Der ewige Fels in der Brandung

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

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Grabba
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Beitrag: # 475391Beitrag Grabba
23.11.2007 - 13:38

Verschleiertes Licht des Tages

Es sollte ein bedeutungsloser Tag werden. Wohl der bedeutungsloseste von allen. Vielleicht der letzte ohne Sinn. Und doch, ein spannendes Rennen war es. Lange wird es jedoch nicht im Gedächtnis bleiben. Denn was ist schon groß geschehen? Eine hektische Startphase. Jeder versuchte sich abzusetzen. All die Glücklosen, Geschlagenen und Schwachen. Jeder wollte heute seine Chance suchen. Außer jenen, die sie schon zuvor genutzt hatten. Geschlagene, Helfer, durchschnittliche Fahrer und Außenseiter. Und Klassikerspezialisten, für die bei einer solchen Rundfahrt nicht all zu viel abfällt. Sie waren es in erster Linie, die heute den Ton anzugeben versuchten, und Erfolg hatten. Schließlich setzte sich die Gruppe ab. Denoulet, Schumacher, van Egmond, Nuyens, Ballan, Gusev, Ventoso, Gasparotto, Artetxe, Selerno, Große, Culianez, Monbrin, Sinoul. Sie arbeiteten zusammen. Teils gut, teils weniger gut. Doch ganz wie es vorauszusehen war bestand kein Interesse daran, sie wieder einzuholen. Und so ließ man sie gewähren, fahren. Alle anderen konnten sich in der anonymen Masse des Feldes erholen, entspannen. Das Wetter kam ihnen zugute. Der Himmel war verschleiert. Die Sonne drückte nicht, und so gab es heute weder Freude noch Leid. Bedeutungslos, wie der Tag war. Von geringerer Bedeutung als selbst die Ruhetage es sind.
Für die, die das Rennen verfolgten, bot es Spannung. Fünfzig Kilometer vor dem Ziel, als feststand, dass die Fahrer an der Spitze sich den Sieg von niemandem mehr nehmen lassen würden außer von sich selbst, begann die Gruppe zu zerbröseln. Einzelne attackierten, setzten sich ab. Zu stark waren die Sprinter in der Gruppe vertreten, als dass alle gemeinsam hätten ankommen wollen. Gusev fuhr über 20 Kilometer alleine von vorne. Doch zu früh war sein Angriff erfolgt. Und so begannen die letzten Steigungen, zu gering, um für einen Kampf der Favoriten an einem solch geruhsamen Tag zu sorgen, doch brutal genug, um den Stärksten der Spitzengruppe die Möglichkeit zum Angriff zu eröffnen. Stefan Schumacher eröffnete. Versuchte es erneut. Und ein drittes Mal. Auch van Egmond zog nun an. Der Niederländer machte sich alleine auf den Weg in Richtung Ziel. Es sah aus, als würde er Erfolg haben. Doch zu stark waren die Verfolger. Nuyens, Ballan, Selerno, Artetxe, Gasparotto, Denoulet. Alle anderen waren auf verlorenem Posten. Als sein Teamkamerad eingeholt worden war griff Alvaro Artetxe an. T-Mobile wollte heute den Sieg, mit aller Macht und Kraft. Doch es reichte nicht. Nuyens und Ballan fuhren wieder heran, Gasparotto und Denoulet im Schlepptau. Und so kam es zum Schlagabtausch dieser beiden sprintstarken Männer.
Tom Boonens Zögling siegte. Sein Kapitän tat es ihm im bedeutungslosen Massensprint des Feldes gleich, und wieder war er der Stärkste gewesen, und doch nicht Sieger des Tages. Alle anderen waren geschlagen. Doch die Erinnerung daran, an jenen Tag, dem selbst die Sonne ihre Aufmerksamkeit entzog, ist bereits vom lauen Abendwind hinfortgewischt, außer im Kopf des Siegers selbst. Die Angst vor den Pyrenäen ist spürbar. Und auch die Sonne hält sich bereit.

Es war dunkel. In seinem Inneren und um ihn herum. Kein Licht schien mehr. Selbst jener gar so kleine, rötlich flackernde Schimmer am Horizont war erloschen. Er starrte in die Schwärze der Nacht, denn weniger düster erschien sie ihm als er selbst. Über seine Fehler rätselte er schon seit einigen Tagen nicht mehr. Er wusste, dass jede Suche nach Antworten ohne Erfolg bliebe. Und so verweilte er auf dem Boden jenes kalten Steingemäuers, einsam und allein. Nichts würde ihn mehr aus dieser endlosen Ruhe aufbringen können.
Die Tür knarzte. Ein schwacher Schimmer fernen Lichtes drang auf ihn ein. Er spürte es nicht, doch er konnte es sehen. Endlich wieder ein Licht. Es wurde heller. War er am Ende doch an seinem Ziel angelangt? Er wusste es nicht. Und erst in jenem Moment, in dem eine vertraute Stimme auf ihn einredete, war der Bann, der seit zwei Wochen auf ihm gelastet hatte, gebrochen. Iban Mayo stand auf und schloss José Arriondo in die Arme, seinen Betreuer, seinen Trainer, seinen Mentor. Seinen Freund. Er war zurückgekehrt.
Viel hatten sie sich zu sagen in den folgenden Stunden. Lange sprachen sie, und oft schauten sie sich nur für viele Minuten des Schweigens gegenseitig in die Augen. Die Rundfahrt war eine einzige Katastrophe gewesen. Sein Mentor hatte am Ende doch Recht gehabt, als er gesagt hatte, er sei nicht bereit, und ihn verlassen hatte. Nun war er zurückgekehrt. Und noch war nicht alles verloren, denn durch die Dunkelheit war ein Schimmer fernen Lichtes gedrungen. Und endlich hatte er das wiedererlangt, was ihm in den letzten Wochen gefehlt hatte. Vertrauen.

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Beitrag: # 475437Beitrag Grabba
24.11.2007 - 11:10

Die Seele, des Menschen lodernder Kern

Es kostete ihn Kraft, so viel Kraft, in Ruhe liegenzubleiben. Noch immer war die Sonne nicht aufgegangen. Doch er brannte nur so darauf, endlich anzugreifen. Es sollte sein Tag werden. Niemand, wirklich gar niemand, würde ihn aufhalten können. Es gäbe nur diese eine einzige Möglichkeit, sich noch zu retten: Den Angriff. Und er würde ihn fahren, oh ja. Seine Seele war entflammt. Er konnte kaum noch an sich halten. Und als schließlich die ersten Sonnenstrahlen durch das offenstehende Fenster auf ihn fielen stand er endlich auf, kleidete sich hastig an und frühstückte, mehr vielleicht als je zuvor. Dies war die Energie, die er brauchen würde. Er lief eine kleine Runde um den Hotelblock. Nahm sich sein Fahrrad, stieg auf, fuhr einige Runden. Er war nervös, so aufgeregt. Keine Sorgen waren es, die ihm dieses Gefühl bescherten. Es sollte nur endlich beginnen. Endlich. Niemandem sonst wollte er mehr etwas beweisen, nur noch sich selbst die eigene Glückseligkeit gewähren. Dass er siegen würde stand für ihn außer Frage, doch es war ihm egal. In seinen Gedanken gab es kein gestern mehr. Und es gab noch kein morgen. Einzig und allein der heutige Tag war es, der ihn erfüllte. So heiß loderte sein inneres Feuer, dass er vor allen anderen am Start stand. Er war bereit. Sein Leben konnte von neuem beginnen.

Die Anspannung war ihm anzusehen. Kein Wort sprach er beim Frühstück. Seine Mannschaftskameraden respektierten dies und leisteten der stillen Aufforderung ihres Kapitäns Folge. So schwiegen sie alle. Doch er war Mann genug, er war Profi genug, mit der Anspannung fertigzuwerden. Das hatte er schon immer geschafft. Auch in der größten nervlichen Anspannung konnte er noch ruhig und abgeklärt agieren. Insbesondere im Rennen, und dies war es, worauf es ankam. Heute war erneut ein Tag, an dem er so vieles gewinnen und doch auch verlieren konnte. Was würde der Tag nur bringen? Doch wozu all die Ungewissheit. Dann, wenn es wirklich darauf ankam, war er schon immer am stärksten gewesen. Nicht umsonst hatte er die Ardennenklassiker gleich mehrfach für sich entschieden. Und was war schon der Unterschied zwischen der Mauer von Huy, dem Cauberg oder der Redoute und den Pyrenäen? Er würde heute gewinnen können. Nicht bedacht hatte er jedoch die Möglichkeit der Niederlage. Denn vermessen ist, wer die Ardennen mit den Pyrenäen vergleicht. Ob Tim Schwarzenbeck sich dies leisten kann? Der Tag wird es zeigen.
Doch als er schließlich am Start stand, da merkte niemadn mehr etwas von seiner Anspannung. Er strahlte Ruhe und Kraft aus. Ruland und Guerao scherzten miteinander. Doch dies war eine Maske. Beiden war die Bedeutung des heutigen Tages bewusst. Die Ausgangslage für den Toursieg war besser denn je. Es galt, keine weitere Zeit einzubüßen. Und entsprechend angespannt waren sie, doch hinter der Maske des Witzes vermochten sie ihre Angst zu verbergen. David Brogniart jedoch wirkte wie immer gelassen, und wenn man ihn fragte, was er heute vorhabe, so war ihm nichts Weiteres zu entlocken, als dass er heute die Tour gewinnen würde. Vielen Menschen mag diese Art missfallen, doch er ist, wie er ist, und seine Form und Klasse geben ihm alles Recht dazu. Wer, wenn nicht er, der bisher so stark und ohne jedes Anzeichen von Schwäche war?

So begann das Rennen also. Anstatt sein Gemüt abzukühlen hatte er unablässig an diese, seine Stunden gedacht. Denn das würden sie heute werden. Und in jenem Moment als die Startflagge geschwenkt wurde und es in die erste Steigung des Tages ging zog er das Tempo an. Keine Teamkameraden brauchte er dafür. Er fuhr alleine von vorne. So schnell, das erst noch einige wenige ihm zu folgen vermochten. Immer wieder und immer wieder verschärfte er das Tempo, bis er sie alle abgehängt hatte. Das war sie wieder, seine alte Stärke, mit der er damals schon in l’Alpe d’Huez triumphiert hatte. Damals war Iban Mayo noch ein unerfahrener Junge gewesen. Mittlerweile war er gereift. Erwachsen seit dem gestrigen Abend. Von seiner Stärke hatte er nichts verloren, und in der Manier, in der er die heutige Etappe fuhr, hätte einzig und allein ein Arslan Tynyanov ihm folgen können, und dies auch nur für kurze Zeit.
Wie entfesselt fuhr er, immer weiter voraus, immer schneller. Und jeder Tritt nährte das Feuer, das in seinem Inneren loderte. Und so wurde er nicht langsamer, sondern fuhr energisch und ungebremst. Schnell wuchs sein Vorsprung auf zehn Minuten an, und das obwohl das Tempo im Feld nicht langsam war. 50 Fahrer waren es nur noch, die ihn verfolgten. Doch das alles interessierte ihn nicht im Geringsten. Es war ihm egal, was hinter ihm geschah. Er wusste, dass ihm heute niemand das Wasser würde reichen können. Doch selbst wenn, es hätte ihn nicht bremsen können. Und so ging er mit über 13 Minuten Vorsprung in den finalen Anstieg. Elf Minuten trug er davon bis ins Ziel. Seit ewigen Zeiten schon hatte kein Fahrer eine Etappe mit solch riesigem Vorsprung auf den Zweitplatzierten gewonnen. Doch Iban Mayo war all dies egal, denn heute hatte er sich selbst bewiesen, was er noch immer zu leisten vermag, und was er all die Jahre vermocht hätte. Doch die verpassten Chancen des letzten Jahrzehnts grämten ihn nicht. Denn endlich hatte er den Sinn begriffen. Und ist damit eine Stufe weiter als selbst ich es bin. Doch auch mich überkam in diesem Moment erstmals die Vorahnung dessen, was eines Tages unausweichlich kommen wird. Und so ging Iban Mayo zur Siegerehrung, und es war das letzte Mal, dass er bei einem Radrennen gesehen wurde. Noch viele lange Jahre würde er Tag für Tag die Berge erklimmen, und er wäre besser als alle anderen. Doch ein Rennen würde er nie wieder brauchen.

Was sich nun im abgeschlagenen Teil des Feldes am heutigen Tag abspielte kam in vielerlei Hinsicht einer Tragödie gleich. Nicht für mich, sondern für all jene, die heute an der Zeit scheiterten. Es bereitete mir Freude, diese Gewissheit, es geschafft zu haben. Noch bevor viele von ihnen im Ziel waren stand fest, dass sie am morgigen Tag nicht mehr an den Start würden gehen dürfen. Zu lange hatte ich sie aufgehalten. Und darüber freute ich mich mehr als über alles Andere. Dass auch der Baske seinen Teil dazu beigetragen hatte kann mir das Gefühl des Triumphes nicht leidig machen. Denn die Entscheidung in letzter Instanz herbeigeführt hatte noch immer ich.
Doch auch der Gesamtsieg ist lange nicht vergeben. Juan Manuel Mullor und Joseph Caruana haben mit diesem nur noch wenig zu tun, doch sie waren die ersten, die in der finalen Entscheidung des Tages den Fehdehandschuh warfen. Stark war ihr Antritt, sie setzten sich ab. Gemeinsam fuhren sie bergan. Caruana, die roten Punkte im Auge, von denen er heute bereits viele ersprintet hatte, Mullor den zweiten Platz des Tages und die noch immer nicht gänzlich gestorbenen Hoffnungen in der Endabrechnung. Und so liefen sie ins Ziel ein. Elf Minuten nach dem Sieger. Auch sie interessierte nicht mehr, was sich hinter ihnen abspielte. Zu sehr befriedigte sie die eigene Leistung.
David Brogniart wusste, dass er heute würde angreifen müssen. Zu weit lag er noch immer zurück, und zu wenige Gelegenheiten würden sich noch bieten. Und so tat er wie ihm geheißen. Sechseinhalb Kilometer vor dem Ziel. Ruland ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht, als Schwarzenbeck Brogniart folgte. Gemeinsam mit seinem Edelhelfer, dem stärksten von allen, fuhr er bergan. Es war das altbewährte Schauspiel. Brogniart mit all seiner Eleganz vorneweg, Schwarzenbeck kämpfend hinterher, heute sogar für einige Zei tam Hinterrad des Franzosen, und Guerao mit seinem Kapitän im Schlepptau dahinter. Drei Kilometer vor dem Ziel gelang es Brogniart schließlich, seine Aufgabe zu erfüllen – erneut war er allein unterwegs. 21 Sekunden konnte er bis ins Ziel auf Schwarzenbeck herausholen, 43 auf Ruland, noch einige mehr auf Guerao, der auf den letzten Metern etwas hatte federn lassen müssen. Genug hatte der Franzose heute nicht gewonnen, doch noch immer wich die Zuversicht nicht von seinem Gesicht. Und noch immer schien es, als sei er nicht an seine Grenzen gegangen. Noch blieben ihm zwei Gelegenheiten. Und die würde er zu nützen wissen.
Auch alles Andere ging heute seinen gewohnten Lauf. Jene Zeitfahrer, die sich anmaßen, eine Rundfahrt wie die Tour de France gewinnen zu können, mussten heute einmal mehr einsehen, dass es für sie nicht möglich ist. Langsam ödet es mich an, Reus, Dekker und all die anderen tagtäglich aufs Neue zu zermürben. Auch die Sprinter, die schwergewichtigen, die Flachlandspezialisten, die Helfer. Sie alle quälen sich in dieser ausweglosen Schlacht, Tag um Tag auf Neue. Und doch wollen sie um keinen Preis aufgeben. Weil sie es einfach nicht verstehen. Und niemals verstehen werden. Es ist traurig, wenngleich wahr. Sollen sie tun, was ihnen beliebt, doch Gnade hat von mir niemand zu erwarten.

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Beitrag: # 475529Beitrag Grabba
25.11.2007 - 11:43

Wandlung, des Triumphes sicherer Pfad

Jalabert hat es schon geschafft, Tentella ebenfalls. Warum nicht auch ich? Die Flandernrundfahrt immerhin habe ich öfter gewinnen können als irgendwer vor mir, und auch in den Ardennen hatte ich schon Erfolg. Warum also sollte nicht auch ich, Tom Boonen, auf einer Bergetappe siegen können? Wenn mir schon in den Sprints das Glück verwehrt bleibt, dann werde ich es wenigstens dort herausfordern, wo es das Duell am wenigsten erwartet. Und spätestens heute Abend werde ich wissen, wie es wirklich um meine Form bestellt ist.

Endlich waren ihm die Gedanken gekommen, die er schon viel früher hätte haben können. Ennio Tentella hatte es ihm vorgemacht. Bester Sprinter und Bergkönig des Giros in demselben Jahr. Zwar hatte er auch Glück gehabt, aber seine Stärke an den Anstiegen war nicht zu verleugnen gewesen. Und damals hatte er auch erkannt, wofür es sich zu trainieren lohnt. In diesem Jahr wurde er zum zweiten Mal Bergkönig in Italien. Es bereitet mir Freude, seine Entwicklung mit ansehen zu können. Und nun wird auch Boonen den Versuch wagen. Es wird sich zeigen, was er wirklich kann, da hat er Recht. Doch mit Glück hat dies nicht im Geringsten zu tun. Im Kopf ist er jedenfalls bereit für die Aufgabe, die er sich selbst auferlegt hat – genau deshalb. Den Beweis, dass sein Körper ebenfalls bereit ist, wird er noch erbringen müssen.
Der Start der Etappe verlief hektisch. Doch wenn einer in der Lage wäre, hektische Rennsituationen im leicht hügeligen Terrain zu überblicken, dann Tom Boonen. Und so verwunderte es mich nicht, dass er sich in der Spitzengruppe des Tages befand. Mit dabei waren auch die potentiell starken Kletterer Anton, Gilmartin und Serpa. Keine leichte Aufgabe also für den Belgier. Und doch zögerte er keinen Augenblick, sich der Herausforderung zu stellen. Vielleicht würde dies am Ende den entscheidenden Unterschied ausmachen. Doch noch lagen mehr als 180 Kilometer über schweres Gelände vor der Spitzengruppe. Zwei Kilometer zurück lag das Feld, das die Rennsituation unter Kontrolle hatte. So glaubte man.

Wenig ereignisvoll verlief der Tag im Weiteren. Zumindest so lange, bis man die letzten Kilometer des Col du Soulor erreicht hatte. Igor Anton griff an. Gilmartin stieg hinterher. Serpa geriet in Schwierigkeiten. Alle anderen hatten schon vorher oder mussten spätestens jetzt reißen lassen. So einfach war es wieder, und so viel Freude bereitete es mir doch. Einen einzigen jedoch hatte niemand, nicht einmal ich, bezwingen können. Tom Boonen ließ sich weder durch Antons Angriff noch durch irgendeinen anderen wideren Umstand beeinträchtigen. Gleichmäßig fuhr er bergan, und dabei sah er nicht einmal ungeschickt aus – das im Mindesten muss ich ihm zugestehen. Es folgte die kurze Abfahrt, bevor es erneut hinauf ging, hinauf zum Aubisque.
Aubisque. Volker Ruland hatte keine all zu guten Erinnerungen an diesen Anstieg. Doch dies war heute egal. Es durfte ihn nicht interessieren, dass er hier vor zwei Jahren fast drei Minuten auf Tynyanov und damit endgültig die Tour verloren hatte. Dass es damls nicht sein eigenes Versagen gewesen war hat er bis heute nicht verstanden. Doch er wusste ebenfalls, dass er heute stärker war als damals. Und er wusste, dass er heute einen Helfer an seiner Seite hatte, der selbst um den Sieg hätte mitkämpfen können, würde er sich nicht Tag für Tag aufs Neue für ihn hingeben. Doch er wusste auch um die Gefahr des Franzosen Brogniart, der bergauf so uneinholbar stark schien.
In der kurzen Abfahrt vom Aubisque ließ der große Belgier es richtig krachen. Das folgende, leicht ansteigende Stück nutzte er, um seine ganze Stärke auszuspielen. Bis er Gilmartin von hinten überrollte und schließlich zu Anton aufschloss. Tom Boonen tat das Richtige. Er fuhr sein Tempo weiter. Keine Krafverschwendungen. Denn davon brauchte er genug, um sich gegen den Aubisque halten zu können. Und Anton attackierte. Unentwegt. Bis der Aubisque am Ende selbst zurückschlug. Auf dem Weg zum Gipfel verlor er über drei Minuten auf Boonen und wurde noch von anderen Fahrern überholt. Tom Boonen aber überquerte den Aubisque als erster. Allein.
Derweil hatte der Kampf im hinteren Teil bereits begonnen. So viele waren schon abgefallen, und noch am Soulor trat Brogniart ein erstes Mal an. Er riss schnell ein großes Loch zwischen sich und die anderen. Kohl und Guerao mussten alle Kräfte aufbringen, ihn wieder einzuholen. Und doch war es nur ein erstes Antesten des Franzosen gewesen. Ein gelungener Test. Ruland erinnerte sich an die schreckliche Niederlage vor zwei Jahren, und selbst Schwarzenbeck war beunruhigt. Alle anderen waren chancenlos, und doch war es wieder einmal der Baske Mullor, der am Aubisque als erster antrat. Weit sollte er nicht kommen, denn noch als Kohl gerade die letzten Kräfte aufbot, ihn zurückzuholen, ging Brogniart schon ein letztes Mal selbst aus dem Sattel. Leichtfüßiger als je zuvor während dieser Rundfahrt flog er an allen anderen vorbei. Guerao fuhr hinterher, so schnell er konnte. Doch es war vergebens. Der Franzose war stark, so stark. Zu stark.
Und es war in diesem ausweglosen Moment, dass etwas geschah, womit niemand gerechnet hätte. Volker Ruland ging aus dem Sattel, vielleicht zum ersten Mal in seiner Karriere, und spurtete der Gruppe, in der nur noch wenige Fahrer verblieben waren, davon. Alleine kämpfte er sich hinauf, und Tim Schwarzenbeck hatte das Nachsehen. Mit aller Macht versuchte er seinem Landsmann nachzusetzen, doch Ruland war heute von einer anderen Kraft angetrieben. Und so verlor er bis zum Gipfel kaum weitere Zeit auf den Franzosen. Achtzehn Sekunden lediglich. Eine ganze Minute hatte er auf Schwarzenbeck herausgefahren. Und auch auf Guerao, der den Anschluss an den deutschen Meister nur mit Mühe hatte halten können. Und so stürzten sich die Fahrer, einer nach dem anderen, bergab.
Tom Boonen, der schwergewichtige Sprinter, König des Nordens, Beherrscher der Pflastersteine, hatte heute die Wandlung zum Radrennfahrer vollzogen. Er hatte den Entschluss gefasst, endlich zu gewinnen. Ausgesucht hatte er sich einen Tag, an dem kein Glück sondern Stärke allein vonnöten war. Und so fuhr er mit erhobenen Händen über die Linie. Endlich hatte er es geschafft. Er war am Ziel.
David Brogniart zeigte sein Gesicht nicht mehr, denn die Gewissheit war Vergangenheit. Er wusste, dass ihm nur noch eine wirkliche Chance bliebe. Dass der heutige Tag ihm kaum Gewinn gebracht hatte. Zweifel begannen an ihm zu nagen. An ihm, dem unerschütterlich zuversichtlichen Ästethen. Doch er wusste, dass jetzt nicht die Zeit war für Zweifel. Und so schob er sie beiseite. All das hatte Zeit. Nun galt es, zweiter des Tages zu werden, den erarbeiteten Vorsprung zu halten, und acht zu geben in der rasanten Abfahrt. Der morgige Ruhetag würde den Grübeleien gelten, und dann würde er erneut angreifen. Müssen. Zwangsläufig.
Es war famos, was Volker Ruland geboten hatte. Endlich hatte er gezeigt, was man ihm so lange nicht zugestanden hatte. Er war einen neuen Weg gegangen, hatte selbst die Initiative ergriffen – und so Erfolg gehabt. Endlich hatte er gezeigt, dass er auch ohne seinen Helfer die Tour gewinnen kann. Ja, dass er die Tour gewinnen kann. Wird. Er, Volker Ruland. Den heutigen, gefürchteten Tag hatte er überstanden. Auch morgen würde ein harter Tag folgen, doch so groß war sein Vorsprung, dass man ihm den Sieg nicht mehr würde streitig machen können. Endlich war er an seinem Ziel angelangt. Den Bruchteil einer Sekunde später lag er schmerzgekrümmt auf dem Boden. So tief in die triumphalen Gedanken versunken hatte er sich einer Unachtsamkeit hingegeben, und im Hauche eines Augenblicks war alles verflogen. Die Arbeit eines Jahres, der unmenschliche Kampf zweier Wochen und die Leistungen in der größten Stunde seiner Karriere waren vergebens gewesen. Er hatte versagt.
David Brogniart fuhr als zweiter über die Ziellinie. Etwas mehr als eine Minute hatte er auf Schwarzenbeck herausholen können. Zuzüglich der Zeitbonifikationen. Volker Ruland hatte sich selbst um alle Möglichkeiten gebracht. Und so war er wieder zuversichtlich. Man fragte ihn, was er zu Rulands Unglück zu sagen habe. Er erwiderte, dass er seine Ankündigung, heute die Tour zu gewinnen, wahrgemacht habe. Diese Aussage löste Unverständnis und Missgunst aus, selbst bei den Franzosen, doch erneut hatte er Recht, auch wenn die Menschen dies nicht wahrhaben wollen. Für den Sieg sind neben reiner Klasse bergauf auch Vorsicht und Aufmerksamkeit zur richtigen Zeit nötig. Eigenschaften, die Ruland den Sieg gekostet hatten. Und mochte David Brogniart noch so leichtfüßig und gelassen wirken, so war er in seinem Inneren doch höchst konzentriert. Und nun endlich lag das Ziel, auf das er so lange hingearbeitet hatte, in greifbarer Nähe. Ein letzter Akt war noch zu vollbringen.

Ihm war nun alles egal. Das gelbe Trikot nahm er widerwillig entgegen. Unmittelbar darauf ließ er sich von seinem Betreuer ins Krankenhaus fahren. In jenes, in dem Volker Ruland nun lag. Und als erster von allen, nach Rulands Teamchef aus der dänischen CSC Mannschaft, stand er an der Seite des Verletzten, seines größten Kontrahenten, und spendete ihm Trost. Und so blieb Tim Schwarzenbeck bei demjenigen, dem seine ganze Ehrerbietung galt, so lange, bis der Mann eintraf, der heute von Schock gezeichnet die Ziellinie einige Sekunden nach ihm überquert hatte. Und so ließ er den noch immer bitterlich schluchzenden Volker Ruland und seinen größten Helfer, der nun selbst zum Kapitän geworden war, alleine.
Lange saß der baskische Kletterer nun am Bett seines Freundes und Teamkapitäns. Und alle Entschuldigungen des Deutschen wies er zurück, denn es gab nichts, wofür er sich zu entschuldigen gehabt hätte. So schauten sie schweigend aus dem Fenster, und hielten einander dabei die Hand. Die Bande der Freundschaft, die sich zwischen ihnen in den letzten beiden Wochen aufgebaut hatten, waren nun vollendet. Und erst als das Heulen des Nachtwindes das Zimmer erfüllte und Volker Ruland im sanften Sternenschein die Augen geschlossen hatte und dabei ruhig und gleichmäßig atmete begab sich der Baske aus dem Raum. Im Türrahmen drehte er sich ein letztes Mal um, und beleuchtet nur vom fahlen Schein des Mondes lag nun auf ihm die Bürde, die sein Freund so lange Zeit hatte tragen müssen. Und endlich hatte er verstanden.

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Beitrag: # 475708Beitrag Grabba
26.11.2007 - 23:43

Erhabenheit, das Glück des Lebens

Ruhetag. Erneut. Ruhetag für die Sprinter, die nun nur noch eine einzige Hürde, wenngleich vielleicht die schwerste von allen, zu nehmen haben. Ruhetag für diejenigen, die auf ihre Chance in der letzten Woche, mag sie auch noch so klein sein, hoffen. Ruhetag auch für die Triumphatoren des gestrigen Tages. Und mehr als nur ein Tag der Ruhe steht nun an für Volker Ruland. Die Strafe für eine einzige Unachtsamkeit.
Ein jeder grübelte an diesem Tag über den morgigen. Die bisher erfolglosen Kletterer, die noch einmal etwas versuchen wollen. Die Sprinter, die ihn überstehen müssen. Diejenigen mit anderen Ambitionen, die hier ihre Kräfte schonen wollen. Und natürlich vor allen anderen jene drei Fahrer, die morgen den Toursieg unter sich ausmachen werden. Bei Gerolsteiner besann man sich auf die eigene Stärke. Man ging mit großem Vorsprung in die abschließende Bergetappe. Der Sieg schien zum Greifen nahe. Bei CSC versuchte man den Frust zu bewältigen und sich auf den neuen Mannschaftsführer zu konzentrieren. Und bei Landbouwkrediet erdachte der Kapitän höchstselbst die Taktik, die ihn zu Toursieg führen würde.
Und während die Tour ihren gewohnten, hektischen Gang geht und jeder voller Nervosität aufgrund der noch ausstehenden Strapazen ist liegt Volker Ruland noch immer im Krankenhaus und denkt an die Chance, die er vergeben hat. Vielleicht war es seine letzte gewesen. Alan Guerao hatte so sehr für ihn gekämpft und seine eigenen Chancen dafür untergeordnet. Hätte der Baske es besser gemacht als er selbst? Was wäre gewesen, wenn er selbst früher gebremst hätte? Wenn er nicht abgeschweift wäre in seinem törichten Übermut? Wenn er vielleicht direkt den Angriff des Franzosen gekontert hätte? Ja, was wäre wenn? Doch am schlimmsten quälte es ihn, dass er seinem Freund die entgegengenommene Hilfe nun nicht mehr zurückzahlen konnte. Die Vuelta würde der Baske in diesem Jahr alleine fahren müssen. Und wieder fiel eine Träne auf die Zeitung, die er nun schon seit einer geschlagenen Stunde zu lesen versuchte.
Eine Zeitung hat geschrieben:Dreikampf um Toursieg – Ruland gestürzt

Gestern um 16:51 sah er noch wie der sichere Sieger der Frankreichrundfahrt aus. Das gelbe Trikot mit einer ungeahnten und ungekannten Stärke am Berg quasi zurückerobert, der Vorsprung auf den größten Kontrahenten bei noch einer ausstehenden Bergetappe mit deutlich über 2 Minuten mehr als beachtlich und noch ein ausstehendes Zeitfahren. Keiner zweifelte nach Volker Rulands famosen Antritt am Col d’Aubisque, jenem Berg, an dem er vor zwei Jahren noch so böse eingebrochen war, noch an seinem Triumph. Doch dann kam diese verhängnisvolle Kurve, der von der Hitze erweichte Asphalt, der kleine Steuerfehler, und schon lag der deutsche Tourheld auf dem Boden. Er hat sich den rechten Oberschenkel gebrochen, und so sind die Tour und Saison vorzeitig für ihn beendet. Für eine Stellungnahme war er bisher noch nicht zu sprechen.
Indes scheint nun alles auf einen Dreikampf um den Gesamtsieg hinauszulaufen. Noch hat Tim Schwarzenbeck fast zwei Minuten Vorsprung auf David Brogniart und Alan Guerao, doch gerade gestern offenbarte der Deutsche Schwächen am Berg. Brogniart hat sich im Verlaufe der Tour als der stärkste Kletterer der drei erwiesen und Guerao überraschte beim ersten Zeitfahren mit einer herausragenden Leistung. Die morgige Bergetappe und der abschließende, verhältnismäßig kurze Kampf um die Uhr werden die Frage um den Gesamtsieg klären, bevor es nach Paris auf die Champs Elysées geht.
In Paris wird es sicherlich zu einem letzten Aufeinandertreffen der Sprinter kommen. Der Kampf um das grüne Trikot scheint jedoch seit dem gestrigen Tag entschieden. Tom Boonen, der bisher durch seine Konstanz in den Ziel- und Zwischensprints das grüne Trikot mit einigem Vorsprung vor Gerald Ciolek trug, jedoch bisher ohne Etappensieg geblieben war, überraschte gestern alle Experten, indem er sich bei einer der schwersten Bergetappen der diesjährigen Rundfahrt als der stärkste Kletterer aus einer gut besetzten Ausreißergruppe erwies und die Etappe souverän vor dem Franzosen Brogniart gewann. Durch die bei den Zwischensprints und im Ziel gesammelten Punkte konnte er seinen Vorsprung auf den Deutschen im Kampf um grün auf beinahe unerreichbare 56 Punkte erhöhen.
Auch der Kampf um die Bergwertung ist quasi entschieden, denn den Vorsprung von 101 Punkten auf David Brogniart kann der Führende Joseph Caruana nur noch theoretisch verlieren. Auch die Nachwuchswertung wird Alan Guerao niemand mehr streitig machen können. Einzig und allein die Teamwertung bietet noch einige Brisanz. Zwar führte CSC bisher deutlich, doch nach dem Ausfall von Volker Ruland fehlt ihnen auf den beiden entscheidenden Etappen, der morgigen Bergetappe und dem Zeitfahren am vorletzten Tag, ihr stärkster Mann, dessen Ausfall nur schwer zu kompensieren sein wird. Das Team Gerolsteiner befindet sich noch immer in Schlagdistanz, und wenn Schwarzenbeck, Kohl und Fothen ihr Leistungsvermögen abrufen können ist es denkbar, dass sie diese Wertung doch noch gewinnen werden.

Tageswertung 15. Etappe
1. Boonen
2. Brogniart +1:57
3. Anton +2:44
4. Schwarzenbeck +3:06
5. Guerao +3:20
6. Teppers +4:12
7. Mullor +4:12
8. Singh +4:39
9. Gilmartin +4:39
10. Kreuziger +4:39

Gesamtwertung
1. Schwarzenbeck
2. Brogniart +1:48
3. Guerao +1:59
4. Teppers +4:38
5. Kreuziger +6:43
6. Rujano +7:49
7. Mullor +8:19
8. Singh +8:31
9. Braijkovic +12:48
10. Reus +12:52

Sprintwertung
1. Boonen 229
2. Ciolek 173
3. Haussler 150

Bergwertung
1. Caruana 196
2. Brogniart 95
3. Rujano 85
Und noch eine weitere Sache geschah am heutigen Ruhetag. Gerüchte kamen auf, der vorgestern noch so grandios auftrumpfende Iban Mayo habe bei seinem Etappensieg mit elf Minuten Vorsprung manipuliert und betrogen. Er wusste, dass es nicht stimmte. Doch es war ihm egal. Ein letztes Mal trat er vor sein Haus um sich den einst so verhassten Kameras zu stellen. Die gewonnene Trophäe warf er ins kalte Wasser eines Teiches und das Preisgeld legte er auf einen Haufen und legte Feuer. Lodernd stiegen die Flammen gen Himmel, doch er wandte sich ab, mit einem niederträchtigen Blick für die Menschen um ihn herum, stieg auf sein Fahrrad und fuhr los, wurde eins mit dem Rad, mit mir, mit der Welt. Und war glücklich. Denn tatsächlich, er hatte sein wahres Selbst gefunden, den Sinn des Lebens nach so vielen Jahren endlich begriffen.
Und so verbrachte ich Stunden damit, ihm zuzusehen, ihn zu bewundern, wie er die schöne Bergwelt durchfuhr und genoss, wie er jeden Busch und Strauch, jede Blume und jeden Grashalm in sich aufsog, wie er die Wolken am Himmel beobachtete, wie er die Sonnenstrahlen auf seiner Haut spürte und genoss. Und wie er Rad fuhr, so, als wäre es das einzige auf der Welt. Und ich war überwältigt von dem, was er tat. Und wieder kam diese Vorahnung in mir auf. Doch zuvor gilt es noch eine Sache zu Ende zu bringen, die so lange schon im Raum steht. Morgen geht es ein letztes Mal steil bergan, und morgen muss ich mich mir selbst ein letztes Mal beweisen. So wie auch Iban Mayo es getan hat.

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Beitrag: # 475803Beitrag Grabba
27.11.2007 - 18:36

Höllenfeuer, Kraft des Schmerzes

Es hat bereits begonnen. In der Ferne sehe ich, wie sie jetzt schon leiden müssen. Genau wie ich wissen sie, welche Qualen ihnen noch bevorstehen werden. Und sie wissen, dass es nicht reichen wird. Viel mehr als ein müdes Lächeln können sie mir nicht abgewinnen. Denn der Spaß des Tages ragt noch immer in der Ferne vor ihnen auf. Nicht bedrohlich, sondern vernichtend. Aller Mut ist schon jetzt aus ihnen gewichen. Jetzt, da sie den Gipfel überqueren, bergab rollen, sich durch die engen Täler schlängeln, durch die dichten Wälder, vorbei an kleinen Bächen, die über ihr Bett aus großen Kieseln rauschen, durch Wiesen und Felder, eingeengt zwischen steilen Hängen, im Inneren einer tiefen Schlucht. Doch selbst die ganze Schönheit der Natur lässt sie die größte Bedrohung von allen nicht vergessen.
Die Geschlagenen kehren zurück. Doch sie wittern keine neuen Möglichkeiten. Sie wissen um ihr Schicksal. Jenes, das bald beginnen wird. Ein letztes Mal geht es nun durch eine kleine Ortschaft, ein Dorf von Bauern und Viehhirten. Und so erreichen sie das Niemandsland, dem sie bis ans Ende des Tages nicht mehr entrinnen werden. Sie sind gefangen. Und die Angst treibt sie an. Und so stehen sie nun unter mir. Und es geht bergan. Steil. Steiler, als sie es sich je erträumt hätten. Und so lang ist der Weg noch immer. Die Sonne steht nun in ihrem Zenit. Brütend drückt sie hernieder, röstet die Fahrer. Die finale Schlacht hat begonnen.
Heute wird es sich entscheiden. Bisher war das Vorgeplänkel. Wer heute siegt, macht alles Andere vergessen. Wer heute scheitert, hat versagt. Sie wissen es. Und nehmen die Rampen in Angriff. Und werden fallen. Alle. Die einen mehr, die anderen weniger. Und nur einige wenige unter ihnen werden sanft fallen, doch stehen wird am Ende des Tages niemand.

Ich sende den Schmerz nicht als permanente Qual aus. Noch nicht. Es sind diese kleinen Intervalle des Leidens, die von Zeit zu Zeit ihren Körper durchzucken, mal heftiger und mal sanfter, doch immer schmerzhaft, die ihnen bereits jetzt zu schaffen machen, die ihre Zähigkeit unter Beweis stellen werden. Und während vorne von einer Mannschaft Tempo diktiert wird zeigt meine Arbeit ihre Wirkung. Einer nach dem anderen fallen die Sprinter ab. Und die schweren Klassikerfahrer. Karel Denoulet. Gemeinsam mit Allessandro Ballan kämpft er sich bergan. Sonst sind sie Kontrahenten. Hier, unter den Schwächsten der Schwachen gibt es keine Konkurrenz mehr. Jeder will überleben. Doch heute wird ihnen auch diese Einheit nicht helfen.
Sie haben den Schatten der Bäume, die letzte schützende Hand, die ich ihnen gewährt hatte, verlassen. Die Haut ist längst nicht mehr hell. Und auch nicht mehr braun. Selbst der Schweiß und alles Wasser, das sie über sich ergießen, kann ihnen im Ofen der Hölle nicht mehr helfen. Keine Luft bewegt sich. Alles steht still, so ewig heiß.
Auch Sprinter müssen leiden. Fallen zurück. Ihre Kehlen sind schon längst vertrocknet. Keine Energie bleibt ihnen mehr, sich gegen den Willen der Natur und gegen meinen zu stemmen. Keine Kraft mehr, die sie nicht schon verloren hätten auf den entbehrlichsten Metern ihres Lebens. Und gerade erst der Anfang ist geschafft. So ewig weit ist es noch. Erholung gibt es keine. Und auch das Wasser wird schließlich knapp. Der Weg ins Ziel ist ihnen versperrt.
Die ersten sinken nun zusammen. Fallen auf den Boden. Werden verbrannt von der Hitze. Schreien, jammern, winseln. Und haben doch keine Kraft, aufzustehen. Dem Feuer können sie nicht entrinnen. Ihre versengte Haut schützt sie nun nicht mehr vor den Flammen. In der Glut vergehen sie. Es gibt kein Halten mehr, keine Möglichkeiten, zu verbleiben. Sie hätten Hilfe so sehr nötig, doch alles, was ich ihnen geben kann, sind Schmerzen, mehr und mehr davon. Immer mehr. Und langsam hören die Intervalle auf. Sie weiten sich aus zu einem immerwährenden, endlosen Pegel der Pein. Doch es wird schlimmer, und immer weiter steigt der Pegel an. Viele können nicht dagegen ankommen. Und es bedarf nicht einmal der Zeit, ihnen die eigene Niederträchtigkeit zu beweisen. Sie begreifen es selbst, und geben auf.
Auch die ersten Fahrer von der Spitze fallen nun zurück. Keiner hatte gegen sie einen Angriff gewagt im Glutkessel der heutigen Qualen. Sie selbst hatten sich voller Hingabe aufgeopfert für ihren Anführer. Der heute den Sieg am Ende doch erringen wollte. Und nun kämpfen sie hinter den Verbliebenen selbst gegen ihren Untergang an. Schwach waren sie schon gewesen, und noch schwächer hatten sie sich selbst gemacht. Geschrumpft und geschmolzen waren sie in der Hitze. Doch den letzten Stoß hatte erst ich ihnen verpassen können.

Und immer mehr ereilt nun das Schicksal der Niederlage. Rosalbino Ceredi, der anfangs noch so stark hatte auftrumpfen können, muss nun einsehen, dass es nicht reichen wird. Ich entziehe ihm alle Energie. Ich spüre förmlich, wie alles, was ihm verblieben war, aus seinem geschundenen Körper entfließt. In Strömen rinnt es an ihm herab, und ich kämpfe mit der Sonne um den Verbleib seiner Kräfte. Doch ihm selbst bleibt nichts. Nicht einmal mehr das Verständnis für Schmerz habe ich ihm gelassen. Es ringt ihn nieder, sein Leiden, doch er weiß es nicht, weiß nicht, was es ist, denn er kann es zwar fühlen, doch seinen Empfindungen keinen Namen geben, sie nicht verstehen. Das Verständnis für alles, für Freude und Leid, habe ich ihm in der jetzigen Stunde endgültig genommen. Vor ihm liegt die ausweglose Unendlichkeit einer leeren Wüste. Es gibt keinen Gedanken an das Ziel, doch auch keinen daran, aufzugeben. Es gibt nichts, außer das ewige Treten, das ihm ein Gefühl gibt, von welchem er nicht einmal weiß, dass es in ihm ist. Und durch die endlose Leere setzt er seinen Weg fort, ohne Sinn und Ziel, denn kein Licht ist am Horizont verblieben. Es gibt nur ihn und das Nichts, das ihn umschließt. Zeitlos quält er sich. Und enden wird es nie.
Auch viele starke Helden sind lange gefallen. Sie kämpfen am Ende der Meute, die nunmehr seit langem zu einem kleinen Pulk geschrumpft ist, oder haben den Kontakt bereits verloren. Nibali und Bertin, die sich in Italien noch um die guten Platzierungen hatten duellieren können haben auch heute wieder die Segel streichen müssen. Sie sind weit zurück. Stur geradeaus, mit halb geschlossenen Augen, ächzen sie nebeneinander her. Kein Laut vermag ihnen zu entrinnen, denn ausgetrocknet sind ihre Kehlen, verdorrt ihre Mägen und so qualvoll ihr Pfad. Es gibt kein Geländer, an dem sie sich entlanghangeln können. Das haben sie schon lange eingesehen. Sie müssen es alleine versuchen. Und werden scheitern.
Seit Minuten schon kämpft Janez Braijkovic am Ende der einzigen verblieben Fahrergruppe, der Spitze des Rennens. Nicht viel mehr als zehn sind es, die noch vor ihm fahren. Er muss beißen, muss den Anschluss halten. Das ist alles, was er weiß, alles, wofür er kämpft. Doch ausweglos ist es. Einige Zeit belächle ich ihn. Immer wieder erhöhe ich den Schmerz etwas, und so klafft vor ihm schnell eine kleine Lücke. Und ich entlaste ihn wieder etwas, und so kann er sich erneut herankämpfen. Doch von Mal zu Mal wird es schwerer, denn die Hatz an der Spitze ebbt nicht ab. Und gerade als er zum siebten Mal abgefallen war und sich zum siebten Mal wieder herangekämpft hat versetze ich ihm einen letzten, finalen Stoß von solcher Wucht, dass es ihn zertrümmert. Die Gruppe ist hinfort, die Hoffnungen verloren. Seine Seele schmerzt ihn so sehr, und weit sind sie ihm nun schon alle entrückt. Es gibt nichts mehr, was ihm noch helfen könnte.
Zehn sind es nur noch, die in der Gruppe verblieben sind. Am Ende hängen Jose Rujano, Roman Kreuziger, Bayung Singh. Sie quälen sich vereint. Doch sie halten das Tempo noch immer, denn sie wissen, dass auch die anderen leiden. Doch in diesem Moment ist es so weit. Ein weiteres Mal wird vor ihnen die Schlagzahl erhöht. Vereint lassen sie abreißen. Haben keine Möglichkeiten mehr, der erneuten Verschärfung der Trittfrequenz zu folgen. Sie versuchen es gar nicht erst, denn sie wissen über die Ausweglosigkeit bescheid. Auch zwischen ihnen herrscht kein Zusammenhalt mehr. Jeder ficht den Kampf ganz für sich alleine aus. Denn was hilft es ihnen gegen mich schon, wenn ein anderer neben ihnen fährt, der genauso leidet wie sie. Sinnlos erscheint es auf beide Weisen.

Er war mit so großen Ambitionen in das Rennen gegangen. Und bisher war es gut verlaufen. Doch der heutige Tag ist die Hölle für ihn, der düsterste seiner Karriere. Er kann kämpfen, kann beißen, so gut, besser als so viele andere. Doch was hilft es ihm, ist er doch heute eingeklemmt zwischen zwei Fronten, die seine Kraft in ihrer Einheit zunichte machen. All seine Vorbereitungen der Vergangenheit scheinen Yvan Teppers umsonst, alle Anstrengungen der Gegenwart nutzlos. Es ist noch solch ein weiter Weg. Und das Ziel ist seinen Augen schon lange entschwunden. Er weiß es. Bezwingt er mich am heutigen Tag, so kann es kein Halten mehr geben in seinem weiteren Leben. Doch scheitert er, so ist er für immer am Boden. Dass er nicht siegen kann ist ihm dabei entglitten, doch in seinem Unterbewusstsein ist dieses Wissen fester verankert als alles Andere, so elementar ist es doch. Und so gibt es für ihn heute nur die Möglichkeit, nicht gänzlich zu verlieren. Schafft er dies, so kann er es wie einen Sieg werten. Und alleine kämpft er weiter.
Die Gruppe konnte nun auch Joseph Caruana nicht halten. Er ist der Bergkönig, und doch, ich bin zu stark, auch für ihn. Wahrlich kämpft er nun. Mit Kraft und Mut. Er steigt aus dem Sattel. Wirft noch einmal seine ganze Energie in die Pedalen. Dies allein zeugt von Stärke. Und so mutig ist er, hier alleine den Kampf aufzunehmen, bei vollem Bewusstsein. Bis ins Ziel wird er sich kämpfen, dies weiß er immerhin. Und damit wird er mehr erreichen als all jene verglühten Seelen, die lange zuvor gescheitert sind.
Er hat sich noch nie so stark gefühlt wie heute. Er weiß, dass er die beste Form seines Lebens hat. Und doch, doch scheint er nicht in der Lage zu sein, den Dominatoren dieser Rundfahrt zu folgen, geschweige denn selbst die Initiative zu ergreifen. Juan Manuel Mullor, Spanier, Baske. Schon immer ein Klettertalent, und von großartiger Kondition durchsprudelt. Er will, so unbedingt, heute allen zeigen, wie stark er ist. Doch eine Attacke kann er nicht wagen. Nicht einmal in seinen Gedanken. Zu sehr zehrt all dies an ihm. Ich unter ihm, die Hitze um ihn herum, das grellste Licht über ihm. Die Strahlen brennen sich in seine Haut ein. Eigentlich würde es ein Muster darstellen, doch es sind so unzählig viele und starke, dass von der eigentlichen Struktur nichts mehr verblieben ist. Er quält sich am Ende. Will es versuchen, doch kommt nicht einmal aus dem Sattel. Und als er wieder aufschaut sind sie schon aus seinem Blickfeld entschwunden. Zu wenig. Zu schwach. Nicht möglich. Er ist daran gescheitert. Das Ziel zu erreichen liegt nun nicht mehr im Bereich des Möglichen. Und wenngleich er einer der Besten ist, so ist er doch nicht stark genug. Auch ihn habe ich zermürbt.

Tim Schwarzenbeck sieht die Situation so klar, wie sie sich vor ihm ausgebreitet hat. Alan Guerao, David Brogniart und Luis Steyaert. Der Belgier, der Edelhelfer des Franzosen. Was er doch heute für Qualitäten erweckt hatte, welche Kräfte er aus sich herausholen konnte. Es war beeindruckend. Die letzten Tage musste er sich so sehr geschont haben, und doch so unendlich stark scheint er heute. Ihn selbst durchströmen schon lange keine Glücksmomente mehr. Die Beine werden immer schwerer. Auch in den Armen ist keine Kraft mehr verblieben. Er hätte nie gedacht, dass er seinen ganzen Körper so sehr würde schinden können. Die Gedanken an das, was passieren würde, sobald er abreißen lässt, kommen ihm gar nicht. Er spürt nur die Qualen und den Schmerz, die Überwindung die es ihn kostet, nicht den Anschluss zu verlieren.
Die Wucht, mit der ich meinen finalen Schlag setze, fällt wie ein Hammer auf ihn hernieder. Kaum noch Zeit war mir verblieben. Bald haben sie mich hinter sich gelassen, und diese eine, letzte Selektion im Mindesten musste ich noch vollführen, mag es mich auch meine ganze Kraft gekostet haben. Verzweifelt kämpft er. Jeder Tritt fällt ihm schwerer, doch noch immer sieht er sie vor sich, denn auch sie wurden von meiner Macht nicht geschont. Und es ist dies mein letztes Aufbäumen gegen die stärksten Fahrer dieser Rundfahrt. Die ersten drei haben den Gipfel überquert, und der vierte nur wenig später. In der Abfahrt wird er sie einholen können. Noch zweimal wird es hernach bergauf gehen, doch eigentlich ist der Tag bereits jetzt entschieden. Denn ausschlaggebend ist einzig und allein die Kraft, die ihnen nach dem Kampf mit mir noch verblieben ist. Und viel ist es bei keinem. Auch Alan Guerao, und selbst David Brogniart, zeigten Regungen von Anstrengung, Leid und Qual. Und so habe ich es am Ende doch geschafft. Mein Ziel ist erreicht. Und während ein Fahrer nach dem Anderen nun die Aufgabe abgeschlossen hat und erleichtert ist beginne ich, mich zurückzulehnen. Denn lahmgelegt habe ich viele, und zumindest den Zahn gezogen habe ich allen. Der Rest fungiert als Nachspiel. Jenes, welches mich belustigen soll. Und wird.

Am vorletzten Anstieg fährt Luis Steyaert das gleichmäßige Tempo hinauf. Brogniart, Guerao und auch Schwarzenbeck können ihn halten. Groß ist die Herausforderung nicht mehr. Doch am Ende, als es in den Schlussanstieg geht, in die letzte Hürde dieser Rundfahrt, die gegen mich wie ein Hämpfling wirkt, doch dank mir all ihre zerstörerische Wut entfalten kann, geht schließlich David Brogniart selbst. Und vereinzelt kämpfen nun auch hinter ihm der Baske Guerao, der Deutsche Schwarzenbeck, und sein tapferer, so starker Edelhelfer aus Belgien, Luis Steyaert.
David Brogniart kommt als erster im Ziel an. Noch immer scheint die Sonne. Er streift das gelbe Trikot über. Als Zeichen dafür, dass die Sonne ihn nicht besiegen konnte. Und vielmehr noch als Zeichen dafür, dass er derjenige war, den ich am wenigsten hatte schwächen können. Und so wurde die Rundfahrt am Ende doch so entschieden, wie sie entschieden werden sollte – durch mich. Mich, den ewigen Fels in der Brandung, jenen einsamen Kämpfer zwischen den Welten, dessen Aufgabe, Bestimmung und Glückseligkeit es ist, die kühnen, mutigen und so tapfer kämpfenden Radsportler in ihre Schranken zu weisen, sie zu bezwingen. Meine Augabe ist erfüllt.

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Beitrag: # 475872Beitrag Grabba
28.11.2007 - 20:50

Epilog - Winde des Himmels, der letzten Stunde Boten

Es ist wieder Ruhe eingekehrt. Der Trubel der letzten Wochen ist vorüber. Nicht mehr viele verweilen hier. Doch heute stattete ein kleiner Junge mir seinen denkwürdigen Besuch ab. Acht oder neun Jahre mag er alt gewesen sein, das unschuldige Gesicht makellos und von keinem bösen Willen gezeichnet. Die Landschaft genoss er, das unglaubliche Panorama dieser spätsommerlichen Gebirgswelt. Und von ihm ging eine Wärme aus. Es war nicht die feurige Hitze der Sonne, sondern vielmehr das warme, wohltuende Gefühl eines reinen Herzens, das von ihm auf mich überfloss. Die Zeit seines Lebens hatte er noch vor sich, doch nun stand er hier, und langsam begann die Langeweile ihn zu zermürben. Schon wollte er am Bein seines Vaters zerren, diesen zum Gehen bewegen, nicht von einem bösen Willen sondern lediglich von der eigenen Unwissenheit und Kindlichkeit getrieben, als plötzlich die Flamme seiner Augen mit einem einzigen Schlag so hell aufleuchtete, dass es mich für immer blendete.
Zwei Radrennfahrer fuhren den Anstieg hinauf, der eine leichtfüßig, der andere gequält. Selbst ich hatte die beiden übersehen, so sehr hatte die Anwesenheit des Jungen mich in ihren Bann geschlagen. Doch nun, da ich sie bemerkte erkannte ich sie direkt, hatte ich sie doch auch schon bei der vergangen Tour begrüßen dürfen. Tim Schwarzenbeck und Heinrich Haussler in ihren cyanblauen Trikots hatten den Aufstieg soeben bewältigt. Als sie an dem kleinen Jungen und seinem Vater vorbeifuhren folgte Tim Schwarzenbeck seinem Instinkt, hob seine Hand und winkte dem kleinen Jungen mit einem Lächeln zu. Der Tragweite seiner Entscheidung war er sich weder zu diesem noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt seines Lebens bewusst, doch wer vermag schon die Weisheiten des Schicksals zu erkunden, wer vermag schon seine Wege und Gedanken zu verstehen? Und so kam es, dass der Junge zu seinem Vater sagte, was sein Leben nun prägen wird: „So will ich später auch einmal sein!“
Und so wird er sein. Eines Tages wird auch er die Tour de France gewinnen, eines Tages wird auch er es geschafft haben, diese oberste Sprosse der radsportlichen Karriereleiter erklommen zu haben. Irgendwann wird auch er stark genug sein, stärker als alle anderen, stärker als ich. Ob ihn auch dann noch die Wärme der Unschuld durchfluten wird weiß ich nicht, doch die heißen Wallungen seines ehrgeizigen Herzens werden niemals abklingen. Daran, und wenn es nur diese eine Sache ist an ihm, wird selbst die Zeit nichts ändern können. Zeit, diese schier allmächtige Waffe der Welt. Auch der nun noch so kleine Junge wird eines Tages von ihr eingeholt werden. Ob sie ihn in ihren Bann schlagen kann, ob sie ihn genauso zermürben kann wie sie es mit mir zuweilen macht, das weiß ich nicht. Doch dass er niemals gegen sie bestehen kann, niemals bestehen wird, das weiß ich, denn es ist klar. Unumgänglich ist dieser Lauf der Dinge, den die Zeit allein bestimmt.
Auch ich warte hier. Ich warte darauf, dass die Zeit voranschreitet, dass Neues passiert, dass die so lange erwartete Veränderung endlich eintritt. Doch wer weiß, vielleicht warte ich am Ende vergebens auf all meine Hoffnungen, und ohne es zu wissen einzig und allein auf mein Schicksal, das mich einholen wird? Ja, wer weiß dies schon.

Mit einem Lächeln dreht sich der kleine Junge um und geht. Ein Lächeln, das mir das Herz durchbohrt. Von einem Augenblick auf den anderen habe ich verstanden. Denn nun sehe ich.
Und vom Himmel wehen die santen Abendwinde, so heiß und kalt zugleich. Und ich schwinde dahin, werde im Geiste eins mit der Luft, mit Wärme und Kälte, mit dem Regen und der Sonne, und der Wind weht mich hinfort, aufdass ich verschmelze mit dem Licht. Am Ende von Allem.

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Beitrag: # 475874Beitrag Grabba
28.11.2007 - 20:54

Am Ende von Allem. Wie ich finde ein guter Abschluss für meinen AAR. Anfangs wollte ich die Geschichte noch weiter verfolgen, wollte vor allem noch die weiteren Etappen der Tour beschreiben. Aber als ich den vorletzten Beitrag (die letzte große Bergetappe) geschrieben hatte stand am Ende plötzlich ein Satz, bei dem ich mir dachte: Hey, jetzt muss der AAR aber auch wirklich zu Ende sein. Das Andere passte nicht mehr ganz. Nur noch dieser allerletzte Beitrag, der schon seit einer halben Ewigkeit darauf gewartet hatte, den AAR irgendwann vervollständigen zu dürfen. Am Ende von Allem.

Jetzt, da der AAR abgeschlossen ist, würde ich auch gerne noch einmal um Feedback, ganz gleich ob ausführlich oder nicht, bitten. Zumindest durch die Menge des Geschriebenen und dadurch, dass ich den AAR zu Ende gebracht habe, sollten mir eure Rückmeldungen schon vergönnt sein (hoffe ich). Hat euch irgendeine Stelle besonders gut gefallen? Irgendetwas gar nicht gut? Wie seht ihr die Entwicklung des AAR vom Anfang der Geschichte bis zum Ende? Was wollt ihr sonst noch darüber loswerden. Und vor allem: Wie ist der Gesamteindruck?
All diese Dinge sind nicht nur dazu da, mir zu zeigen, dass mein AAR mit Interesse verfolgt wurde, sondern zeigen mir auch, was ich in Zukunft besser machen kann bzw. was ich beibehalten sollte. Ja, richtig, Zukunft. Ich kann mir durchaus vorstellen, einen neuen AAR zu beginnen. Ich habe sogar schon einige, wie ich finde, echt nette Ideen gesammelt, aber fest ist da noch nichts. Zuerst will ich jedoch noch diesen AAR in einem .pdf-Dokument zusammenstellen, dann auch mit einer Übersicht über alle Fahrer (damit man beim Lesen auch weiß, wer da gerade am Berg hat abreißen lassen) und vor allem mit Ergebnissen und Zahlen der Tour selbst. Und natürlich werden auch die Texte, die ich hier gepostet habe, allesamt enthalten sein (noch einmal etwas überarbeitet und verbessert). Und als kleinen Zusatz habe ich mir überlegt, einen weiteren Beitrag zu schreiben, der die Zeit zwischen den letzten beiden Beiträgen, sprich die letzten 5 (?) Etappen der Tour de France 2013, beschreibt. Damit werde ich mir jedoch keinen Stress machen. Wenn es so weit ist, wird das Dokument hier zu finden sein.

Ich hoffe, dass euch mein literarischer Ausflug in die Gedanken eines Berges gefallen hat, dass diese Geschichte auch euch die Faszination des Radsports an manchen Stellen hat spüren lassen. Meinen lieben Dank an alle, die den AAR mit Spannung verfolgt haben, und auch an alle, die mir bisher Rückmeldungen gegeben haben (in der Hoffnung, dass es noch mehr werden). Mir selbst jedenfalls hat es großen Spaß bereitet, diese Geschichte zu schreiben und aus meiner Sicht zu perfektionieren.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit,
SG
Zuletzt geändert von Grabba am 27.3.2017 - 15:56, insgesamt 1-mal geändert.

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arkon
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Beitrag: # 475891Beitrag arkon
29.11.2007 - 0:10

ich fand das ding alles in allem sehr gelungen. aber das weißt du ja schon ;). insofern noch einige gedanken.

- am anfang hab ich mir gedacht: hä, hat der zuviel getrunken? vor allem als nach, in meinem empfinden, etlichen seitenlangen posts immer noch keine echte storyline entstand, da hab ich mich schon am kopf gekratzt
- um so überraschter und erfreuter war ich über die tour. und wie sie zu stande kam. das intro war ein wenig.. unübersichtlich. aber gerade die geschichten um die letzten jahre.. allgemein: die geschichtlichen rückblicke waren absolut das stärkste an deinem aar. für mich ist dieser chronismus einer der elementaren dinge des radsports, du hast ihn gut getroffen.
- die anfangsphase der tour, besonders die erste bergetappe (nicht die hügeletappe) war eigentlich.. der beste part. diesen post hab ich wirklich genossen.
- gegen ende wurde die sprache wieder "blumiger", der zug in der storyline hat gefehlt... das waren die schwächen: wenn du dich in der sprache verloren hast, abschnittelang nur ein thema breitgetreten hast. die atmosphäre stimmt zwar, aber ohne echte handlung...
- auch gefehlt haben mir zahlen. während des letzten posts hab ich etliche male hochgescrollt. ich bin auch ein schwerer fall in sachen namen, aber ich hab bis zum ende nicht genau gerallt, wer wer ist. dadurch ist auch das "mitleiden", was ja eigentlich den hauptteil des aars ausgemacht hat, etwas eingeschränkt gewesen

alles in allem: supär. ich hoffe, das ich dir durch das feedback genug punkte aufzeigen kann, um deinen nächsten aar, der GANZ SICHERLICH KOMMEN WIRD, genau diese schwächen zu nehmen.
(aber eigentlich würde er sich dann nur meinem eigenen annähern... mach dein ding. du hast selber genug ideen, um einen neuen aar, um eine neue welt zu erschaffen. zieh's durch!)
wer keine ahnung hat - einfach mal die fresse halten

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Beitrag: # 476325Beitrag Grabba
4.12.2007 - 11:55

Sonst gar niemand gelesen? :cry:

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Rene75
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Beitrag: # 476329Beitrag Rene75
4.12.2007 - 12:27

Sicher doch :)

Da du ja auch immer meinen AAR besonders verfolgst, habe ich mir natürlich hier bei deinem auch das eine oder andere genauer angesehen. Eine ausführliche Meinung von mir, bekommst du am Abend, muss leider schon in einer Stunde wieder in die Arbeit.

Natürlich hoffe ich das du meinen AAR weiter so wie bisher verfolgst. Was ich jetzt schon sagen kann, was ich besonders positiv finde, das hast deinen AAR fertiggestellt, was schon einmal ein Bravo verdient :P

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Beitrag: # 476422Beitrag Rene75
5.12.2007 - 10:49

Also ich denke das dein AAR hier sehr gelungen war. Sicher eine komplett andere Richtung wie sonst, aber eben sehr gut geschrieben. Du schreibst so, dass man das Gefühl hat es selber erlebt zu haben, oder zu erleben.

Ich denke einige hier werden traurig sein das du mit der Geschichte am Ende bist, inklusive ich. Ich für meinen Teil werde versuchen, die Genauigkeit und das Können tiefgründig zu schrieben, in meinen AAR auch so einzubauen.

Bekommst ne 1 von mir :D

Rad-Schumi
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Beitrag: # 476471Beitrag Rad-Schumi
5.12.2007 - 18:38

Hat leider etwas gedauert, aber jetzt möchte auch ich ein Wort zu deinem AAR verlieren, denn verdient hast du das alle Mal. Ich denke du hast schon an meinem ersten Kommentar gemerkt, dass ich deinen AAR mag, das hat sich nicht geändert. Allerdings muss ich arkon Recht geben, eins deiner Probleme ist, dass du manchmal zu viel drumrum schreibst. Passt zwar zu dem Gedanken des AARs, war aber machmal zu extrem. Ansonsten war die Umsetzung wirklich gut, auch dein Schreibstil passte dazu. Die Chronologie hat auch mir sehr gut gefallen. Ein Post hebt sich aber wie ich finde von allen anderen ab, der Epilog. Ich kann gar nicht sagen, warum er mir so gut gefällt, aber z.B. wie du darin das Ergebnis der Tour "versteckst", einfach genial. Auf das .pdf-Dokument freue ich mich schon, genauso wie auf deinen neuen AAR. Mach weier so :D

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