Mit der Zeit wurde aus dem wackeligen, unfreiwilligen Slalom eine rasende Fahrt, die ihn in der ganzen Gegen herum brachte.
Bis er schließlich auf Jerold und seine Jungs traf. Sie duldeten keine Mexikaner in ihrem Revier. Sein Protestgeschrei, das er ja Kolumbianer sei, interessierte niemanden. Als er versuchte, auf dem Rad vor ihnen zu fliehen sprinteten sie hinter ihm her und rissen ihn aus dem vollen Lauf auf den Boden. Er bekam nicht mehr viel mit von dem, was folgte. Sie zerrten ihn aus einer kleinen Nebengasse in einen Hinterhof, dessen Besitzer sie wohl „kannten“. Keiner machte sich die Mühe, ihn aufzurichten. Es waren Tritte, in seinen Magen, seine Beine, seine Arme, sein Gesicht. Die Narben von damals konnte er heute kaum von den anderen an seinem Körper unterscheiden, trotzdem bildete er sich ein, die Schmerzen noch fühlen zu können. Die Schmerzen, als sie sein Fahrrad mit Metallrohren und Holzstücken, die herum lagen, bearbeiteten. Die Schmerzen, als sie nach und nach die abgebrochenen Einzelteile, die Lichter, Pedale, Schalthebel, die Bremsblöcke nach ihm warfen. Und als sie schließlich die verbeulten Reifen und den zerbrochenen Rahmen auf ihn fallen ließen, zusammen mit einer Warnung, sich hier nicht mehr blicken zu lassen. Die dreckigen Nigger! Weinend kauerte er auf dem Asphalt, in einer kleinen Lache aus seinem eigenen Blut und wollte seine Augen nicht aufmachen. Nie wollte er sehen, wie sein Rad, sein Fahrrad, sein Geschenk von seinem Vater, in verbogenen Einzelteilen um ihn herum lag.
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Verfasst: 5.8.2008 - 23:04
von arkon
Das Warten hatte begonnen, und es versprach, sich endlos hin zu ziehen. Immer wieder fiel er im Unterricht auf, wie er verträumt nach draußen, aus dem Fenster blickte, seine Gedanken ganz auf das nächste Rennen gerichtet. Natürlich nicht seinen Lehrern, sondern seinen Mitschülern, die ihm hämische Kopfnüsse verteilten.
Auch in seiner Gang fiel er auf.
„He, was träumst du rum? Noch am Radfahren?“ fuhr ihn Carlito an. Er war der Anführer ihrer Gruppe. Ertappt lächelte er ihn unsicher an und schüttelte den Kopf
„Komm gleich nach der Schule mit. Wir wollen den Tigers richtig einheizen“ Er erklärte kurz, wie sie der gegnerischen Bande zu Leibe rücken wollten. Eusébio hörte nur mit einem Ohr zu. Er war normalerweise schnell zu gewinnen für einen Kampf, einen Krieg mit einer anderen Gang. Es war die Begeisterung für die blinde Zerstörungswut, die bei solchen Gelegenheiten in der Regel herrschte, welche die Beteiligten antrieb. Eusébio genoss zwar die Anarchie, welche sich üblicherweise breit machte, er genoss es, die Gefahr zu überstehen, mehr oder weniger unbeschadet. Aber am meisten genoss er den Sieg, das Gefühl der Überlegenheit, wenn er seine Gegner fliehen sah. Die „Los Pepes“ waren im Laufe der letzten Jahre zu einer der mächtigsten Gruppen der Gegend aufgestiegen. Und er würde es nie vergessen, wie sie Jerold und seine Jungs zum ersten Mal kassiert hatten. Jerold hatte es zwar verstanden, früh eine mächtige Bande aufzubauen, aber er hatte sich schnell viele Feinde gemacht, zu viele Feinde. Dass er sich mit anderen anlegte war zu verstehen, aber er hatte auch begonnen, Schwarze fertig zu machen. Der Druck wurde zu groß und seine Bande zerbrach. Jerold saß im Gefängnis und konnte darüber noch froh sein: Viele seiner engen Vertrauten waren bei den blutigen Bandenkriegen gestorben.
Heute aber hatte Eusébio Anderes im Kopf. Seine Mutter hatte einen neuen Job, lief neuerdings nur zur Arbeit. Das hieß, dass er jeden Nachmittag mit ihrem Kombi ins Umland fahren und dort trainieren konnte. Er erfand schnell eine Ausrede mit einem Job und Hausarbeit und machte, dass er wieder in den Unterricht kam. Wenn sie jemals erführen, dass er sie wegen des Radsports vernachlässigte, würden die Pepes ihn ausschließen. Das war schlimmer als nur zusammengeschlagen zu werden: Die anderen Gangs würden davon erfahren, er wäre für sein Leben gebrandmarkt. Und in seiner Gegend war dass das Todesurteil.
Nach der Schule nahm er den Hinterausgang, rannte, um einen Bus nach Hause eben noch zu erwischen und war schnell zu Hause. Erleichtert aß er etwas. Wovor hatte er solche Angst? Hatten sie je etwas gegen den Radsport gesagt? Das nicht, aber Radfahren war uncool. Da war er sich sicher. Er packte schnell seine Sachen zusammen und ging nach hinten um an seinem Rad zu werkeln. Lange hatte er sparen müssen um es sich leisten zu können. Es war zwar nichts, verglichen mit den Maschinen seiner Konkurrenten, gegen die er noch am Wochenende gefahren war, aber trotzdem war es das Wertvollste, was er je besessen hatte. Teurer als das Auto seiner Mutter. Viel teurer als das Auto, das er vor seiner Zeit im Gefängnis gefahren war. Liebevoll tröpfelte er Öl in das Schaltwerk. Gestern hatte er den Schmutz des Rennens abgewaschen, heute Nachmittag würde er wieder auf ihm herum fahren.
Da klopfte es. Er raffte seine Sachen zusammen und ging nach oben. Carlito stand vor seiner Tür, zusammen mit Jorge.
„He, ich hab’s mir überlegt. Du kommst mit. Ich will dich dabei haben“ begrüßte er ihn. Eusébio versuchte zwar, zu widersprechen, wusste aber, das es keinen Zweck haben würde. Immerhin ging es heute um ihre Ehre, da konnte sich eigentlich keiner drücken. Im Geiste nahm er Abschied von seinem Ausritt, nahm Abschied von seinem Rad, von seiner Trainingseinheit. Er rannte schnell nach oben, holte sich einen weiten Sweater und zog dann die Türe hinter sich zu.
In Carlitos Wagen, der vor der Tür stand, warteten noch zwei andere Mexikaner. Sie zogen an einem Joint, den sie brav weiter reichten, als er einstieg. Sie drehten die Musik wieder auf und los ging es. Ein Nachmittag, wie er ihnen gefiel, stand bevor.
Sie kreuzten eine Weile durch das Ghetto und luden noch mehr Jungs ein. Am Ende kreuzten sie mit vier Autos und 16 Mann umher. Eine Weile genossen sie das Gefühl, dass sie die Gegend beherrschten. Anonyme, eintönige, gleichförmige amerikanische Vororte. Ein Haus neben dem anderen. Immer wieder schloss Eusébio die Augen, machte sie wieder auf und konnte doch keinen Unterschied erkennen. Abgebrannte Häuser, Geschäfte mit vergitterten Fenstern, brüchige Straßen, herausgerissene Schilder, ausgeraubte Autos, Müll überall. Es war das Detroit, das er kannte.
Nach einiger Zeit wurde es ihnen langweilig und sie fuhren zu der alten Autowerkstatt, die ihnen als Unterschlupf diente. Carlito schnauzte jeden von ihnen an, der sich Alkohol aus dem Kühlschrank nehmen wollte: Er wollte nicht, das sie besoffen waren, wenn es zur Sache ging. Jorge öffnete das kleine Kellerverließ, in dem sie ihre Waffen bunkerten. Die meisten von ihnen hatte kaum Ahnung von, aber dafür jede Menge Übung im Umgang mit Schusswaffen. Hinzu kamen ein paar Messer und andere Dinge. Nachdem sie sich ausstaffiert hatten hockten sie sich in einem Kreis zusammen. Carlitos ließ nun doch eine Flasche Wodka kreisen, um ihnen Mut zu machen. Von hier an wurde es ernst. Die Späße und die Frotzeleien hörten auf. Gespannte Stille trat ein. Als sie wieder in den Autos saßen wurde die Musik herunter gedreht. Sie schauten sich kaum noch in die Augen, jeder war mit sich selbst beschäftigt.
Eusébio starrte auf die Waffe, die er in den Händen hielt. Sie sah gefährlich aus, tödlich. Er wusste zwar, dass die meisten von ihnen miserable Schützen und Treffer selten waren. Aber er passierte immer wieder, dass doch jemand getroffen wurde. Der schale Geschmack in seinem Mund, der Klumpen aus Eis in seinem Magen, all das zeigte ihm, dass er sich fürchtete. Das war gut. Ohne Furcht würde er nicht überleben. Vorsichtig lud er die Waffe durch, achtete darauf, dass die Sicherung drin war. Der Kontakt mit der Pistole, die simple Bewegung, gab ihm Sicherheit zurück. Er war imstande, sich zu verteidigen.
Sie tasteten sich langsam vorwärts in feindliches Gebiet. Einer von ihnen rief ein paar Leute an, die er kannte. Scheinbar waren die Tigers bei einem ihrer Mitglieder zu Hause und ballerten sich zu. Sie parkten in Sichtweite, schalteten die Lichter und die Musik ab und warteten.
Die plötzliche Stille war das Schlimmste. Jedes Räuspern, jedes Umherrutschen auf dem Sitz war zu hören. Eusébio sah sich um und konnte im Dunkeln die Augen seiner Jungs weiß leuchten sehen. Seine schweißnassen Hände umklammerten seine Pistole, seine Hoffnung, seine einzige Chance, heil hier heraus zu kommen.
Er kannte ihre Gegner kaum. Es war eine relativ neue Gang, eine Gruppe Schwarzer, die sich hier breit machten. Bisher waren die Tigers und „Los Pepes“ nicht aneinander geraten, daher würde es wohl nur ein kurzes Erschrecken der möglichen Widersacher und ein gegenseitiges Abtasten werden. Üblicherweise dauerte so ein Feuergefecht nur etwa eine Minute, bis sich einer der beiden Seite vor Angst in die Hosen pisste und das Weite suchte. Dieses Mal sollte es eher noch harmloser werden.
Nach dem ganzen Warten ging es auf einmal ganz schnell. Sie konnten hören, wie zwei Männer sich unterhielten. Eie Tür des Hauses, vor dem die anderen Autos standen, ging auf und eine kleine Gruppe Jugendlicher ging nach draußen. Sie waren schwarz. Leise öffnete Eusébio die Tür und kauerten sich hinter das Auto. Es dauerte eine Weile, viel zu lange, bis sie alle draußen waren. Ihre Blicke suchten Carlito.
Dieser richtete sich langsam auf, spähte hinüber und wartete. Dann, als alle draußen waren, richtete er sich auf.
„Das ist ein Gruß von „Los Pepes“!“ schrie er, während sich die anderen Gangmitglieder erhoben. Die erstarrten Glieder und Minen auf der anderen Seite der Straße verrieten, das die Tigers wohl zum ersten mal in einer solchen Situation waren, offenbar aber den Ernst der Lage erkannt hatten.
Eusébio richtete seine Waffe an beiden Armen ausgestreckt auf die Umrisse der Jugendlichen, die im Schein der Außenbeleuchtung beieinander standen und drückte ab. Krachend durchbrachen Schüsse die Stille der Nacht. Er sah Holz splittern, eine Scheibe wurde getroffen. Ihre Gegner flüchteten zum Teil ins Haus, zum Teil sprangen sie von der Terrasse hinab in den Garten.
Jetzt, da niemand mehr zu sehen war, klang das Geschieße nicht etwa ab. Eher im Gegenteil: Noch wütender als zuvor durchlöcherten sie die Front des Hauses. Glas splitterte, dumpf schlugen Kugeln in die Holzwand ein. Doch plötzlich, wie auf Kommando, begann der Gegenschlag: Die Tür wurde aufgerissen und ein paar Jugendliche stürmten heraus. Gleichzeitig kamen die Geflüchteten zum Vorschein während oben im Haus, aus zersplitterten Fenstern, ebenfalls Waffen auf sie gerichtet wurden.
Die Schrecksekunde, die von einer eigenartigen Stille erfüllt war, wurde vom Lärm zerrissen. Deutlich konnten sie Maschinenpistolen rattern hören. Sie spürten die Einschläge der Kugeln in den Rümpfen der Autos. Sie duckten sich, nach Deckung suchend. Dann gab es einen Knall und eine Flammenwand hüllte eines ihrer Fahrzeuge ein. Keine Druckwelle, es war ein Brandsatz. Panisch blickte Eusébio sich um. Sie waren erwartet worden.
Anstatt jedoch den Rückzug anzutreten richtete er sich erneut auf und feuerte wahllos in Richtung des Hauses. Die Hitze der Flammen versengte seine Haut, aber er schoss sein Magazin leer und ließ sich zurück in die Deckung fallen. Seine Kameraden, die eben noch fliehen wollten und ihn entgeistert angestarrt hatten, taten es ihm nach. Er suchte in den weiten Taschen seines Sweaters nach dem Ersatzmagazin, das er sich eingesteckt hatte, und versuchte, nachzuladen. Im Dunklen brauchte er einige Versuche, aber schließlich hatte er Erfolg und kam wieder aus dem Schutz des Autos empor.
Wie in Trance feuerte er. Das Feuer brannte immer noch, die Schießerei hatte nicht nachgelassen. Plötzlich ertönten Schmerzensschreie vom Haus her. Jemand fluchte laut, jemand anders bellte Kommandos. Plötzlich brach das Feuer ab, ihre Gegner rannten um ihr Leben. Einige ungezielte Kugeln flogen ihnen nach, dann erfüllte Jubelgeheul die Nacht. Doch nicht lange, dann hörten sie die Sirenen, die sich näherten. Schnell stiegen sie in ihre Autos, ließen das brennende zurück und machten, dass sie davon kamen.
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Verfasst: 6.8.2008 - 21:19
von arkon
Nachdem sie ihre Waffen zurück gebracht hatten versammelte Carlito seine Jungs um sich.
„Das war hart heute, aber ich bin stolz auf euch. Die Schwu… wollten es uns zeigen, aber sie haben nicht mit unseren dicken, fetten Klö… gerechnet! Wir sind keine feigen Hunde, keine dreckigen Ni…, wir sind stolze Mexikaner!“ Gejohle erfüllte die kleine Halle.
„So, jetzt lasst uns feiern. Ich schmeiß eine Runde.“ Mit diesen Worten holte er eine Tüte aus dem Kühlschrank, die bis obenhin randvoll mit Flaschen war und ließ sie einmal herum gehen. Als sich die Menge zu zerstreuen begann passte Carlito Eusébio ab.
„He, das war heute echt mutig von dir. Ich bin stolz auf dich“ Er ließ seine Hand auf die Schulter des Kolumbianers fallen und knetete sie.
„Du hast einmal mehr gezeigt, dass du würdig bist, mit „Los Pepes“ rum zu hängen“ Er wuchs ein Stück. Das war das höchste Kompliment, das Carlito einem machen konnte.
„Du kommst doch noch mit feiern? Oder willst du dich nach Hause verdrücken?“
Eusébio stockte zwar eine Sekunde, als er daran dachte, dass er morgen eigentlich trainieren wollte und er das mit einem Kater niemals schaffen würde, aber willigte dann doch ein.
Die Party stieg in irgendeinem Haus. Er wusste weder genau, wo er war noch bei wem er war. Es gab Alkohol, Gras und Frauen, das war alles, was ihn interessierte. Er pflanzte sich auf eine abgeranzte Couch, ein Glass mit billigem Whisky vor sich und grub das Mädchen an, neben das er sich eher zufällig gesetzt hatte. Nach ein bisschen Small-Talk und einigen anzüglichen Bemerkungen fasste er ihr an die Brüste und bekam eine Ohrfeige. Schallend lachte er, während sie errötend das Weite suchte.
Er nahm einen tiefen Schluck und noch bevor er sich umdrehen konnte wurde er angesprochen. Eine strahlende Schönheit setzte sich neben ihn.
„Es kommt wohl nicht jeder mit deinen Umgangsformen klar?“
„Willst du es versuchen?“ gab er zurück, grinste sie an und begaffte sie. Ihre langen, schwarzen Haare umrahmten ihr volles, dunkles Gesicht mexikanischen Einschlags. Aus einem etwas zu engen Top quollen große Brüste hervor. Sie hatte eine ausgesprochen weibliche Figur. Und sie kicherte, um die unangenehme Stille zu überbrücken.
„Ich bin Juana“ stellte sie sich vor und reichte ihm ihre zierliche Hand.
„Eusébio“ erwiderte er knapp und kippte den restlichen Inhalt seines Glases in sich hinein. „Geh mir mal was holen“ Erstaunt sah sie ihn an, zeigte ihm einen Vogel. Er winkte mit dem Glas und erwiderte ihren Blick. Seufzend erhob sie sich und ging in die Küche. Grinsend beugte er sich vor und baute sich einen.
Sie kam zurück, etwas zickig. Er schenkte ihr kaum Beachtung, nahm das Glas und stellte es vor sich hin. Dann zündete er seinen Joint an, nahm einen tiefen Zug und reichte ihn an sie weiter. Erst etwas zögernd, dann mutiger, spielte sie sein Spiel mit. Am Schluss verließen sie, für ihn wenig überraschend, zusammen die Party und stolperten hinaus auf eine trostlose, kalte und nur spärlich erleuchtete Straße, wie es sie Detroit zu Tausenden gab.
Er zog sie eine Zeitlang mit sich, ohne zu wissen, wohin er ging, drückte sie dann ihn einen Hauseingang gegen die Tür, genoss ihren kleinen Schrei beim Aufprall und küsste sie wild. Immer, wenn anfing, mit einem Mädchen zu flirten, fragte er sich, wie sie wohl schmeckte, wie sich ihre Lippen anfühlten, sie sie wohl küsste. Und jedesmal war er über die Antwort erstaunt.
Er strich ihr über die Haare.
„Hast du ein Auto hier?“ hauchte er ihr ins Gesicht.
Statt einer Antwort kramte sie in ihrer Tasche herum und förderte einen Schlüssel hervor. Er nahm sie an die Hand und führte sie wieder auf die Straße hinaus. Während sie ihm die ungefähre Richtung wies krallte er sich den Schlüssel. Es gab nicht viele Wagen auf dieser Straße, noch weniger Fords, und so konnte er das Auto leicht finden. Wie selbstverständlich setzte er sich hinters Steuer und fuhr los. An jeder Kreuzung beugte er sich herüber zu ihr und küsste sie und entschied dann mehr zufällig in welche Richtung er fahren wollte. Schließlich parkte er den Wagen auf einem kleinen Schotterplatz unter einer Autobahnbrücke.
Er hatte es noch nie in einem Auto getrieben und war daher überrascht, wie eng und umständlich es vonstatten ging. Juana war leidenschaftlich und ausgehungert, was er erwartet und ausgenutzt hatte. Es war kein großartiger Sex, aber er stillte sein Verlangen. Erschöpft sank er danach auf ihr zusammen und sagte eine ganze Weile gar nichts.
Dann schließlich, es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, zog er ihn heraus, warf das Kondom aus dem Fenster, setzte sich ans Steuer und fuhr sich nach Hause. Ohne ihr einen Kuss zum Abschied zu geben verließ er mit einem gemurmelten „Bis dann!“ das Auto, warf die Tür hinter sich zu und schleppte sich, ohne zurück zu blicken, im ersten Morgengrauen in sein Haus.
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Verfasst: 6.8.2008 - 21:49
von Trab'pu Kcip
Großartige Story bisher!
Auch dein Schreibstil gefällt mir sehr gut.. die Texte lassen sich flüssig lesen, so dass man nicht nach der Hälfte Motivationsprobleme bekommt :lol:

Verfasst: 7.8.2008 - 14:25
von arkon
Der Sportunterricht war die einzige Stunde in der Schule, die Eusébio nicht nervte. Zum einen unterrichtete sie Marc, zum anderen kam er ein wenig auf Distanz zu den ganzen Leuten in der Klasse, mit denen er nicht so gut klarkam. Denn obwohl er als Gangmitglied von allen ein wenig gefürchtet wurde, so konnte er doch keinen von ihnen ausstehen. Sie kuschten vor ihm, versuchten, sich einzuschleimen. Als Kolumbianer war er zwar prinzipiell Außenseiter und es war schwer für ihn gewesen, in eine mexikanische Gang hinein zu kommen. Für die ganzen kleinen Pinsel in ihrer Klasse wurde er dadurch nur umso mehr zum Held.
Heute stand Basketball auf dem Programm. Wie immer gab es zuerst einen kleinen technischen Teil auf den das Spiel folgte. Da er klein war hatte Eusébio Probleme im Spiel, aber er störte sich nicht daran. Er versuchte, sich bei Sprüngen zu schonen und rannte den Rest der Zeit wie der Teufel. Auch wenn er vor dem Korb nicht so gefährlich war wie seine meist schwarzen Klassenkameraden so war er doch überall präsent. Sein Team gewann knapp das kleine Turnier, das sie veranstalteten.
Nach der Stunde rief ihn Marc noch einmal zu sich.
„He, starke Leistung. Wusste gar nicht, das du auch mal ein Teamplayer sein kannst“
Eusébio nickte verbissen. Er wusste, worauf sein Lehrer anspielte: Es fiel ihm schwer, seine eigenen Interessen für das Wohl des Teams zurück zu stellen. Das war immer so gewesen, und war es eigentlich auch immer noch. Heute hatte er auch nicht annähernd sein ganzes Können gezeigt, sich nicht soweit gequält, wie er es gekonnt hätte. Und Marc wusste, dass sich das ändern musste, wollte sein Schützling in der Radsportwelt Karriere machen.
„Ich würde gerne mit dir die Woche noch einmal rausfahren. Am Sonntag das Rennen wird wahrscheinlich ein bisschen leichter als die Red Boulder Classics. Trotzdem fände ich es interessant, mal zu schauen, wo du stehst. Ob dir mehr Training etwas bringen würde, wie viel Luft du noch nach oben.“
Er nickte abwesend. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Er wollte nicht trainieren. Er wollte das Rennen fahren. Jahrelang hatte er sich auf Praxis gefreut, auf den Wettkampf. Und jetzt musste er sich schon fast zwei Wochen lang gedulden.
„Wann immer Sie Zeit haben“ versicherte er seinem Lehrer. Er verabschiedete ihn höflich und ging dann in die Umkleide weiter. Hier war er einer der Letzten. In Gedanken versunken duschte er und zog sich um, ging dann hinaus.
Carlito musste schon lange hier gewartet haben. Er legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter und als Eusébio leicht zusammen zuckte und sich ruckartig umdrehte lachte er ihn freundlich an.
„Komm her. Hallo Compadre“
Sie begrüßten sich und hielten ein wenig Small-Talk. Es war immer das gleiche: Scheiß Lehrer, scheiß Schüler, scheiß Schule. Es stank sie beide an. Dann kam Carlito langsam zur Sache.
„Heißes Mädel, mit dem du neulich abgedampft bist. Wie hieß sie nochmal?“
„Das fragst du mich? Jo… irgendwas. Ich weiß es nicht mehr. Der Wagen war zwar etwas eng, aber er war nicht alleine…“ Sie lachten.
„Du, sie hat einen Freund, Lalo. Er war da an dem Abend, sie hatten sich gestritten. Ich hab ihn später gesehen, er ist verdammt wütend.“
Er schaute Carlito forschend an. War das ein Scherz? Es war keiner.
„Scheiß auf ihn. Er kann kommen, ich mach ihn fertig“
„Gut so, was anderes hatte ich nicht erwartet. Aber sei vorsichtig. Und wenn du sie wieder triffst…“ Er sah das Lächeln, das über Eusébios Gesicht huschte. „ Du wirst sie nicht wiedersehen, oder?“
„Ich habe es nicht vor, nein“
„Gut. Aber da gibt es noch eine andere Sache“ Er zog seinen Vertrauten enger zu sich während sie langsam in Richtung der Bushaltestelle gingen. „Bei der Schießerei ist es mir aufgefallen: Wir haben alle keine Ahnung von Waffen. Jeder Treffer ist Glück. Was hältst du also davon, wenn wir beide, du und ich, zu einem Schießstand gehen, uns ein paar Sachen zeigen lasse und ein Zielen üben?“ Er sah ihn erwartungsvoll an.
Carlito musste wirklich große Stücke auf ihn halten: Er fragte ihn zuerst. Er selbst und ihr Anführer. Er musste der erste sein, denn niemand würde es wagen, dieses Angebot abzulehnen.
„Wann, jetzt gleich?“
Statt einer Antwort grinste der Mexikaner nur und bedeutete ihn, ihm zu folgen. Er führte ihn am Bus vorbei, zum Schulparkplatz. Dort setzten sie sich in seinen Wagen und fuhren los. Eusébio war schon ein bisschen mulmig zu Mute, aber er schluckte sein Unbehagen hinunter. Er durfte keine Schwäche zeigen, schon gar nicht jetzt, als er dabei war, zur rechten Hand von Carlito zu werden.
Sie parkten den Wagen und schlenderten hinein. Die Frau hinter dem Empfang, natürlich schwarz, wollte von ihnen den Ausweis sehen. Sie notierte sich ein paar Angaben auf einer Liste, drückte ihnen eine Pfandmarke in die Hand und wies sie an, sich zu setzten und zu warten. Die Ausweise behielt sie. Nach ein paar Minuten wurden sie von einem Mann mittleren Alters begrüßt, ein etwas mürrischer, behäbiger Weißer, der sich als Mr. Robbins vorstellte. Er las ihnen eine lange Liste an Bestimmungen vor und drückte ihnen dann ihre Waffen in die Hand, natürlich ungeladen.
Nachdem er ihnen ausführlich erklärt hatte, wie die einzelnen Teile hießen und wozu sie dienten ging es weiter auf die eigentliche Schießbahn. Sie bekamen vorher noch zwei Magazine in die Hand gedrückt. Robbins stellte sich zwischen sie und machte ihnen vor, wie sie ihre Waffen zu laden hatten. Eusébio wurde schlagartig klar, warum er bei ihrer Nacht und Nebel Aktion so lange herumhantiert hatte. Jetzt, im hellen, erkannte er die Abläufe. Er übte es ein paar Mal, auch mit geschlossenen Augen, und war zufrieden.
Nun ging es zur Sache: Mr. Robbins zeigte ihnen, wie sie zu schießen hatten: Beine auseinander, Armhaltung, Arme ausgestreckt. Noch ohne einen Schuss abgefeuert zu haben fühlten sie sich schon deutlicher sicherer. Zum Abschluss feuerten sie noch die zwei Magazine leer und waren beeindruckt: Es war ziemlich einfach, einigermaßen gezielte Schüsse abzugeben, wenn man nur wusste, wie.
Als sie wieder im Auto saßen und Carlito davon schwärmte, wie viel einfacher und überlegener ihre nächste Auseinandersetzung mit einer anderen Gang ablaufen würde wurde Eusébio mulmig. Die ganze Zeit hatte er schon ein ungutes Gefühl gehabt, aber jetzt wurde ihm klar, wieso:
Die Schießereien, in die sie verwickelt waren, waren mehr ein Spiel. Ein Spiel von großen Jungs. Es ging darum, wer als erster Angst bekam. Kaum wurden jemals Leute getroffen, fast nie getötet. Es entstand nur immer ein ziemlicher Sachschaden. Die Tigers hatten sich große Waffen gekauft. Nicht etwa, weil sie wirklich vorhatten, viele von ihnen zu töten, sondern vielmehr, weil sie ihnen viel Angst einjagen wollten. Und nun würden sie beim nächsten Mal… ja, sie würden jemanden töten. Das alleine jagte ihm nicht soviel Angst ein, vielmehr die Konsequenz: Wenn sie auf einmal anfingen, das ganze professioneller zu machen, dann würden die anderen sicher schnell auf die gleiche Idee kommen. Und das würde das Gesicht der Gangkriege, der ganzen Gegend hier verändern.
Und noch etwas machte ihm Sorgen: Kokain. Bisher waren es nur Gerüchte, die liefen, und von Carlito hatte noch nichts dazu gehört. Aber es deutete sich an, dass in ihrer Gegend ziemlich bald das Kokain einschlagen würde. Die Gangs, bislang eher Freizeitfüller und Machtinstrumente, die nebenbei etwas Gras vertickten, waren ins Fadenkreuz von größeren Drogenhändlern geraten. Und diese wollten hier, nach und nach, einen neuen Markt erschließen. Die Strukturen gab es schon, sie mussten nur noch ausgefüllt werden.
Eusébio selber hatte noch nie gekokst. Die Droge war bisher relativ selten hier. Doch man erzählte sich bereits, wer von wem für welchen Preis kaufen würde. Und Carlito stand todsicher schon im Kontakt mit irgendwelchen Bossen. Es würde bald soweit sein. Wollte er deswegen Schießen lernen? Und warum nahm er ihn mit? Sollte er zu seinem Vize aufsteigen und selber anfangen, Drogen zu verkaufen? War das sein Plan für ihn, für die Gang?
Er selbst hatte Zweifel, dass es so glatt laufen würde. Denn der Markt war klein. Viel kleiner, als man es erwarten konnte. Das Problem war das Geld: In ihrer Gegend verdiente keiner irgendetwas. Es würde sehr schwer werden für die „Kunden“, das Geld aufzubringen, welches die Bosse sehen wollten. Eigentlich waren die Gangmitglieder die einzigen, welche wirklich das Geld haben würden, um sich Koks leisten zu können. Und wozu das führen würde, das wollte er sich gar nicht erst ausmalen…
[post a_5]

Verfasst: 7.8.2008 - 17:38
von $$_gibo_$$
Der absolute Hammer 8O
Normalerweise schrecken solche Textlänge vom lesen ab, aber bei deinen Beiträgen wäre man froh wenn sie noch viel länger wären :)
Deine letzte Geschichte mit Jerdona war schon geil, aber die hier toppt echt alles :D
Mach bitte schnell weiter :P

Verfasst: 7.8.2008 - 20:57
von Megamen 1
Kann mich gibo nur anschliessen, Top AAR

Verfasst: 11.8.2008 - 12:43
von arkon
Es war spät geworden. Eigentlich war das nicht seine Art, aber er hatte über das Training die Zeit vergessen. Die Dämmerung fiel schon, als er den rostigen Kombi seiner Mutter durch das Straßengewirr von Detroit lotste. Er kam vom Norden, jenseits der 8Mile-Road. Das hatte zwei Gründe: Zum einen würde er dort nie jemanden treffen, den er kannte, zum anderen gab es dort Hügel. Keine Berge, aber Hügel. Schon länger war er in diesem Gebiet unterwegs und langsam kannte er die Routen, auf denen es genug bergauf- und bergab ging.
Die Kehrseite der Medaille war der lange Weg. Vor allem der Weg zurück nervte ihn. Es war relativ deprimierend, aus der schönen, ruhigen Nachbarschaft, welche im Norden die Ausläufer von Detroit markierte, zurück zu lassen und hinein zu fahren. Hinein in die große Stadt. Es war eine lange Fahrt, hauptsächlich über die Interstate 75. Und mit jedem Kilometer, den er fuhr, wurde die Gegend übler. Die Häuser standen enger beieinander, die Farben waren nicht mehr so leuchtend. Und es mischten sich Industriegebäude darunter. Dann, als er seine Abfahrt nahm, wurden die Straßen auch noch schlechter. Viele Seitenstraßen in dieser Gegend waren von Rissen überzogen, aus denen Graß wucherte. Und immer öfter gab es ganze Blocks, in denen kein Haus mehr stand. Hier und da noch abgebrannte Ruinen, der Rest war schon niedergerissen worden. Das war seine Heimat, hier wohnte er.
Er hielt vor seinem Haus als es schon dunkel geworden war. Er parkte den Wagen ein paar Schritte entfernt und zog die Handbremse. Er seufzte. Mit jedem Mal wurde es schwerer, sich damit abzufinden. Zufrieden damit zu sein, hier zu wohnen. Er spürte in sich stärker und stärker den Wunsch wachsen, von hier zu verschwinden. Das war der Grund, warum er so hart trainierte. Nur das trieb ihn an.
Er verließ den Wagen, schloss widerwillig die Türe und packte sein Rad aus. Mit hängendem Kopf schob er es zu seiner Haustüre. Doch bevor er ganz da war schreckte ihn eine Stimme auf.
„He Forastero!“ Es lag Eis in ihr. Langsam drehte er sich um. Es war ein beleibter Mexikaner. Er kannte ihn nicht, aber vom Blick, der in seinen Augen lag, wusste sofort, wer vor ihm stand. Langsam legte er sein Rad hinter sich. Er wendete den Blick nicht ab.
„Was willst du?“ fragte er leise und bestimmt.
„Du weißt es genau“ erwiderte sein Gegenüber. Jetzt, da er sein Gesicht ein wenig drehte und es schwach angeleuchtet wurde, konnte Eusébio sehen, das er vor Wut schäumte. Er war nicht Herr seiner selbst. Und er war nicht hergekommen um zu reden.
„Ich bin Lalo und du hast meine Freundin gefickt“
Ruhig stand Eusébio da. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu argumentieren. Zu oft schon war er in solchen Situationen gewesen. Und er war trotzdem zu jung und impulsiv um zu versuchen, den Streit zu schlichten. Und zu stolz.
„Ja, du Arsch, das hab ich. Und jetzt mach, dass du davon kommst, sonst brech ich dir alle Knochen“
Lalo fing an, um ihn herum zu wandern. Er war unruhig und aggressiv und nur das herrische Gehabe seines Gegenübers hielt ihn noch vom Angriff ab. Eusébio musterte ihn. Hatte er ein Messer? Einen Stock? Eine Pistole? Oder war er so dumm und kam unbewaffnet?
„Was willst du hier?“
„Glaubst du ernsthaft, du kommst ungestraft davon? Du kannst sie einfach ficken und dann verschwinden? Du Wichser!“
Es kam nicht halb so verächtlich rüber, wie Lalo es beabsichtigt hatte. Er musste schmunzeln.
„Und du? Willst du das wirklich durchziehen? Willst du dich mit mir anlegen? Hinter mir stehen mehr. Und wenn du heute, nein jetzt, die falsche Entscheidung triffst, dann wirst du große Probleme haben in deinen kommenden Jahren hier im Ghetto.“
Aber seine Worte wurden nicht mehr gehört. Ohne einen Schrei, mit einem kräftigen Schnaufer stürzte sich sein Gegenüber auf ihn. Eusébio sah Stahl aufblitzen. Mit einer geschmeidigen Bewegung wich er aus und griff in die Innentasche seiner Jacke. Der Gummigriff seines Messers lag fest in seiner Hand. Nun waren sie auf gleicher Stufe. Der Kolumbianer lauerte. Er war nichts zum ersten Mal in einer Messerstecherei und wusste, wie er sich verhalten musste, um heil heraus zu kommen. Er hatte es nicht immer gewusst. Unwillkürlich fasste er sich mit der freien Hand an die Brust, dort, wo ihn eine Narbe an einen nicht ganz so glücklichen Abend erinnerte, der im Krankenhaus endete. Menschen können wirklich mehr überleben als man gemeinhin glaubt.
Lalo verlor, wie konnte es anders sein, zuerst die Geduld. Ungestüm rannte er auf ihn zu, das Messer weit erhoben. Wieder wich Eusébio aus, doch diesmal hieb er in der Drehung nach dem Rücken seines Gegners. Ein dumpfes Geräusch und das Gefühl, einen Widerstand durchstoßen zu haben zeigten ihm, das er getroffen hatte.
Der Andere fiel ohne viel Aufhebens zu Boden, wo er röchelnd liegen blieb. Wut wallte ihn Eusébio auf. Er hatte ihn verdammt nochmal töten wollen! Und es hätte auch bei weitem nicht so glatt laufen können. Er folgte seinem Impuls und trat dem Daniederliegenden in die Seite.
Erst jetzt bemerkte er das Fahrrad, welches unter dem Körper lag. Er drehte ihn beiseite. Stöhnend fiel der Geschlagene auf den Rücken. Sein massiger Körper schien nur noch totes Gewicht zu sein, das er mit sich herum schleppte. Und als Eusébio genauer hinblickte konnte er sehen, wie sein Blut über die frisch geölte Mechanik seines Rades lief.
Er stockte. Sah ihm ins Gesicht. Es war weiß. Aus seinen Augen meinte er die blanke Panik lesen zu können. Es war keine Angst, die Lalo fühlte. Es war Todesangst. Während er auf dem schlammigen Boden des Vorgarten lag und in das braune, gefasste Gesicht Eusébios blickte musste Lalo fühlen, wie die Hand des Todes ihn mit ihren kühlen, unerbittlichen Fingern packte und begann, ihn mit hinab zu ziehen.
Eusébio riss sich selbst empor. In einem Anfall von Panik packte er den Körper und schleppte ihn an seinen Händen durch den Garten. Als er sich umdrehte bemerkte er, dass er das Auto ja woanders geparkt hatte. Er legte Lalo in den Sichtschutz hinter einen anderen Wagen auf den brüchigen Bürgersteig und rannte über die Straße. Nachdem er kurz mit seinen Schlüsseln hantiert hatte bekam er die Tür auf.
Bevor er den Wagen startete atmete er noch einmal tief ein. Er blickte auf seine Hände, die wild zitterten. Warum hatte er Angst? Er hatte schon getötet, er hatte schon viele Leute ins Krankenhaus gebracht. Warum fühlte er sich heute anders? Vielleicht weil diesmal sein Gegner in seinem Vorgarten, auf seinem Fahrrad zu verbluten drohte?
Mit quietschenden Reifen jagte er den rostigen Kombi die wenigen Meter hinüber zu seinem Grundstück. Den Kofferraum geöffnet setzte er nach hinten soweit zurück, wie es möglich war. Nun kam der schwere Teil: Er musste all seine Kraft aufwenden um den schweren, fettbeladenen Körper hinauf zur Ladeklappe zu hieven. Es dauerte lange und das leise Stöhnen Lalos erfüllte die Dunkelheit, immer, wenn er wieder auf den Boden hinab sackte. Schließlich aber war er im Auto, an der gleichen Stelle, an der noch vor wenigen Minuten das Fahrrad gelegen hatte.
Eusébio war froh, endlich fahren zu können. Aber nun kam der eigentlich schwerste Part: Wie konnte er ihn am Krankenhaus abladen, ohne, das er in Verdacht geriet? Die ganze Fahrt über kreisten seine Gedanken um nichts anderes. Sicher, er hatte keine Schuld. Aber wenn es zu einem Verfahren käme, würde es der Richter genauso sehen? Oder würde er nur den kleinen Kolumbianer vor sich sehen, Kind des Ghettos, der in seinem Leben sicher schon genug verbrochen hatte um die Strafe, die auf ihn zukam, zweimal zu rechtfertigen. Er hatte nicht vor, es darauf ankommen zu lassen.
Als er ankam erwiesen sich seine Überlegungen als übertrieben: Sobald er den Kofferraum geöffnet hatte, noch bevor er beginnen konnte, den Körper hinaus zu ziehen, stand schon ein Pfleger neben ihm. Offenbar wusste der Mann, wo er anzufassen hatte und so bekamen sie Lalo schnell und nahezu mühelos aus hinaus gewuchtet. Noch bevor sie aber die Schwelle des Krankenhauses überschritten hatte ließ Eusébio seinen Teil der Last absacken, drehte sich um und rannte zurück zu seinem Auto. Er hatte noch ärgere Probleme als vorher, den Schlüssel in das Schloss zu bekommen. Im Zurückschauen erkannte er, dass der Pfleger wohl nicht sehr überrascht über seine Flucht war. Gut. Er schob den Schalthebel der Automatik auf D und machte, dass er davon kam.

[post a_6]
danke für die kommentare!

Verfasst: 14.8.2008 - 2:28
von Kim aka KKdL
Der erste AAR seit langem den ich wieder mitverfolge! Wollte eigentlich wieder mit Zeres anfangen, da ich irgendwann den Faden verloren hatte...ist nun aber nicht mehr nötig :D

Verfasst: 15.8.2008 - 16:22
von arkon
Einer der anderen, raren Erinnerungen an seinen Vater begann ebenfalls an einem Morgen. Eusebio konnte sich ebenfalls nicht mehr genau erinnern, wie lange es wohl her gewesen sein mochte. Aber wie eingebrannt stand noch die eine Szene in seinem Gehirn Er kam hinunter, wollte frühstücken und da saß seine Mutter am Tisch, den Kopf in den Händen begraben, schluchzend. Sie hob ihren Kopf leicht, als er das Zimmer betrat. “Er ist weg” war alles, was sie sagte. Die Worte klangen noch immer klar und deutlich in ihm nach.
Im Nachhinein war ihm der Lärm wieder eingefallen, den er am Abend zuvor gehört hatte. Oder war es bereits Nacht gewesen? Er vermochte es nicht zu sagen. Aber es hatte sich nach einem Streit angehört. Türen wurden geschlagen, er konnte die schreienden Stimmen seiner Eltern hören. In dieser Gegend waren solche Szenen normal, oft konnte er den Nachbarn beim streiten zuhören, manchmal aber eben auch seinen Eltern.
Er hatte später nie mit seiner Mutter über diese eine Nacht gesprochen, daher konnte er nicht sagen, was genau sich ereignet hatte. Sie hatten sich gestritten, er hatte die Schnauze voll gehabt und war gegangen. Seine Mutter hatte die Nacht durch geweint. Er war am nächsten Morgen hinunter gekommen und hatte sie so vorgefunden.
Bis heute wusste er nicht, warum sein Vater gegangen war. Warum er ihn alleine zurück gelassen hatte. Er war alles für ihn gewesen. Von den gelegentlichen Reibereien mit den ersten, harten Jugendlichen seines Alters einmal abgesehen war die Zeit ziemlich friedlich gewesen. Sie hatten zwar im Ghetto gelebt, aber die Probleme hatten sich in Grenzen gehalten. Bis er sie, bis er ihn alleine gelassen hatte.
Auch heute noch kam es ihm vor wie die Urkatastrophe seines Lebens. Mit seinem Vater fehlte ihm der Puffer zu seiner Mutter, es fehlte ihm seine Stütze im Kampf mit seinen Altersgenossen und es fehlte die Richtung in seinem Leben. Sein Vater hatte immer Rat gewusst, hatte sich immer um ihn gekümmert. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass sich seine Erinnerungen mit der Zeit verromantisiert hatten.
Und nie war es ihm in den Sinn gekommen, diesen Morgen mit seiner Mutter zu besprechen.

[Post b_2]

Verfasst: 15.8.2008 - 16:37
von Ricardo84
Erinnert mich ein wenig an den Film Blood In Blood Out hehe...
was soll man groß dazu sagen... toll aufgebaut bisher alles, tolle story, super schreibstil... ganz große klasse!!

Verfasst: 23.8.2008 - 22:28
von arkon
Erst einmal einen herzlichen Dank an die jetzt vermehrt kommenden Kommentare. Ich freue mich über jedes einzelne ;).
Wenn dieser Post aus der Reihe zu tanzen scheint dann deshalb, weil er es tut: Grabba hat mir gestanden, das er schon die Hoffnungen an dieses Projekt aufgegeben hatte, als ich mit meiner letzten Pause begann. Es ist einer Reihe an anderweitigen Verpflichtungen geschuldet, keinesfalls aber meinem abnehmenden Interesse an diesem Projekt. Daher will ich euch für die nächste Episode auch gar nicht lange auf die Folter spannen und poste daher zum ersten Mal ohne lange Korrektur.
Viel Spaß!

Endlich. Er hatte sich lange auf diesen Tag gefreut. Das nächste Rennen stand vor der Tür. Drei Wochen waren vergangen. Eigentlich viel zu viel für seinen Geschmack, aber er musste sich wohl damit abfangen. Er war in letzter Zeit sehr fleißig trainieren gewesen, ein Grund mehr, warum er den Wettkampf herbei sehnte. Immer wieder waren ihm bei seinen Ausfahrten Bilder der Red Boulder Classics durch den Kopf geschossen und hatten ihn zu kleinen Zwischensprints animiert. Wer würde dieses Mal am Start stehen? Insgeheim hoffte er natürlich, Terence wieder zu treffen, wobei ihm natürlich klar war, das dieser ernsthafte Konkurrenz bedeuten würde.
Am Freitag fuhr er mit Marc hinaus, um einen Leistungstest, wie er es nannte, durch zu führen. Sein Lehrer hatte ihn dazu überredet, als er gerade angefangen hatte, leistungsmäßig Rad zu fahren. Sie hatten sich damals eine Strecke ausgesucht, die er zwei Mal abgefahren war. Jedesmal hatten sie die Zeit genommen. Zusätzlich hatten sie an charakteristischen Stellen der Strecke "Zwischenzeiten" montiert. Im Klartext hieß das einfach, dass Eusébio an der vereinbarten Stelle auf seinem Tacho einen Knopf drückte. Es war zwar ungenau, reichte aber fürs erste für ihre Ansprüche.
Er fuhr die Strecke zwei Mal ab. Das erste Mal eher lasch, um sich an den Parcours zu gewöhnen, das zweite Mal dann mit aller Kraft. Keuchend kam er im Ziel an, rollte aus, kehrte dann um und kam schließlich neben Marc zu stehen. Er stieg ab und beugte sich über sein Rad, um Atem kämpfend. Widerwillig machte er ein paar Schritte und trank einen Schluck während sein Lehrer ihm die Zeit mitteilte und eine neue Flasche anreichte.
"35 Minuten, 12 Sekunden. Ein neuer Rekord!" strahlte er ihn an.
Eusebio lächelte zurück, trank noch einen Schluck und stieg dann wieder auf sein Fahrrad um sich auszufahren. Obwohl es natürlich nur ein ungefährer Richtwert sein konnte machte es ihm doch Mut. Er war noch stärker als bei seinem letzten Rennen. Dieses Mal würde er sicher gewinnen.
Am Samstag fuhren sie wieder los. Es war Nachmittag, der Frühling war noch nicht so recht angekommen und dunkle, dicke Wolken taten ihr bestes, um die ohnehin trostlose Szenerie von Detroit noch unfreundlicher zu gestalten. Kurz nachdem sie sein Rad im Auto verstaut hatten fielen schon die ersten Regentropfen und prasselten gegen das Dach und die Windschutzscheibe. Ihn fröstelte leicht beim Anblick der überraschend unfreundlichen Szenerie, die Detroit bot, als sie aus der Stadt heraus fuhren. Er war froh, sie wieder einmal für einige Zeit hinter sich lassen zu können.
Der Rest der Reise verlief ziemlich routine- und wunschmäßig: Sie kamen pünktlich an, Eus￾bio konnte noch eine kleine Runde drehen bevor sie sich schlafen legten im Hotel, welches Marc schon im Vorhinein für sie gebucht hatte. Am nächsten Tag standen sie pünktlich auf, aßen gemeinsam und fuhren sich warm. Auch das Rennen bot keinerlei †berraschung für ihn: Auf dem welligen Parcours bröckelte das Fahrerfeld schnell auseinander, immer selektiver wurde das Tempo und schließlich begannen die Attacken. Wieder einmal kam Eus￾bio seine Menschenkenntnis zu Gute, als er routiniert die gefährlichen von den harmlosen Fahreren unterscheiden konnte und sich so schnell in einer kleinen, ernsthaften Gruppe wiederfand. Erst hier wurde ihm klar, das Terence nicht am Start war: Er wäre hier mit Sicherheit vertreten gewesen. So war es für ihn keine Herausforderung, in ausreichender Zielnähe selber zu attackieren, das Tempo noch einmal zu verschärfen um lästige Begleiter abzuschütteln und dann die Pose, welche er sich diesmal extra vor dem Spiegel eintrainiert hatte, zur Schau zu stellen.
Nicht routinemäßig waren allerdings die beiden Herren im grauen Anzug, die nach der Siegerehrung zu ihm kamen. Von der Statur konnte man klar erkennen das sie ein Team formten: Muskeln und Gehirn.
Der etwas untersetze Mann, der von einer beginnenden Glatze geplagt wurde, stellte sich vor.
"Ich bin Mr. Howard Stinson. Wir kommen von der US Cycling Association."
Die Hoffnung, hier schon entdeckt zu werden machte urplötzlich einem dumpfen Gefühl in der Magengegend Platz.
"Können wir uns vielleicht einen Moment mit ihnen unterhalten?"
Seine Körpersprache machte deutlich, das die Bitte nicht so unverbindlich gemeint war, wie sie unter Umständen verstanden werden konnte. Eusébio nickte matt und trottete in die Richtung, die ihm vom Koloss der beiden gewiesen wurde.
Sie nahmen in einem anonymen, ältlichen Wohnwagen Platz. Das Interieur war schmutzig und abgenutzt, überall lagen Papiere herum nebst Funkgeräten und anderem technischen Krims-Krams, den er nicht genau identifizieren konnte. Zweifelsohne wurden hier Rennen organisiert.
Stinson knipste eine etwas schummrige Lampe an, die dem Innenraum mit ihrem gelben Licht einen noch schmutzigeren Eindruck verlieh, und setzte sich, einen Stapel Papiere beiseite schiebend, ihm gegenüber auf eine Sitzbank. Das Polster war arg ramponiert und an vielen Stellen drang die Fütterung nach außen.
"Lassen sie uns ersteinmal die Gelegenheit ergreifen und ihnen zu ihrem Sieg gratulieren." Das dünne Lächeln, das ihm entgegengebracht wurde, hätte eher zu einer Krebsdiagnose gepasst.
"Unglücklicherweise für sie ist das ihr zweiter Sieg. Das ist an sich nichts schlimmes. Aber wir sind grundsätzlich an talentierten Jugendlichen interessiert und sehen uns daher in solchen Fällen den Sieger genauer an."
Eusébio schluckte. Es ging also mit Sicherheit nicht um ein Jugendförderprogramm eines europäischen Rennstalls.
"Wie sie sich denken können sind wir in ihrer Akte vor allem über eine Tatsache gestolpert: Ihr Alter."
Von unzähligen Besuchen im Büro des Rektors wusste er, wie er zu reagieren hatte: Gar nicht. Er versuchte, den Blickkontakt zu halten, seine Hände ruhig zu halten und sich nicht zu verkrampfen.
"Nun ist es unglücklicherweise auch unser Problem, da sie offenbar keine Probleme hatten, trotz ihrer 17 Jahre an diesen Rennen teil zu nehmen. Daher ist es für beide Seiten das Beste, wenn diese Geschichte nicht publik wird. Da sie ein außergewöhnliches Talent sind, dass ganz offensichtlich eine Zukunft als Radprofi hat, werden wir ihnen einen Bonus einräumen. Wenn sie nach unseren Regeln spielen."
Wieder schwieg Eusébio. Das versprach, interessant zu werden.
"Wenn sie bereit sind, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterzeichnen und bis zu ihrem 18. Geburtstag an keinem Rennen mehr teilnehmen, dann werden wir sie nicht auffliegen lassen."
"Eine Verschwiegenheitserklärung?" Kein alltägliches Wort im Ghetto.
"Ein Vertrag, der sie dazu verpflichtet, Stillschweigen zu Bewahren. Wir werden das Regelwerk für diese Rennklasse rückwirkend anpassen, auf diese Weise sind sie quasi legal mitgefahren. Wenn diese Siege später in ihren Palmares auftauchen haben sie nichts zu befürchten."
"Und was passiert, wenn ich Rede?"
"Das wird im Vertrag festgelegt. Eine Geldstrafe plus ein Verbot zur Teilnahme an jeglicher Veranstaltung, die von uns Ausgerichtet wird. Hausverbot."
Eusébio schwieg, starrte seinen Gegenüber an. Sie hatten Scheiße gebaut und nun wollten sie ihre Fehler auf seine Kosten ausbügeln. Er lachte trocken.
"Vergesst es. Ich werde nichts unterschreiben. Und ich werde weiter fahren. Ich werde euch nicht verpfeifen, aber das war es auch schon."
Er lehnte sich vor.
"Wenn ich auffliege dann ihr mit mir. Das ist eure Sicherheit, das ist meine Sicherheit."
Das Schweigen war plötzlich und erdrückend. Der kleine Kolumbianer starrte seinen Gegenüber an, in seine Blicke die Härte und Kälte, die ihm etliche Jahr des Kämpfens um jeden Millimeter in einer der berüchtigsten Gegenden beigebracht hatten. Dieser sah erst nervös auf die Tischplatte und dann hinüber zu seinem Kollegen. Dieser lehnte sich vor in den Lichtkegel der trüben Deckenlampe und machte zum ersten Mal seinen Mund auf.
"Hör mal zu du kleiner Scheißer. Das Angebot ist das Beste, was wir unterbreiten werden, aber sicher nicht das einzige, was wir unterbreiten können. Also wisch deinen bescheuerten und aufgesetzten Stolz beiseite und schalt dein Gehirn ein.
Du willst doch irgendwann einmal Profi werden?" Er hielt einen Moment inne und obwohl die Frage mehr rhetorisch gemeint war nickte Eusébio unwillkürlich mit dem Kopf.
"Wenn du also nicht eine ganze Kategorie besser als Lance Armstrong bist wirst du uns, deinen Verband, brauchen. Wenn wir wollen können wir dir ganz erheblich in die Suppe spucken, denn noch kennt dich keiner, noch bist du auf uns angewiesen. Also unterschreib das Ding, geh nach Hause und sei heilfroh, das du so glimpflich daovn gekommen bist."
Wieder entstand eine Pause, die der Angesprochene dazu nutze, seine Optionen durch zu gehen.
"Haben sie den Vertrag hier?"
Stinson blickte zu seinem Kollegen und in seinem Blick lag Erleichterung über den nahenden Sieg. Dieser aber fokussierte sich weiter auf sein Opfer.
"Nein. Die Entscheidung kam relativ spontan nachdem wir heraus gefunden haben, wie alt du bist. Glaub mir, ich hätte dich noch vor der Siegerehrung hoch genommen. Du hast es Mr. Stinson und seinem Vertrauen in deine Fähigkeiten zu verdanken, das ich es nicht getan habe."
Eusébio blickte zu dem kleinen, fast glatzköpfigen Mann und realisierte erst in diesem Moment, das er das Duo völlig falsch eingeschätzt hatte. Jetzt erwiderte er seinen Blick und zum ersten Mal sah er in seinen Augen die Bewunderung, die Verehrung seiner Fähigkeiten, die schon seit ihrer Begnung darin gelegen hatte.
"Ok, ich stimme zu. Schicken sie mir den Vertrag zu. Eine Bedingung habe ich aber noch"
Er hielt inne um seinen Zuhörern die Gelegenheit zu geben, nach eben dieser zu fragen. Alles, was er bekam, war eine erhobene Augenbraue des Hünen.
"Ich will an den Landesmeisterschaften teilnehmen."
Stinson blickte seinen Partner an und grinste. Offensichtlich hatte er darauf gehofft.
"Geht klar, wenn du dann schon 18 bist."
Eusebio atmete auf.
"Bin ich."
"Dann haben wir einen Deal"
Sie beide reichten ihm die Hand, um die Absprache zu besiegeln. Der eine der beiden nutzte die Gelegenheit, um sich vorzustellen.
"Marshall Cuddles" Seine riesenhafte Pranke packte hart zu und erdrückte seine winzige Hand in einem Berg aus Fleisch. Als Eusébio hinaus zu Marc ging wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass dies nicht seine letzte Begegnung mit Cuddles gewesen sein würde.

Verfasst: 29.8.2008 - 11:12
von arkon
Viel zu schnell war die Reise umgegangen, viel zu schnell saß er wieder in seinem Haus, besser gesagt in dem seiner Mutter, in der Küche am Tisch und schmierte sich einen Toast. Er blickte sich um und sah nichts als Dreck und Minderwertigkeit. Es ekelte ihn an. Er sehnte sich nach wenigstens ein bisschen Sauberkeit. Nicht so sehr Ordnung, vielmehr Sauberkeit. Oder Möbeln und generell Sachen, die nicht vor Fett trieften und auf denen noch die Spuren aller zehn Vorbesitzer zu sehen waren. Er musste ein Würgen unterdrücken.
Und noch etwas verdarb ihm die Laune: Es würde lange dauern, bis er wieder hier heraus kommen würde. Keinen Rennen mehr, wenigstens vorerst. Und er wusste, was das für ihn bedeutete: Kaum einmal zwei Stunden war er erst hier und schon sehnte es nach Training. Er würde verbissen bis zu den Meisterschaften trainieren und er würde sie gewinnen. Wenigstens die Kategorie U23. Was waren schon die Fahrer, die fünf Jahre älter waren als er? Er konnte sie alle schlagen, er war sich sicher. Es war arrogant und nahezu unmöglich, aber das war keine Überraschung, viel mehr eine Herausforderung. Eine willkommene. Alles andere wäre langweilig gewesen.
Wollte er hier weg? Zweifellos. Um welchen Preis? Eigentlich um fast jeden. Eine Frage, die sich daraus fast zwangsläufig ergab und die ihn schon länger beschäftigte verirrte sich in sein Bewusstsein: Wie viel bedeutete ihm das Radfahren? War es nur Mittel zum Zweck? Er wusste es nicht. Es war für ihn auch erst einmal irrelevant. So lange er hier war machte es keinen Unterschied. Und was erst wäre, wenn er Profi geworden war und woanders lebte... Das war ihm in diesem Moment egal. Völlig. Er kaute gelangweilt auf seinem Toast herum und dachte über seinen Weg nach. Seinen Weg hier heraus.

Verfasst: 30.8.2008 - 16:48
von arkon
Der nächste Tag brachte vor allem eines: Ernüchterung. Wieder war er in der Schule, wieder war er einer unter vielen. War ihm gestern noch die Handhabung eines talentierten Jugendlichen zuteil geworden war er nun wieder der leise, gefährliche Kolumbianer, den die Klassenkameraden hassten und fürchteten und der von den Lehrern kaum wahr genommen wurde.
Carlito fing ihn in der Pause ab. Mit Smalltalk vertrieben sie sich die Zeit auf dem Weg zu einem abgelegeneren Plätzchen. Sie hatten keinen Stammplatz, aber es gab doch Orte, von deren Ungestörtheit sie wussten. Dann endlich kamen sie zur Sache.
„Du weißt, ich mische mich normalerweise nicht in deine Frauengeschichten ein. Aber du hast Scheiße gebaut.“ Eusébio erwiderte seinen Blick. „Wenn ich das früher gewusst hätte wäre Juana auch nie auf dieser Party gewesen, das kannst du mir glauben“ Sein Herz schlug schneller. Es war also noch nicht ausgestanden? „Lalo hat was mit den Tigers am laufen gehabt.“
„Scheiße“ rutschte es ihm heraus. Carlito nickte nur zustimmend.
„Eure kleine Messerstecherei ist damit nicht ganz so unbedeutend, wie du vielleicht dachtest. Lalo hat überlebt und sofort alles in Bewegung gesetzt, um dich dran zu kriegen. Die Tigers sind sowieso noch ordentlich sauer auf uns und haben jetzt einen Grund mehr, sich zu rächen.“
„Was hat Lalo denn mit den Niggern am laufen gehabt?“
„Ich weiß es nicht. Zur Zeit läuft es mit den Spitzeln nicht so gut wie sonst. Und die meiste Energie stecke ich ohnehin in die andere Sache“ Die andere Sache. Da waren sie wieder. Drogen. „Was hälst du von der Sache?“
Eusébio brauchte nicht lange zu überlegen. Er hatte Angst. Todesangst. Seine letzte, persönliche Fehde hatte ihn damals ins Krankenhaus gebracht und vorerst seine Radkarriere beendet. Lalo hatte sich bei seinem ersten Versuch zwar noch sehr dumm angestellt, aber er war sauer. Und wenn die Sache mit Juana auch nicht so wild schien so hatte Eusébio doch einen entscheidenden Fehler gemacht.
„Warum zum Teufel hast du ihn nicht einfach abgestochen und verbluten lassen? Wenn du dich weiterhin behaupten willst musst du lernen, solchen Ratten nicht auch noch zu helfen. Du brauchst Autorität. Auch innerhalb der Gang.“
Carlito hatte Recht. Es war einfach dumm gewesen. Er hätte ihn nicht ins Krankenhaus sondern auf die Müllhalde fahren, ihm noch einige Stöße zwischen die Rippen verpassen und ihn dann unter einigen Tonnen Müll begraben sollen. Aber schließlich war Lalo nicht der einzige, der hinzu lernen konnte.
„Sie werden sich an mir rächen“ stellte er trocken fest. Sein Capitano nickte.
„Das gibt auch den Tigers eine gute Gelegenheit, sich an uns zu rächen.“ Er schaute ihn jetzt direkt an, seine dunkeln, kleinen Augen fest auf seinen Gegenüber fokussiert. „Du bist mein engster Vertrauter. Das gibt dir Macht. Aber du wirst eben auch zur Zielscheibe.“ Er hielt kurz inne. „Ich vertraue dir. Du bist gerissen und kannst kämpfen. Wenn Jorge in dieser Situation wäre würde ich in so schnell es geht aus der Stadt heraus bringen.“
Sein Schweigen machte deutlich das es ein Kompliment war, das er mit ihm nicht ebenso verfahren wollte. Es fühlte sich aber nicht so an. Er wollte weg, jetzt noch mehr als zuvor. Es ging um sein Leben. Nicht das eines armen Wurms, eines Verräters, eines Gegners. Diese Geschichte hieß: Er oder Lalo. Einer von ihnen würde sterben. Oder wenigstens für immer sein Gesicht in dieser Gegend verlieren.
„Ich komme damit klar“ log er.
„Gut“ lächelte Carlito. „Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann“ Wieder dieser Blick. Anklagend? Wissend, verschwörerisch? Der Anführer der „Los Pepes“ blieb undurchschaubar, unberechenbar. Das war schon immer seine Stärke gewesen.

Verfasst: 3.9.2008 - 22:40
von arkon
Er musste weg. Das war ihm klar. Er konnte es nicht zur Konfrontation kommen lassen. Eusébio nutzte die Heimfahrt mit dem Auto um sich einen klaren Kopf zu verschaffen. Eigentlich kam es ihm ganz gelegen, stand ihm doch der Sinn gerade nach dem Trainieren, nicht so sehr nach dem nun langsam losbrechenden Drogenkampf. Aber wie? Und: wohin?
Sein erster Gedanke war, sich einfach das Auto zu schnappen und ab zu hauen. Loszufahren mit allem Geld, was er hatte, und auf das Beste zu hoffen. Aber das war ihm zu riskant, zu unsicher. Woher wollte er wissen, dass es ihm woanders besser ging? Wenigstens hatte er hier zu essen. Das jedenfalls war bisher das Argument gewesen. Aber nun... Er war sich nicht mehr so sicher.
Eine Alternative war, sich einen Platz zu suchen, ein Haus, ein kleines Dorf, irgendetwas. Dahin musste er fahren, würde sich für ein paar Wochen, vielleicht Monate verstecken und dann zurückkehren. In der Zwischenzeit konnte er mit dem Training... er verwarf den Gedanken. Es war nicht der Zeitpunkt für Träumereien.
Wer besaß ein Haus außerhalb von Detroit? Vielleicht noch genug Geld, als das er sich mit kleineren Hilfsarbeiten genug zum Essen und Trinken verdienen konnte. Oder Verwandte und Bekannte? Er hatte beides nicht, jedenfalls keine, bei denen er auf Erfolg bei einer Anfrage hoffen konnte. Aber wer...?
Er stellte den Wagen ab, stolperte gedankenverloren über den Rasen und schloss, den Blick in sich gekehrt, die Türe auf. Eine Stimme ließ ihn herum fahren.
„He, Eusébio!“
Er drehte sich um. Juana stand dort auf ihrer kleinen Veranda. Sie sah umwerfend aus, noch um längen besser als an jenem Abend. Ihre schwarzen Haare flatterten im Wind, eine Strähne trieb ihr durchs Gesicht. Wie in einem Reklamespot. Eusébio musste sich zusammen reißen um ihr nicht die Faust entgegen zu schleudern.
„Was willst du?“ erwiderte er schroff.
Sie beantwortete die Frage von selber. Zärtlich strich sie sich die Strähne aus dem Gesicht und fuhr, ein wenig nervös, weiter mit den Händen durch die Haare.
„Wir müssen miteinandern reden“
„Du hättest mit mir reden müssen, aber die Gelegenheit ist vorbei“ sprach er, ging ins Haus hinein und hätte fast die Türe hinter sich zu geschlagen wäre nicht im letzten Moment eine zarte Frauenhand auf seiner Schulter gelangt.
„Es tut mir leid.“
Wirsch drehte er sich um. „Das hilft mir auch nichts. Was gibst du dich auch mit solchen Pennern ab? Ich wünschte, er wäre auch hinter deinem Leben her, dann könnte ich wenigstens ein wenig ruhiger schlafen.“
Statt einer Antwort drehte sich Juana um, zog ihr schwarzes Oberteil ein wenig hoch und entblößte ihren Rücken. Die Striemen dort waren zu frisch um aus einer harten Kindheit stammen zu können.
„Ich wünschte es auch“ brachte sie noch hervor, bevor sie ihnen Tränen ausbrach und sich ihm in die Arme warf. Eine Stimme in ihm stöhnte laut auf, aber eine andere brachte sie sofort zum verstummen: Hier war der Ausgleich für die ganze Scheiße, die über ihn herein brach.
Ohne ein weiteres Wort zu sprechen zog er sie hinein, warf seine abgewetzte Schultasche in die Ecke, packte Juana am Arm und schleifte sie die Treppe hinauf in sein Zimmer. Er verriegelte die Tür, damit ihn nicht seine Mutter stören konnte, und warf Juana auf die Matratze, die in der einen Ecke seines Zimmers lag. Die plötzliche Lust, die nun auch über sie herein brach, war deutlich in ihrem Gesicht, in den gierig geweiteten Augen zu erkennen. Eusébio warf sich auf sie und gönnte ihr den ersten, leidenschaftlichen Kuss. Als er sich wieder aufrichtete und sie betrachtete flammte der Zorn erneut in ihm auf. Mit einer wuchtigen Ohrfeige peitschte er ihr Gesicht zur Seite weg. Die alten Tränen mischten sich mit neuen und er bekam endlich die Gelegenheit, sich ganz und gar mit ihr zu vergnügen.
Danach war vieles besser. Jedenfalls für ihn. Für sie wahrscheinlich auch, obwohl es ihn wenig kümmerte. Sie hatte die meiste Zeit geweint, aber ihrem Männergeschmack nach zu urteilen war es das, was sie antörnte. Bleibende Spuren waren nicht geblieben, wenn man von den roten Spuren an ihren Händen absah, wo er sie die meiste Zeit festgehalten hatte. Aber das hatte sie augenscheinlich genossen. Was für ein krankes Weib schoss es Eusébio durch den Kopf. Sein Unterbewusstsein filterte ganz Bewusst die nächsten Gedanken dieses Stromes weg.
Er seufzte. Sie kuschelte sich ein wenig an sich, vielleicht in dem Versuch, ihn stärker an sich zu binden. Es war ihm gleichgültig. Er hatte jetzt den Kopf frei und konnte gut nachdenken. Es dauerte nicht lange, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Marc. Marc Stevenson, sein Sportlehrer, hatte eine kleine Hütte in irgendeinem Kaff, in die er gerne in den Ferien zog. Von hier aus wanderte und schwamm er, fuhr Rad und rannte in der ganzen Gegend herum. Er hatte zwar kein Geld, um seinen Aufenthalt dort zu finanzieren, aber ihn konnte er ganz sicher nach der Hütte fragen. Marc liebte ihn, er hätte ihm so etwas nie abgeschlagen. War es die Stelle des hochbegabten Sohnes, die er für ihn einnahm? Er konnte es nicht sagen. Aber Eusébio war außerordentlich froh, das es Marc gab und das er sich so für den kleinen Kolumbianer interessierte.
Ihm war es gleich. Mit wenigen, harschen Worten trieb er die zierliche Mexikanerin hinaus. Sie raffte ihre Kleider zusammen, stolperte hinaus in den Flur und versuchte dort, sich anzuziehen. Er klatschte in die Hände und trieb sie die Treppe hinunter. Er wollte trainieren gehen, und sein Engagement für den Radsport ging sie nun einmal gar nichts an. Er streckte seinen Kopf in den Flur hinaus und brüllte hinunter. Sie riss die Tür auf und fiel fast über die Schwelle. Er lachte ihr hinterher.

Verfasst: 5.9.2008 - 17:52
von arkon
Timing würde der entscheidende Faktor sein. Wenn Marc zusagte wäre das nur die halbe Miete. Geld, er brauchte Geld. Er hatte einige Quellen, aus denen er kurzfristig etwas organisieren konnte, aber damit würde er nicht weit kommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig als in dem Kaff, in das er fliehen würde, einen Job zu übernehmen. Das war nur eines seiner Probleme.
Um seine Mutter machte er sich keine Gedanken. Sie würde sich zwar versuchen, dagegen zu stellen, aber dazu müsste sie seinen Plan erst einmal erfahren. Die Schule war ein Problem, aber das fiel in Marcs Ressort. Wenn die Geschichte, die er ihm auftischte, gut genug war, ihn zu überreden, würde er ihn auch bei den anderen Lehrern entschuldigen.
Seine Sorge galt vor allem Carlito. Dieser vertraute ihm und hatte ihn ziemlich sicher auch bei seinen Plänen für die Zukunft der Gang als Drogenhändler eingeplant. Und wahrscheinlich auch in keiner für ihn schlechten Position. Das würde er wegwerfen: Die Chance auf eine Zukunft in der Gang, vielleicht auch ihren Schutz. Er musste mit Carlito reden, ansonsten würde er nur seine nächsten Gegner heran züchten.
Das brachte ihm zum wichtigsten Punkt: Wie lange würde er im Exil leben? Da er unter Marcs Aufsicht fliehen wollte musste er irgendwann zurück sein. Bis zu seinem 18. Geburtstag? Bis zu den Meisterschaften? Er wollte den Vertrag als Profi so früh wie irgend möglich ergattern, aber schon mit 18? Nur die allerwenigsten schafften das. Genauer gesagt: Es war so gut wie unmöglich. Früher oder später musste er also nach Detroit zurück wenn er sich nicht als Tagelöhner durch die Gegend kämpfen wollte, und als solcher würde es mit der Radsportkarriere nichts werden.
Es schien, als ob auch das einzig und alleine von Marcs Entscheidung abhing. Verdammt. Eusébio mochte es gar nicht, so viel Macht über ihn abzugeben, und dann noch in die Hände eines Menschen. Aber was blieb ihm anderes übrig?