Der ewige Fels in der Brandung

FIKTIVE Radsport-Geschichten von Usern, die sich für schreibtalentiert halten

Moderator: Grabba

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Grabba
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Beitrag: # 426713Beitrag Grabba
16.5.2007 - 0:57

Von Siegern, die keine sind

Landesmeisterschaften. Wie lächerlich. Wie kann man sich nur anmaßen, den besten eines Landes auf einem topfebenen Rundkurs bestimmen zu wollen? Wie kann ein wuchtiger Kraftprotz wie Tom Boonen als der beste seines Landes bezeichnet werden, nur weil er am Ende des Tages nach der herausragenden Vorarbeit seiner Kameraden, die er so um die Möglichkeit brachte, sich selbst mit der Prestige des Titels zu schmücken, 200 Meter alleine gegen den Wind ankämpfte? Die Kolumbianer, die Venezolaner, ja, sie können sich wahrlich als die besten ihres Landes bezeichnen. José Serpa überwand die schwindelerregenden Höhen in den kolumbianischen Anden, und selbiges tat José Rujano in Venezuela. Ohne Hilfe ihrer Mannschaften, ohne irgendwelche Kraftsparmanöver, ohne alles. Sie waren schlichtweg die Stärksten, diejenigen, die als einzige den Titel verdient haben. Und nur so sollte der Meister eines Landes gekürt werden. Nur sie hatten es verdient, und niemals sonst.
Was man von Tom Boonen nicht behaupten kann, genausowenig vom Italiener Pozzato oder vom Franzosen Lionel Vagli. Kräfte sparen, am Ende einmal kurz sprinten, und so Landesmeister sein. Ich lache noch immer, wenngleich ich nicht weiß, ob ich nicht vielleicht doch besser weinen soll. Auch in Spanien war die Strecke kaum anders, wenngleich der Sieger Alan Guerao wohl auf jedem Terrain der Stärkste gewesen wäre. Der Sieger der Spanienrundfahrt der letzten beiden Jahre ist derzeit wohl wirklich außerordentlich gut in Form - ich bin gespannt, wie er sich in Frankreich verkaufen wird. Doch stolz sollte er auf seinen Titel kaum sein, denn was heißt es schon, wenn man bei nicht einmal 1000 Metern bergauf etwas schneller ist als die anderen, sich absetzen, und sich so bis in Ziel hinschleppen kann. Doch immerhin hat er gekämpft, und wenn schon nicht seinen Titel, so rechne ich ihm doch immerhin seinen Kampf hoch an. Soll er sich seines Trikots erfreuen, dass er bald in Frankreich zur Schau stellen darf. Um so mehr wird es mich freuen, ihn am Ende vielleicht doch niederzuringen.
Nur einem einzigen Fahrer ist es gelungen, sowohl den Kampf gegen die Masse der anderen als auch den aussichtslosen Kampf gegen die Zeit und sich selbst zu gewinnen. Kai Reus, der Niederländer, und seine Strecke war anspruchsvoll, wenngleich nicht vergleichbar mit den Schlachten der Südamerikaner. Doch immerhin hat er sich seine beiden Leibchen verdient, und erneut hat er im Duell mit Thomas Dekker seine Klasse und seine herausragende athletische Verfassung gleichermaßen unter Beweis gestellt. Schon im Duell mit Rogers und Singh hatte ich feststellen können, wie es derzeit um seinen Körper beschaffen ist. Und vielleicht, ja vielleicht kann er wirklich auch für all die selbsternannten Experten zu einer waschechten Überraschung werden. Meine Existenz würde ich darauf sicherlich nicht verwetten, doch wer weiß schon, was in der Zukunft kommen mag. Aus der Fassung wird er mich mit seinen Leistungen jedenfalls nicht mehr bringen können.

Einen harten Kampf auf endlich einmal anspruchsvollem Gelände gab es in Deutschland, genauer gesagt im äußersten Südwesten. Der Schwarzwald. Ich lächle zwar nur milde, wenn sich mein Blick von oben herab auf diese Region richtet, doch immerhin, in Europa war es die härteste Landesmeisterschaft, und damit auch der ehrenhafteste Titel. Daran gibt es nichts zu rütteln. Und es wurde zu einem fulminanten Kampf. Stets bergauf und bergab, und schon nach 30 Kilometern ging es erstmals auf weit über 1000 Meter Höhe hinauf - der Stübenwasen stand an. Es sollte der erste Richter des Rennens sein, an dem sich, wie man oftmals so unüberlegt daherredet, die Spreu vom Weizen trennen sollte. Seine Aufgabe erfüllte er mit Bravour, denn während hinten mehr und mehr Fahrer abfielen, anhielten und jammerten und sich in der Mitte die Favoriten mit gleichgültigen, versperrten Gesichtszügen belauerten ging man vorne in die Offensive - und wer dort alles in die Offensive ging. Einmal war es Matthias Kessler, der nach seinem Sieg bei Paris-Tours vor vier Jahren nichts mehr gezeigt hatte. Und mit ihm gingen zwei, denen ich es niemals zugetraut hätte: Gerald Ciolek und Toma Schöckel. Fahrertypen wie Boonen oder einst McEwen, Sprinter, ähnlich schnell wie Gerald Ciolek. Und dennoch folgten sie dem Antritt des einstmals herausragenden Kletterers. Schon einmal hatte der junge Toma Schöckel auf welligem Gelände mit einem Ausreißversuch bei den Deutschen Titelkämpfen Erfolg gehabt, doch hier auf 800 Metern Höhe anzutreten - mein Respekt gebührt ihm. Während Kessler vorne am Horn zog und Ciolek scheinbar mühelos mithielt musste Schöckel am Hinterrad schon beißen. Doch er biss, und er hielt mit, wenngleich wohl durchaus wissend, dass noch eine größere Herausforderung anstand, und dass er selbst in einem Zielsprint Gerald Ciolek wohl unterlegen wäre. Doch er wollte nicht aufgeben, nahm alle Qualen auf sich, und trotz seiner eigenen Unfähigkeit kämpfte er weiter. Respektabel. Doch mehr auch nicht, denke ich.
Hinten war die Gruppe derweil zerbröselt. Nur noch knapp 30 Mann waren verblieben, nahezu allesamt kleine Leichtgewichte. Und noch hatte keiner der großen Favoriten sich eine Blöße gegeben. Doch bald merkte man, welches Problem sich nun auftat. Von all den großen Favoriten hatte nur ein einziger ein schlagkräftiges Team an seiner Seite, doch Gerolsteiner würde sicherlich kein Tempo bolzen, hatte man doch mit Toma Schöckel einen Mann vorne dabei. Man wartete ab, pokerte. Vielleicht zu viel? Jene Fahrer, die am Stübenwasen noch nicht vom Rad gestiegen waren rollten nun wieder auf, nach und nach . Doch trotz der drei Teamkameraden an seiner Seite ließ Volker Ruland noch immer kein Tempo machen. Wollte er wirklich bis zum Feldberg mit der Aufholjagd warten, so wäre es vielleicht bereits zu spät. Ganz sicher wäre es zu spät. Das wusste Tim Schwarzenbeck. Und er seine Nerven gingen schließlich mit ihm durch, so ungebändigt war sein Siegeswille an jenem Tag. Und mit einem fulminanten Antritt flog er dem dahinrollenden Fahrerpulk in einem kurzen, steilen Gegenhang am Eingang einer Ortschaft davon, um seine Mitstreiter erst im Tagesziel wiederzusehen. Und er fuhr, gebremst durch nichts und niemanden. Hinter ihm nahm nun CSC die Verfolgung auf, und auch Sinkewitz von Mapei-Lotto und Schumacher von Milram-Südmilch schickten ihre beiden verbliebenen Helfer mit durch die Führung. Doch Schwarzenbeck war schneller. Alleine hielt er sieben Mann auf Distanz, nein, er vergrößerte den Abstand sogar. Denn das Gelände war wie für ihn geschaffen. Steigungen so weit das Auge reicht, eine auf die andere folgend, jede aufs Neue steil und hart, doch keine zu lang, allesamt an Kraft und Ausdauer zehrend, doch keine zermürbenden Kletterpartien.
Aber es war auch klar, dass der Feldberg erst noch kommen würde. Und wenn hinten der Kampf zwischen Volker Ruland, Linus Gerdemann und Tony Martin entbrennt, wenn Sinkewitz und Schumacher um die Hinterräder kämpfen müssen, wenn alle anderen zu Staub zerbröseln, wird Tim Schwarzenbeck sich auch dann noch halten können? Ich bezweifelte es, doch er sollte mich noch eines Besseren belehren an diesem Tage. Am Fuß des Anstieges war er bis auf eine Minute an die drei vorne herangefahren. Viereinhalb Minuten hatte er auf den letzten 30 Kilometern alleine gutgemacht. 23 Kilometer waren es noch bis ins Tagesziel, 28 beinharte Kilometer für all jene, die sich noch immer quälten und nicht schon längst aufgegeben hatten. Ganz vorne war es nun um Toma Schöckel geschehen. Vollkommen entkräftet fiel er Meter um Meter zurück, und als sein Kapitän an ihm vorbeiflog, heute zum letzten Mal für ein ganzes Jahr im cyanblauen Trikot, da konnte er ihm nicht einmal mehr die Wasserflasche herüberreichen. Doch auch Toma Schöckel quälte sich noch ins Ziel. Ein bewundernswerter Einsatz, aber wirklich nichts weiter.
Und während hinten nun der Kampf entbrannt war schwang Schwarzenbeck vorne auch an Kessler und Ciolek vorbei, wobei es zu meiner großen Überraschung Letzterer war, der ihm noch am ehesten folgen konnte. Doch auch für ihn war es am Ende zu viel des Guten, und so blieb am Ende nur der 13. Rang - wahrlich kein Rennen für T-Mobile, denn ich bin diesem Team ein zu starker Gegner, und das ist auch gut so. In der Gruppe der Favoriten zog Tony Martin nun so stark am Horn, dass schließlich nur noch Gerdemann und Ruland sein Tempo halten konnten. Zu meiner Überraschung war Heinrich Haussler derjenige, der sich noch am längsten an das Hinterrad der drei klammern konnte. Weder Sinkewitz noch Schumacher konnten den Erwartungen in irgendeinster Weise gerecht werden und mussten dem unerbittlichen Feldberg ihren Tribut zollen. Meine Achtung den Rampen dieser zähen Steigung. Und ich lachte sie aus. Schumacher stieg vom Rad. Sinkewitz quälte sich ins Ziel. Ob ihm mein Hohn noch immer in den Ohren widerhallen mag? Eine Freude wäre es mir, doch erfahren werde ich es wohl nie.
Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, kam der Antritt von Linus Gerdemann. Tony Martin war am Ende. Er hatte sich so viel vorgenommen, so stark gekämpft, und dann wurde er doch so überrumpelt. Ob alle Tropfen, die im weiteren Verlauf des Rennens von ihm noch herabtropfen sollten, Schweiß gewesen sein mögen? Ich bezweifle es, doch salzig waren sie wohl alle. Auch Volker Ruland konnte an den steilen Rampen des Feldbergs der Gewalt von Gerdemanns Attacke nicht standhalten und suchte hinter ihm seinen Rhythmus. Und waren auch Kessler und Ciolek längst vergessen, so war doch der Abstand nach vorne zu Tim Schwarzenbeck noch weiter angewachsen. Heute war wahrhaftig sein Tag, der Zeitpunkt für seinen ersten deutschen Meistertitel, der Tag seines ersten wirklich großen Triumphes der für ihn noch so jungen Saison, der Tag, an dem er sich das prestigeträchtige Leibchen erobern würde, in dem er die Tour bestreiten würde, zumindest so lange, bis er es gegen gelb eintauschen würde. Wir werden sehen, ob er seinen Traum wahrmachen kann. Tatsache ist jedenfalls, dass er heute sein erstes großes Saisonziel erreicht hat. Knappe zwei Minuten Vorsprung auf Linus Gerdemann, weitere 20 Sekunden auf Volker Ruland. Weder für AG2R noch für CSC hatte es heute zum Titel gereicht, und lediglich bei Gerolsteiner durfte man jubeln. Tony Martin kam als vierter ins Ziel. Ob diese Leistung reichen wird, um die in seiner Mannschaft Astana in diesem Jahr vakante Stellung des Mannschaftsführers einzunehmen? Man mag es bezweifeln. Gut zu wissen, dass bereits der Schwarzwald ihm seine Grenzen aufgezeigt hat. Ich werde ihn wie einen Butterkeks zerkrümeln, wenn wir uns schließlich in Frankreich gegenüberstehen werden. Und wieder kann ich mich voll Freude zur Ruhe begeben, voll Freude über viele erfolglose Kämpfer, doch vor allem voll Vorfreude auf die brandende Woge an noch immer strebenden Stars, die unaufhaltsam auf mich zukommt. Ja, ich freue mich.





Freut mich sehr zu höhren, José Miguel. Vielen Dank. Ich hatte beinahe befürchtet, die Qualität der letzten zwei, drei Postings wäre gesunken, aber offenbar ist dem nicht so. Fein, das bestätigt mich erneut, und ich werde so weitermachen wie bisher, oder zumindest ist dies mein Ziel. Echt ein super Lob, vielen lieben Dank! :)

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José Miguel
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Beitrag: # 427787Beitrag José Miguel
19.5.2007 - 11:11

Wann geht's weiter? (Sorry, dass ich so ungeduldig bin, aber der AAR ist einfach verdammt gut 8) )
RZ: Punktewertung Vuelta 2006 und 2008, Etappensieg TdF 2010, 2011 und Giro 2012&2014, Berg Giro 2012, 2013, 2014 / Rad-Tipp: Giro dell'Emilia, Paris-Tours 2008, Tour de Romandie 2011, Eneco-Tour 2011, WM-Zeitfahren 2011 / Frauenfussball-Weltmeisterschaft 2007 / Fussball-Bundesliga 11-12
SKI: Whitney Houston Award 10/11, 11/12, 12/13, 13/14

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Grabba
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Beitrag: # 428224Beitrag Grabba
20.5.2007 - 18:51

Danke, danke. Das Lob ehrt mich ja nur, freut mich wirklich, dass der AAR so gut ankommt. Danke! :)
In den letzten Tagen war es sehr stressig und ich hatte einfach richtig viel um die Ohren, und auch die nächsten drei Tage werden da keine Ausnahme bilden. Und dann bin ich erst einmal eine Woche lang im Urlaub. Doch danach werde ich wohl voller neuem Elan sein, voller Tatendrang und vor allem voller Kreativität und Ideen. Und Zeit, ja Zeit werde ich dann wohl auch wieder zur Genüge, oder zumindest deutlich mehr als momentan, haben. Ich befürchte, dass bis zum 1.6. erst mal kein weiterer Beitrag kommen wird, aber wie gesagt, danach geht es wieder gut und regelmäßig weiter.
Hier nun noch einmal ein letzter Beitrag vor der Pause, der jedoch wohl eher als Lückenfüller denn als richtiger "Story"-pushender Beitrag fungiert... Ich denke auch kaum, dass er der beste Beitrag des AARs ist, aber naja, seis drum, vielleicht gefällt er ja doch ganz gut... :)







An den Rand der Welt und darüber hinaus

Noch eine Woche wird vergehen, bis der Startschuss fällt. Diese ganze Prozedur, das ganze Gehabe drumherum. Lachhaft. Aber es führt wohl kein Weg daran vorbei, schließlich muss man in der heutigen Kommerzgesellschaft wohl so vorgehen, wenn man überleben will. Vor 50 Jahren war das alles noch anders. Doch was sind schon 50 Jahre? Selbst für die Menschen ist es nicht einmal ein Lebenszeitalter.
Doch ganz gleich wie es auch kommen mag, und ganz gleich was die Zukunft noch alles bringen mag - an den Anstiegen selbst hilft ihnen kein Geld dieser Welt. Und auch die Fans, die zu Tausenden und Abertausenden den Streckenrand säumen, die ihre Helden anfeuern und mich dabei zu erdrücken versuchen, ja, auch diese Verrückten und Wahnsinnigen sind nichts als niedliche Statisten, die dem großen Spektakel beiwohnen, dem Kampf aller Fahrer gegen mich. Und wie der Kampf ausgehen wird, darüber entscheiden nur Fahrer selbst und ich.
Doch tatsächlich ist es nicht mehr lange hin, bis es endlich beginnen wird. Und dann sind es nur noch wenige Tage, die sie von mir trennen, nur einige hundert, vielleicht tausend Kilometer. Und dann wird es heiß hergehen, heißer denn je zuvor. Ganz besonders bin ich in diesem Jahr vorbereitet auf ihren Großangriff, und so viele Gedanken habe ich mir gemacht. Ich bin nicht nur heiß auf die Duelle selbst, sondern auch heiß darauf, meine neuen Techniken anzuwenden, das auszuführen, das zu ersinnen so viel Zeit in Anspruch genommen hat, um schließlich jeden einzelnen Fahrer verspotten zu können, bis auf einige wenige Ausnahmen.
Und während wieder einmal ein Tag sich seinem Ende neigt, und der Horizont heute nicht in einem blutigen Rot getränkt ist sondern die Welt mit einem violetten Schimmer belegt, so driften meine Gedanken ab. Und mein Geist stürmt voran, zwei, drei Wochen voraus, ich vermag es nicht mehr zu sagen, doch immer weiter fort von mir, vom Jetzt. Mitten im Kampfe wähnt er sich bereits, und er sieht alles. Das ganze Leiden, den Schmerz, doch auch den Jubel und die Siegesfeiern. Er spürt, was die Fahrer selbst spüren, fühlt ihre Angst, ihren Respekt, doch auch ihre Erleichterung und Freude. Und die Zweifel weichen, sei es zu ewiger Trauer oder immerwährendem Glücke. Und weiter noch fließen diese Gedanken hinfort, werden eins mit meiner Vision, und ich sehe so viel vor mir, und als wären sie nicht von mir selbst ersonnen fließen doch die Verse aus mir hinaus, jene Verse, die der Dinge harren, deren Zeit kommen wird, und die auf ihre Erfüllung in stiller Ruhe warten. Es sind Verse, die eine übernatürliche Kraft mir einzureden scheint, und dennoch, dennoch könnte jedes Wort von mir selbst ausgehen, meinen eigenen Gedanken entsprungen sein:

Auf, auf, ihr Recken,
Denn heute gilt es zu ersteigen,
Den steilen, langen Weg,
Hinauf zum großen Berg,
Der euch im Wege steht.

Heut’ schon schmierig heiß,
Wo gestern noch weiß glitzernd lag,
Des Winters kalter Mantel,
Die Straßen die am nächsten Morgen,
Regennass im Winde ruh'n.

Und ewig sollt ihr leiden,
Wenn ihr versucht hinaufzusteigen,
Den langen, dunklen Pfad,
Der hin zum Gipfel führt,
Und über alle Sieger wacht.


Noch während die letzten Worte aus mir sprudeln kehrt mein Geist zurück und findet seine Ruhe. Vorbei ist die Vision, denn bald ist es so weit. Doch heute geht die Sonne unter.

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José Miguel
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Beitrag: # 428241Beitrag José Miguel
20.5.2007 - 19:38

Toller "Lückenfüller" :!: :D
Grabba hat geschrieben:aber wie gesagt, danach geht es wieder gut und regelmäßig weiter.
Schön, ich freue mich schon drauf.
RZ: Punktewertung Vuelta 2006 und 2008, Etappensieg TdF 2010, 2011 und Giro 2012&2014, Berg Giro 2012, 2013, 2014 / Rad-Tipp: Giro dell'Emilia, Paris-Tours 2008, Tour de Romandie 2011, Eneco-Tour 2011, WM-Zeitfahren 2011 / Frauenfussball-Weltmeisterschaft 2007 / Fussball-Bundesliga 11-12
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Beitrag: # 432533Beitrag Grabba
2.6.2007 - 23:40

Die Vision des Schreckens

All seine Gedanken sind nur auf jenes eine Ziel fixiert. Siebzehn Sekunden vor ihm haben sie den Gipfel überquert. Wird er sie bis ins Tal noch erreichen können, so ist der große Sieg endlich sein. Wird er sie einholen, so hat er nach fünf Jahren vergeblichen Kampfes endlich das Ziel erreicht. Doch erneut soll es anders kommen, als man es sich vorstellen kann. Die Straße ist schmierig, rutschig und glatt. Nicht nur ein dichter Regenfilm, sondern auch Schlamm und anderer Unrat ist von den Wassermassen erweicht und meine Hänge hinabgespült worden. Nun bedeckt er die Straßen. Zwar haben die Wolken ihre Pforten längst wieder verschlossen, doch noch immer bergen die Kurven Gefahren, von denen bis zu dieser Stunde niemand etwas ahnt.
Seine Geschwindigkeit ist ungebremst. Vierzehn Sekunden nur noch. Und jetzt schon nur noch zwölf, elf. Er kommt näher, sieht sie bereits. Immer näher. Seinem Ruf als rasanter Abfahrer wird er wieder einmal gerecht. Sechzig Meter mögen es vielleicht noch sein. Und während er sich in Gedanken schon wie der sichere Sieger wähnt ist mit einem Schlag alles aus. Ein Moment der Unachtsamkeit, Versteuert, ins Rutschen gekommen. Gefallen. Doch nicht gebremst. Und so schlittert er dahin, nicht dem Verlauf der Kurve folgend sondern seiner Fahrlinie, unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Keine Begrenzung kann ihn mehr aufhalten, gleich ist es passiert, endgültig um ihn geschehen. Mit einer schier irrealen Geschwindigkeit rutscht er auf den tiefsten Abgrund zu, und als er in die endlos dunklen Nebelschwaden fällt wird selbst sein Todesschrei erstickt.


Schon wieder die Vision meines Schreckens. Der Schock. Noch immer sitzt er tief. Es ist etwas, was nicht einmal ich verhindern kann. Eine Gefahr, die über allen Teilnehmern eines Rennens schwebt. Die Angst, dass diese Vision Wirklichkeit werden könnte, raubt mir alle Ruhe, die mir verblieben ist. Und die Menschen ahnen nichts von der Gefahr. Randsteine, zumindest an den tiefen Abgründen, so könnte man viel Unheil und Trauer verhindern, bevor es jemals geschehen könnte. Doch ich muss zusehen, stumm und tatenlos, weder in der Lage sie zu warnen, noch zu verhindern was unausweichlich eines Tages passieren wird. Ich habe Angst. Selbst für mich ist der Tod eine unsichtbare Grenze, die ich nicht durchdringen kann, und schon gar nicht zu überschreiten wage. Ich respektiere und fürchte ihn, und niemals würde ich ihm aus freiem Willen heraus ein Opfer bringen. Doch wie soll ich die Opfer verhindern, die die Menschheit sich durch ihre Ignoranz eigens auferlegt?

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Grabba
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Beitrag: # 433814Beitrag Grabba
9.6.2007 - 12:44

Ich hoffe nicht, dass das Interesse an meinem AAR mitlerweile verlorengegangen ist. Jedoch kamen immer wieder einige Dinge dazwischen, die mich abhielten, und mit der Lust hatte ich es in den letzten Tagen auch nicht so. Ich gehe aber davon aus, dass es jetzt wieder alles etwas fließender kommen wird. Außerdem war der Beitrag beim Schreiben überaus zäh, was die ganze Sache natürlich nicht vereinfacht hat - ich hoffe, dass er sich weniger zäh liest. Ich habe überdies noch einige Dinge geschrieben, die erst zum Ende der Geschichte hin gepostet werden, was natürlich auch immer wieder Zeit gekostet hat.
Also dann, viel Spaß mit dem Beginn meiner Tour de France wünsche ich euch allen, ich hoffe, dass es gefällt und dass ich bald weiterschreiben werde. Feedback jeglicher Form ist natürlich nach wie vor erwünscht!






Und so beginnt es

Ein gleißend heller Sonnenstrahl trifft mich. So ist sie also endlich erschienen, die Sonne meines Sommers, und steigt empor zum Himmel. Ja, die Sonne ist da, und die Tour hat begonnen. Elf Monate des Wartens und des Zweifelns, der Einsamkeit und des stillen Harrens sind mit einem einzigen Hauch hinfortgeweht. Und während die Sonne in ihrer unveränderlichen Bahn voranschreitet und immer heller leuchtet sehe ich ihr zu, um mir die Zeit des Wartens zu vertreiben. Und als sie in ihrem Zenit steht weiß ich, dass soeben der erste Fahrer von der Startrampe gerollt ist. Es geht los. Sie sind unterwegs. Lang noch ist ihr Weg hin zu mir, doch die meisten werden es bis zu mir schaffen. Und dann werde ich sie mit meinem Feuerwerk empfangen. Es ist kein Feuerwerk für das Auge, sondern ein Feuerwerk des Leidens für die Körper der Fahrer. Glückswallungen überschwemmen mich, und mehr denn je sehne ich die Stunde herbei, in der sie endlich bei mir angelangt sind, die Stunde meines Triumphes.

Während sie unaufhaltsam dahinrollen gehe ich sie in Gedanken noch einmal alle durch, von hinten bis vorne. Die Entscheidung über den Toursieg fällt an meinen Hängen, da braucht sich niemand etwas vorzumachen. Doch um die Tour zu gewinnen bedarf es mehr als reiner Kletterfertigkeiten – hier brauche ich mir nichts vorzumachen. So ist nun einmal der Lauf der Dinge, und auch wenn ich noch so sehr darauf hinarbeite, dass der Toursieger eines Tages nur noch durch mich ermittelt wird, so werde ich wohl niemals auf ganzer Linie erfolgreich sein. Und so wird die Gesamtheit der Favoriten von mehr bestimmt als den reinen Bergfahrern, und auch bei diesen gibt es manche, die man als Favoriten sehen kann, und andere, die es nicht sind. Und während die ersten schon fahren gehe ich sie alle in meinen Gedanken durch, Mannschaft für Mannschaft.



Zuerst wäre da Quickstep – mit Sicherheit das erfolgreichste Radrennteam des letzten Jahrzehnts, wenngleich sie nie die Mannschaft waren, die mir all zu viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Lange sah ich keinen Sinn darin, sie überhaupt zu beachten, doch dies hat sich geändert. Seitdem das Riesentalent Yvan Teppers bei der Vuelta zeigte, welch großartiger Radkünstler in ihm steckt, habe ich dem Team verziehen. Und er, der in diesem Jahr erstmals die Tour ernsthaft in Angriff nehmen wird, zählt zu den Favoriten, sowohl im Zeitfahren als auch in der Gesamtwertung. Dennoch, ich bin mir sicher, dass spätestens ich ihm den Zahn ziehen werde, denn siegen wird er gewiss nicht. Doch auch andere namhafte Fahrer stehen für das Team am Start. Tom Boonen, der größte Klassikerfahrer seit langen Jahren, der auch in diesem Jahr die nordischen Klassiker dominiert hat, wird in den großen Massensprints für Aufsehen sorgen. Sein Schüler und Zögling, Karel Denoulet, in diesem Jahr zweiter auf der Radrennbahn von Roubaix, wird ihn eskortieren, vielleicht gar die Sprints anziehen. Rosalbino Ceredi kommt mit kleinen Hängen sehr gut klar, doch viel mehr kann er bei dieser Tour wohl kaum erreichen. Immerhin konnte der Italiener schon mehrfach starke Leistungen in Italien und im Herbst abrufen. Und zu guter Letzt ist da noch Floriano Guidi, dem man nicht nur im heutigen Kampf gegen die Zeit einiges zutrauen darf.

Nicht all zu viel darf man vom französischen Zweitdivisionisten Agritubel erwarten. Außer dem Franzosen Crémont ist niemand im Team, der Großartiges vollbringen könnte. Doch vielleicht gelingt Crémont ja ein Coup in meinen Regionen, und vielleicht kann er sogar um das mir gewidmete Leibchen kämpfen. Ähnlich sieht die Situation bei den Basken von Euskaltel aus, doch im Gegensatz zu Agritubel gehören sie nach wie vor der ersten Division an. Außerdem ist von Juan Manuel Mullor durchaus zu erwarten, dass er zu meinen stärksten Kontrahenten gehören wird. Die Freude auf ihn und seinen Edelhelfer Igor Anton sprudelt jedenfalls in mir. Die Italiener von Costa Mediana gehören für mich nicht zu den großen Favoriten. Zwar überraschte ihr Jungstar Gregori Bertin beim Giro alle mit seinen Fertigkeiten und wurde sensationeller Vierter, doch ob es hier in Frankreich noch zu etwas reichen wird ist zu bezweifeln. Ivan Santaromita könnte vielleicht das eine oder andere Mal auf den Abschnitten, die vom Flachland zu mir hin- und wieder fortführen, glänzen, doch viel mehr auch nicht. Auch Enea Pozziello dürfte noch zu unerfahren sein, um gegen Boonen und all die anderen Stars zu bestehen.

Und ein Team lache ich aus. Es kommt aus Deutschland. Und ich lache nicht wegen der pinken Ausrüstung, und auch nicht wegen der Namen. Ich lache, weil ich sie alle zermürben werde. T-Mobile hat zwei erstklassige Sprinter dabei, namentlich Gerald Ciolek und Lionel Vagli, doch diese Muskelpakete werde ich schon ins Schwitzen bringen. Heute bereits sind der Schweizer Fabian Cancellara und der Baske Alvaro Artetxe zu den Favoriten zu zählen, doch warum? Könnte man nicht gerade von einem Schweizer und einem Basken etwas mehr erwarten? Und der Italiener Josja van Egmond sollte lieber einmal an langen, steilen Anstiegen seine Übungsrunden absolvieren und die Rennen in den Ardennen vergessen. Doch so kann man auch ihn nicht wirklich ernst nehmen. T-Mobile wird sicherlich einiges zeigen bei dieser Frankreich-Rundfahrt, doch im Hochgebirge werden sie jämmerlich verrecken.

Ganz auf sich gestellt ist Thomas Dekker vom spanischen Team Andalucia. Ganz auf sich allein gestellt wird er auch sein, wenn ich ihm endlich zeigen kann, wer der einzig wahre Herr der Tour de France ist. Eine meiner absoluten Lieblingsmannschaften hingegen wird vielen anderen das Leben schwer machen. Lampre Andoni tritt mit seinem Kapitän Cunego an, der noch einmal zu einem großen Schlag in Frankreich ausholen will. Doch auch wenn er Chef scheitern sollte steht mit Contador ein weiterer heißer Siegesaspirant bereit. Auch von Christiano Selerno und von Alfredo Gilmartin erwarte ich einiges, denn würdige Gegner dürften sie allemal sein. Unverständlich ist nur, was ein Sprinter wie Enrico Gasparotto in dieser Mannschaft zu suchen hat. Doch wer weiß, vielleicht kann auch er mich überraschen und überzeugen? Absolut lächerlich jedoch ist das Team Mapei Lotto aus Belgien. Weder Ivone Diglio noch Patrick Sinkewitz noch Bernhard Eisel werden ernsthaft in der Lage sein, mich zu gefährden. Und der Rest des Teams – man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Vielleicht ignoriere ich sie auch einfach in ihrem Kampf um die rote Laterne. Immerhin scheinen sich die menschlichen Zuschauer auch an den schlechten Teams erheitern zu können – und genau deshalb werden sie alle es nie zu etwas bringen.

Sehr stark wird das Team Milram – Südmilch sein. Vielleicht gelingt es ihnen ja wirklich, ein Feuerwerk der Angriffe abzubrennen. Braijkovic, Popovych und Lövkvist in einem Team, dazu ein Boasson Hagen, der gerade im gemeinsamen Zeitfahren eine große Hilfe darstellen dürfte. Stefan Schumacher ist zwar nie der große Kletterkünstler geworden, doch nichtsdestotrotz, er ist stark, nach wie vor. Und mit Daniele Bennati haben sie den einzigen Topsprinter, dem wirklich etwas an seinen Kletterfähigkeiten liegt, in ihren Reihen. Wirklich ein sympathisches und vor allem erfolgsversprechendes Team. Popovych vor Braijkovic, so ging 2009 die Tour aus, die als die „Tour des Ostens“ in die Geschichte eingehen sollte. Beide kamen damals völlig überraschend hervormarschiert, ohne jemals zuvor bei der Tour Großartiges geleistet zu haben, und duellierten sich. Alle anderen standen dabei im Schatten. Popovych war im Vorjahr dritter in Italien geworden, und Braijkovic sechster in Frankreich, doch trotzdem war die Überraschung für alle Experten gelungen. Selbst mich haben sie damals beeindruckt. Thomas Lövkvist wurde im Folgejahr bei der Tour nur von einem geschlagen, nämlich von Arslan Tynyanov, der hier seinen großartigen Triumphzug begann. Im letzten Jahr fuhr der Slowene Braijkovic noch einmal auf das Podium, doch viel mehr erreichten sie nicht. Dennoch weiß ich ihre Stärken einzuschätzen. In diesem Jahr haben sie sich alle auf die Tour vorbereitet, und sie werden stark sein. Ob es zum Sieg reichen wird, das vermag ich noch nicht zu beurteilen, doch wenn nicht mindestens einer von ihnen auf dem Podium steht, dann muss man sie für ihre Dummheit schon anklagen. Bennati ist sicherlich nicht mehr der Allerschnellste, aber gerade die beiden mittelschweren Überführungsetappen gegen Ende der Rundfahrt dürften ihm entgegenkommen, dann, wenn er als vielleicht einziger Sprinter noch nicht völlig von mir zermürbt worden ist.

Das Team von Caisse d’Epargne geht mit der Doppelspitze Singh und Reus an den Start. Michael Rogers und Galder Royo sind ihre Helfer in den Bergen, und der schnelle Spanier Francisco Ventoso soll sie „würdig in den Sprints vertreten“, sagen sie. Wie kann man bloß einen Massensprint mit Würde in ein und denselben Satz bringen? Doch ganz gleich ob würdig oder nicht, es bleibt abzuwarten, was dieses Team leisten kann. Ebenso bleibt dies abzuwarten von den Kolumbianern und ihrem Team. Aufgebaut nach dem Vorbild von Astana ist das Team Bogotá – Selle Italia schnell zu einem Weltklasserennstall gereift. Und dennoch hat man ihnen nie die ProTour-Lizenz zukommen lassen. Sei es drum. Wertloser Krempel, ein sinnloser Wisch Papier. Denn ein Team, in dem ein José Rujano fährt, ist bei vielen Rundfahrten erwünscht. Fünfmaliger Sieger des Giros, und wenngleich bei der Tour nie im Gesamtklassement unter den Besten, so war er doch bereits einmal Bergkönig und hat eine Etappe gewonnen – hinauf nach l’Alpe d’Huez! Ob er nach seinem zweiten Platz beim Giro und dem anschließenden grandiosen Triumphzug bei der Dauphinée noch genügend Wut im Bauch hat bleibt abzuwarten, und auch José Serpa und Román Valerio werden ihre Fähigkeiten in diesem Jahr erst noch unter Beweis stellen müssen. Ich bezweifle, dass Jose Rujano die Form hat, die er bräuchte, um mich in diesem Jahr umzustürzen. Und im Gegensatz zu Tynyanov verfügt er nicht über genug Würde und Ehrgefühl, seine Teilnahme abzusagen. Doch trotzdem, trotzdem würde ich diesen kämpfenden Venezolaner ansonsten schmerzlichst vermissen.

Saunier Duval hatte einstmals viel Potential – und hat nur viel zu wenig daraus gemacht. Ob Iban Mayo, Koldo Gil und Riccardo Ricco in diesem Jahr ernsthaft um den Toursieg mitkämpfen können bleibt abzuwarten, doch gerade Mayo traue ich es zu, wenn er denn zu seinem wahren Selbst findet. Viel eher ist da jedoch schon David Brogniart von Landbouwkrediet zu favorisieren. Er ist wirklich ein großartiger Fahrer, einer, dem ich tiefen Respekt zolle. In diesem Jahr muss er sich bei der Tour beweisen und zeigen, dass er das Zeug zum großen Sieger hat. Er kann es schaffen, das weiß ich. Und mit Luis Steyaert und Philippe Gilbert stehen ihm zwei erstklassige Helfer an seiner Seite. Ich bin gespannt, was das Team in diesem Jahr für ein Feuerwerk abbrennen wird, und vor allem, wer Brogniart aufhalten kann, wenn die Höhen schwindelerregend und die Steigungen übermenschlich werden. Ich bin ernsthaft gespannt. Gespannt bin ich aber auch auf die Franzosen von AG2R, die sich im Laufe der Jahre zu einer herausragenden Formation entwickelt haben. Mit Linus Gerdemann an der Spitze, mit Claudio Corioni im Sprint und mit Juan Antonio Flecha und Allesandro Ballan für die mittelschweren Etappen haben sie ein ausgeglichenes Team. Doch ob ihnen der ganz große Wurf gelingen kann? Auch bei Liquigas darf man sich da nicht so sicher sein. Nibali war zwar oftmals stark beim Giro, aber die Tour war nie seine Rundfahrt. Auch ist er vielmehr ein Rundfahrer als ein Kletterer – und umso leichter ist es für mich, wenn er denn gegen mich antritt. Auch Roman Kreuziger ist ein Rundfahrer, in allererster Linie sogar ein Zeitfahrer. Zwar ist er gekräftigt und stark, doch was er wirklich kann, das muss er auch in diesem Jahr erst noch unter Beweis stellen. Ob Filippo Pozzato noch seine Stärke und vor allem seine für einen sprintstarken Fahrer enormen Kletterfähigkeiten, die er am Anfang des Jahres gleich mehrfach unter Beweis stellte, abrufen kann ist fraglich. Doch wer weiß, vielleicht gelingt ihm ja eine Überraschung?

Rabobank ist zu einer kümmerlichen Rumpfformation zusammengeschrumpft. Es ist schon traurig, mit ansehen zu müssen, was von der großen niederländischen Radnation noch geblieben ist. Thomas Dekker, der nicht einmal für das Team fährt, Pieter Weening, und das war es bereits. Und ob Pieter Wenning endlich einmal eine wirklich starke Tour fahren kann will ich kaum für möglich halten. Und weder wird der Franzose Mickael Lemercier, der einen sehr starken Flèche Wallone fuhr hier besonders viel reißen können, noch werden Thor Hushovd oder Marco Murcato die Sprintentscheidungen mitbestimmen können. Nicht einmal die Sprints. Ein wahres Trauerspiel, zweifelsohne. Ein weiteres Trauerspiel ist Liberty Seguros. Nach den Vorfällen um den verruchten Betrüger und Schummler Fuentes aus Spanien hatte man sich aus dem Radsport zurückgezogen, nur um drei Jahre später wieder ganz groß einzusteigen – und dabei völlig zu versagen. Denn das Ergebnis ist erschreckend, die Mannschaft kaum konkurrenzfähig. Und so etwas tritt gegen mich an. Auch die Franzosen von Francaise des Jeux sind kein all zu starkes Team. Der Luxemburger Andy Schleck will zwar in diesem Jahr noch einmal versuchen, die Rundfahrerfähigkeiten aus seinen jungen Jahren abzurufen, doch ob ihm das gelingen wird ist zweifelhaft. Gérard Culianez ist zwar ein endschneller Mann, aber dass er der endschnellste sein wird halte ich kaum für möglich. Und ich denke, dass allein mein Anblick ihn aufhalten wird. Paris jedenfalls wird er in diesem Jahr nicht sehen.

Die ewige Talenteschmiede aus Dänemark ist mir da schon weitaus sympathischer. Volker Ruland, der in den letzten drei Jahren viermal auf dem Podium einer großen Landesrundfahrt stand. Er, der junge Deutsche, der sich zu einem der großartigsten Rundfahrer entwickelt hat. Und Alan Guerao, überlegener Sieger der letzten beiden Spanienrundfahrten, der nun die nächste große Hürde seiner Karriere angeht, die Tour de France. Auch Frank Schleck, wenngleich mittlerweile in die Jahre gekommen, ist noch immer ein starker Mann. CSC hat mir immer Freude bereitet, das muss ich zugeben. Eine Tatsache, die man von Cofidis nicht behaupten könnte. Zwar gehörte Jose Angel Gomez Marchante im letzten Jahrzehnt zu den stärksten und beständigsten Rundfahrern, jedoch nähert sich seine Laufbahn langsam ihrem Ende. Ob er bei seiner letzten Tour noch einmal glänzen kann bleibt abzuwarten. Und lächerlicherweise hat Cofidis seinem Kapitän mal wieder die ideale Unterstützung zur Seite gestellt. Nick Nuyens, den Flachlandspezialisten, sowie Danilo Napolitano und Sander Eijkjenbroek, zwei Sprinter. Wenn ich Gomez Marchante niedermache, dann kann er lange warten, bis Hilfe aus den eigenen Reihen ihn erreicht.

Das sympathische Team von Gerolsteiner hat sich im letzten Jahrzehnt zu einem der besten gewandelt. Tim Schwarzenbeck will in diesem Jahr unbedingt die Tour gewinnen, und die Kraft dazu hat er. Mit Bernhard Kohl und Markus Fothen stehen ihm zwei zur Seite, die bereits so gut waren, dass man sie in Paris neben den Toursieger auf das Podium stellte. Was sie in diesem Jahr gegen mich ausrichten können wird sich zeigen, doch wer weiß, wer weiß, vielleicht gelingt ihnen ja eine herausragende Leistung? Auch auf Heinrich Haussler darf man wieder einmal gespannt sein.
Und zu guter Letzt ist da noch die kasachische Mannschaft von Astana. In diesem Jahr sind sie für mich wertlos, denn ihr großer Champion, Arslan Tynyanov, mein ärgster Gegner, der Triumphator der letzten drei Jahre, steht nicht am Start. Rundfahrer Tony Martin oder Klettertalent Iniesta Arza aus dem Baskenland werden kaum um den Toursieg kämpfen können, genausowenig werden der Russe Gusev oder die Kasachen Bassayev oder Banatiev viel ausrichten können. Es ist wirklich ein Jammer, dass Tynyanov heute nicht von der Startrampe rollen wird.

Trotz einiger Absagen und mancher Fahrer, die ihre Stärke in dieser Rundfahrt kaum finden werden, bin ich mehr als nur zuversichtlich, dass die Kämpfe einmalig werden, dass ich ein Fest erleben werde, das mir Freude bereiten wird bis ans Ende meiner ungezählten Tage. Favoriten gibt es viele, doch nur einem einzigen wird es am Ende gelingen, mich wirklich zu zerschlagen. Bewerber und Aspiranten gibt es viele, so viele, dass man sie kaum noch zu zählen vermag. Sie alle werden kämpfen, die einen mit Erfolg, die anderen ohne. Wer in Paris für all die Sonderwertungen geehrt wird entscheiden andere, doch den Toursieg vergebe einzig und alleine ich.



Und so rollen die Fahrer auf den Straßen der Welt dahin, einem einzigen Ziel entgegen. Manche erreichen ihre Ziele, andere bleiben auf der Strecke. Für einen von ihnen wird der Prolog gar zum Epilog. Javier Iraola, voller Hoffnungen in das heutige Ringen mit der Zeit gestartet, wurde wenige Minuten später unter Schmerzenzschreien in die Krankenstation eingeliefert. Aus, vorbei, beendet. Schon einmal einer weniger, dem ich zu zeigen habe, wer ich bin. So hat auch dieser sonst so sinnlose Tag wenigstens eine positive Seite, von der die Zeitungen wohl kaum berichten werden, die mir jedoch ein zufriedenes , wohliges Gefühl beschert.
Dass Thomas Dekker den Prolog gewonnen hat ist dabei für mich von geringerem Interesse. Sieben Sekunden auf Kai Reus, neun auf Floriano Guidi, drei weitere auf Alvaro Artetxe. Mit Edvald Boasson Hagen und Fabian Cancellara gingen zwei hochgehandelte Favoriten unter und haben ihre Schwäche eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Thomas Lövkvist, Yvan Teppers, Markus Fothen, Roman Kreuziger und Volker Ruland zeigten, dass mit ihnen zu rechnen sein wird. Die Topfavoriten auf den Sieg hielten sich schadlos: David Brogniart, Alan Guerao, Tim Schwarzenbeck und Janez Braijkovic fuhren allesamt einen ordentlichen Prolog. Jose Rujano, Gregori Bertin, Damiano Cunego, Vincenzo Nibali – alle Stars der Italienrundfahrt schwächelten heute und verloren teils mehr als eine Minute auf den Sieger. Der baskische Kletterer, Juan Manuel Mullor, hat vielleicht schon heute seine Moral verloren – eineinhalb Minuten dürften auch für ihn zu viel des Guten sein.
So wird der Niederländer Dekker morgen ganz in gelb gekleidet auf die Strecke gehen. Es wird sich zeigen, wie lange er braucht, um sein Trikot zu verlieren. Und ebenfalls wird es sich zeigen, dass ich stärker bin als er, und dass er auch in diesem Jahr keine Chance haben wird, so wie viele andere auch. Warum treten sie überhaupt noch an, wenn ihnen am Ende doch keine Chance bleibt?
Und vor der Entscheidung von Arslan Tynyanov gewinne ich mehr und mehr Achtung. Als Titelverteidiger nicht am Start zu stehen, und das, obwohl man alle Freiheiten dazu gehabt hätte, muss schon eine große Überwindung aller inneren, ureigenen Widerstände sein, bei der selbst ich mitfühlen kann. Wenn nach dem heutigen Tag einem Fahrer Ehre gebührt, dann nicht den Siegern des Zeitfahrens, sondern einzig und alleine ihm, der Größe nicht nur auf dem Rad sondern auch aus seinem Inneren heraus bewiesen hat.

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Grabba
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Beitrag: # 433915Beitrag Grabba
9.6.2007 - 22:04

Mut, des Körpers heißes Feuer

Es ist die Entscheidung des Mutigen, das zu wagen, was andere nicht einmal in Erwägung ziehen. Gerade einmal 18 Jahre ist der Schweizer Mauro Lustrinelli alt, und dennoch besaß er heute den Mut. Bei einer sengenden Mittagshitze von weit über 35 Grad griff er nach gerade einmal sieben gefahrenen Kilometern an. Niemand sonst konnte die Energie und den Willen aufbringen, ihm zu folgen. Als er bereits über eine Minute auf das Feld herausgefahren hatte schien es offensichtlich, dass er die heutige Etappe im Alleingang bestimmen würde. Knapp 200 Kilometer lagen noch vor ihm, und spätestens jetzt wurde ihm klar, dass er den Sieg mit Sicherheit nicht würde davontragen können. Auch die einzige Berg-, pardon, Hügelwertung des Tages lag lediglich 13 Kilometer vor dem Ziel – auch hier würde das Feld ihn wohl längst geschluckt haben. Doch anstatt sich mit seinem Schicksal anzufreunden zeigte er den Mut, der so vielen anderen alten Herren verlorengegangen zu sein scheint. Er biss sich durch, und auch als die Sonne immer heißer auf seiner Haut brannte und die Schweißtropfen verdunsteten bevor sie sich in seine geröstete Hülle fressen konnten kämpfte er weiter. Die drei Zwischensprints, die er auf der Strecke gewann, nahm er wohl kaum wahr, doch wofür auch? Am Ende des Tages würden sie ihm ja wohl doch nichts nützen.
Und während er so seinen Tritt immer weiter durchzog begannen die Mannschaften der Sprinter langsam aber sicher, das Tempo anzuziehen. Und der arme Mauro Lustrinelli an der Spitze musste miterleben, wie sein Vorsprung Kilometer um Kilometer sank. Das, was er seit Beginn der Etappe zu wissen glaubte wurde nun zu einer unumstößlichen Wahrheit – diese Etappe konnte er mit Sicherheit nicht gewinnen. Doch noch hatte er ein Ziel vor Augen. Ein kleines Stück war es nur noch bis zur Bergwertung, und dennoch drohte es, eine Ewigkeit zu werden. Er fühlte sich leer und ausgepumpt, seine Gedanken hatten nur noch eines, worauf sie sich konzentrierten. Die Bergwertung. War sie das? Dort oben, auf der Kuppe des Hügels? Oder bloß ein hoffnungsloses Irrbild seiner geschunden Psyche? Wie in Trance schwang er sich noch einmal aus dem Sattel, den Hang hinauf, allen Schmerz in seinen Armen, in seinen Beinen , seinen Händen und seinem Kopf ignorierend, nur darauf bedacht, diese Linie zu erreichen. Und so fokussiert war er auf sein Ziel, dass er gar nicht merkte, wie das Feld von hinten zu ihm aufschloss, und erst als man 200 Meter vor der Bergwertung an ihm vorbeiflog verstand er, was geschehen war.
Völlig entkräftet wurde er langsamer, immer langsamer, und das Befürchtete wurde zur Gewissheit, als seine Gedanken sich wieder abkühlten. Und unter den Schweiß mischten sich nun die Tränen eines unerfahrenen Jungen, der heute den Mut und die Kraft hatte, der Beste des Tages zu sein. Nach den aufmunternden Worten seines Teamchefs rollte er mit einem von Trauer gezeichneten Antlitz über die Ziellinie. Doch als er eine knappe Viertelstunde später auf dem Siegerpodest stand um als kämpferischster Fahrer ausgezeichnet zu werden da lächelte er bereits wieder, denn er wusste, was er heute erreicht hatte. Und im Alter von 18 Jahren hatte er bereits begriffen, was andere in ihrem gesamten Radfahrerleben niemals verstehen können. Es ist nicht der Erfolg alleine, der zählt, sondern es sind der Mut, das innere Feuer und die erbrachte Leistung, durch die der Fahrer für sich selbst zum Sieger wird. Und nur die Achtung und die Würde vor sich selbst sind entscheidend, wenn es darum geht, sein Glück zu finden.
Und am heutigen Abend war er von allen Fahrern der Glücklichste. Glücklicher als Thomas Dekker, der sein gelbes Trikot verteidigt hat. Glücklicher als Floriano Guidi, der vier Sekunden aufgeholt hat, als er einen Zwischensprint gewann. Und mit Sicherheit auch glücklicher als der Tagessieger Gerald Ciolek, oder als der Zweite, Tom Boonen, oder der Dritte, Gérard Culianez. Und unter Garantie auch glücklicher als Mickael Lemercier, der zu Unrecht jenes Bergtrikot trägt, das eigentlich dem jungen, tapferen und mutigen Mauro Lustrinelli gebührt. Wenngleich er nicht der offizielle Sieger des Tages war, so war er es doch für sich selbst, ganz gleich was die nackten Zahlen auch sagen mochten. Kein Erfolg seiner Laufbahn würde diesen heutigen, diesen inneren Erfolg noch toppen können. Er hatte das Ziel seines Lebens erreicht.

RotRigo
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Beitrag: # 434415Beitrag RotRigo
12.6.2007 - 21:26

Ein Traum von einem Bericht. Ganz, ganz groß, Grabba! Riesig möchte ich sagen!

In einem neudeutschen Begriff: Geil!

Schön umschrieben: Das Lesen dieses Postings hat bei mir Gänsehaut hervorgerufen. Das ist weniger ein AAR, als viel mehr die Art von Radsport-Poesie, die ein jeder braucht um diesen Sport zu verstehen.

Danke!

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Grabba
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Beitrag: # 434615Beitrag Grabba
13.6.2007 - 19:49

Wow, das Lob geht unter die Haut. Vielen lieben Dank, Rot! Ich gebe mein Bestes, und wenn die Beiträge dann so gut ankommen, dann freut mich das um so mehr und motiviert mich doch direkt, weiterzuschreiben und neue Beiträge zu verfassen. :)
Auch ein endlich mal wieder schreibwütiger arkon mit seinem hochklassigem AAR motiviert mich jedes Mal aufs Neue, hier weiterzumachen und auch meine Geschichte voranzutreiben. Wollte das nur mal gesagt haben. *g* Also dann, viel Spaß mit dem nächsten Beitrag, der vielleicht nicht ganz so gut ist wie der letzte, aber nuja, lesen dürft ihr ihn dennoch gerne. ;)






Sanfte Tropfen, des Sommers falsches Gesicht

Ein sanfter Regenschauer geht hernieder. Er benetzt seine Haut, durchdringt sie. Das Wasser sickert durch die Poren und bahnt sich einen Weg in den Körper. Dort setzt es sich fest und wartet. All seine zarte, leicht bräunliche Haut ist bereits von einer dichten, nassen Schicht umschlungen. Hier, mitten im französischen Hochsommer, fällt der Regen aufs Land. Und dennoch fahren sie Rad. Auch Rosalbino Ceredi, der wohl namhafteste Fahrer in der Spitzengruppe.
Spitzengruppe. Diejenigen, welche die Führung des Rennens übernommen haben, die Aufgabe auf sich genommen haben, den anderen den Tag zu erschweren und für die staunenden Verehrer zu animieren, jene, die versuchen, dem Rest davonzufahren.
Spitzengruppe. So hat Rosalbino Ceredi viele seiner großen Erfolge gefeiert. Er ist ein gehärteter Kämpfer, der kleinwüchsige Italiener, doch nichtsdestotrotz ein starker Fahrer. Mit neunzehn Jahren war er italienischer Meister geworden. Aus einer großen Spitzengruppe heraus hatte er sich an einem Hang abgesetzt, und damals völlig überraschend den Titel erobert. Und auch bei der großen, heimischen Landesrundfahrt hatte er seine Kunst gezeigt. Damals, als ich all die namhaften Sprinter eliminiert hatte, ihnen meine Wände zu hoch aufgezogen hatte, damals griff er an, immer ging er mit, und niemand holte ihn zurück. An drei Tagen in dieser einen letzten Woche des Giros gewann er so. Ein jedes Mal hatte er sich vorher abgesetzt aus seiner Gruppe. Sein Wille war enorm, und die anderen hatte er stets hinter sich gelassen.
Spitzengruppe. Auch heute fuhr er wieder in einer, erstmals bei der Tour de France. Und schon sah er seine Chance gekommen. Und während sich seine Weggefährten noch mit den Unwegbarkeiten des Himmels plagten nutzte er sie, seine einzige, und griff an. Einige schnelle Tritte, ein saftiger Antritt an einem kleinen Gegenhang. Er blickte kurz zurück, in ratlose, ausgelaugte und angsterfüllte Gesichter. Sie alle wussten, dass er ihnen die Chance auf den Sieg genommen hatte. Sie waren nun weiter nichts als hoffnungslose Verfolger.
Einer Spitzengruppe. Auch heute hatte er sich wieder lösen können, und aus der Spitzengruppe sein Solo geformt. Wieder einmal war er es gewesen, der dem Rennen in letzter Instanz seinen Stempel aufgedrückt hatte. Und dennoch war es alles vergebens. Wie ein seelenloser Zug rauschte der große Pulk des Fahrerfeldes an ihm vorbei, und so gewann Gérard Culianez vor Boonen und Haussler. Boonen, der heute das Sprintertrikot übernahm und den nur noch drei Sekunden vom gelben Leibchen trennen und der heute doppelt sauer war, sowohl über den verpassten Tagessieg als auch über das verpasste gelbe Trikot. Doch er sollte es verschmerzen können, denn sein Teamkamerad, Floriano Guidi, schlug heute allen ein Schnippchen und sicherte sich die erste Sprintwertung, und somit mit einer Sekunde die Gesamtführung. Und morgen ist ja noch ein Tag für Tom Boonen, um sich vielleicht erneut nur einem Konkurrenten geschlagen geben zu müssen.
Rosalbino Ceredi und all seine Fluchtgefährten hingegen hat man schon lange wieder vergessen. Sei es drum. Sie haben ihren Teil vortrefflich gespielt und das Rennen animiert. Zu mehr waren sie heute nicht zu gebrauchen, im sanften Sommerregen der Provence.

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Beitrag: # 435099Beitrag Grabba
15.6.2007 - 17:09

Der Verlorenen Seelenleid

Stumme Schreie sind die schlimmsten. Wir hören sie nicht. Und so können wir auch nicht mitfühlen mit denjenigen, die sie von sich geben. Auch Tom Boonen erging es heute so. Lächelnd stand er auf dem Siegerpodest um allen sein erbeutetes gelbes Trikot zu präsentieren. Doch was hinter diesem aufgesetzten Lächeln steckte war die pure Enttäuschung über den erneut verpassten Tagessieg. Tom Boonen, der große Tom Boonen, hatte sich erneut nicht durchsetzen können gegen die starke Konkurrenz im elanlosen Massensprint.
Und dabei hatte es alles so grandios begonnen am heutigen Tag. Der erste Zwischensprint gehörte ihm, noch bevor die wertlose Ausreißergruppe des Tages sich lösen konnte. Wertlos, weil sie nicht einmal annähernd bis in Zielnähe durchhielt und sich niemand rühmlich zumindest einen Teilerfolg erkämpfte. Und an einem recht langen Anstieg rund 40 Kilometer vor dem Ziel war es bereits wieder um die Gruppe geschehen. Denn in diesem Anstieg schlug man bei Quickstep ein höllisches Tempo an, allen voran Rosalbino Ceredi, der mit solch einer Gewalt den Anstieg hinaufflog, dass er bis auf rund 30 Fahrer alle Kontrahenten eliminiert hatte. Einige wenige konnten im folgenden Teil der Strecke noch aufschließen, doch es waren lediglich 46 Fahrer, die zeitgleich das Ziel erreichten. Mustergültig zog Karel Denoulet den Spurt für Boonen an, und es sah gut aus. Und es wäre wohl auch gut ausgegangen, wäre nicht urplötzlich der Deutsche Heinrich Haussler an ihm vorbeigeschossen, mit Gerald Ciolek am Hinterrad, welcher letztlich auch die Etappe gewann.
Für Tom Boonen blieb lediglich Rang drei. Eine Enttäuschung. Trotz des gelben Trikots. Eine herbe Enttäuschung. Trotz des dritten Podestplatzes im dritten Massensprint. Eine Enttäuschung, so groß, dass er sie vielleicht nicht verkraften wird. Nicht verkraften, weil sein Team wieder einmal für ihn gearbeitet, sich für ihn aufgeopfert, viele andere Sprinter abgehängt und ihm alles makellos bereitet hatte. Ob er bei dieser Frankreichrundfahrt noch lange durchhalten wird bleibt abzuwarten. Zwar trägt er derzeit gleich zwei Trikots, doch was hilft es ihm schon, wenn die Siege ausbleiben? Und spätestens morgen, so denke ich, wird er gelb wieder verlieren. Zwar hat seine Mannschaft mit Teppers und Guidi zwei herausragende Zeitfahrer in ihren Reihen, doch gegen Formationen wie CSC, T-Mobile, Caisse d’Epargne und die großen Favoriten des morgigen gemeinsamen Kampfes gegen die Uhr, das Team Milram, dürften die wenigen Sekunden an Vorsprung kaum ausreichen. Wir werden sehen, was die Zeit bringt, und wie Tom Boonen seine Niederlagen verkraftet. Ob das Leiden ihn zu Boden ringt oder zu Neuem motiviert steht noch in jenen Sternen geschrieben, die selbst ich nicht lesen kann.





Das hier ist erst mal eher ein Lückenfüller. Mit einem Berg eine langweilige Sprintetappe zu beschreiben ist so einfach nun auch wieder nicht. Sei es drum, der nächste Etappenbericht, der vielleicht am Sonntag, vielleicht aber auch erst nächsten Donnerstag kommt (mal schauen, was die nächsten Tage mir so an Zeit fürs Schreiben gewähren) wird mein erster etwas ausführlicherer Etappenbericht werden. Habe schon einige Ideen im Kopf, das Mannschaftszeitfahren zu beschreiben. Mal schauen, wie es wird...

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Beitrag: # 439152Beitrag Grabba
30.6.2007 - 22:28

Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass so lange nichts mehr von mir kam. Man mag den AAR wohl fast totgeglaubt haben. Doch seid euch versichert, dass ich fest entschlossen bin, dieses Werk zu vollenden.
Der vorderste Grund für diese lange Schreiberabstinenz war einerseits der Lust- und andererseits der Kreativitäts- und Ideenmangel. Ich war einfach nicht zufrieden mit dem, was ich schrieb. Ich hatte zwar keine konkreten Vorstellungen, aber ich wusste, dass das, was mir in den Sinn kam, diese Ziele kaum würde befriedigen können. Wenn mir denn überhaupt etwas in den Sinn kam. Und so tat ich das, was man in meinen Augen immer tun sollte, wenn einem nichts mehr einfällt: Ich ließ die Kreativarbeit ruhen. Und geriet dabei in Gefahr, sie zu lange ruhen zu lassen. Und so kam die Lustlosigkeit hinzu. Andere Dinge wie ein Abiball und eine Weisheitszahn-OP haben zwar ihren Teil zu der Pause beigetragen, aber eine zweiwöchige Pause zu rechtfertigen vermögen sie wohl kaum.
Doch ganz gleich ob ich mehr hätte schaffen können oder nicht, ist hier mein nächster Beitrag. Ich hoffe, dass es die nächsten Tage und Wochen zügiger, konstanter und qualitativ hochwertiger weitergehen wird (denn mit dem Beitrag bin ich nicht so wirklich zufrieden... Hätte da sicher noch mehr draus machen können, doch ich wüsste nicht wie...). Sei es drum, ich wünsche viel Spaß beim Lesen. :)






Der Gang des Uhrwerks

Es ist der große Kampf, der Meter um Meter ausgefochten wird. Jede Sekunde aufs Neue, immer im Kreis. Und doch fasziniert es uns, zu sehen, wie sie sich abstrampeln, ihre letzte Energie in die Pedale legen. Und ebenso faszinieren uns die Unterschiede. Die einen rhythmisch, gleichmäßig, ruhig und kraftvoll, die anderen wankend, schnell und immer schneller, ohne Koordination aber doch voller Einsatz und Kampfeswillen. Doch ein jeder strebt der Ziellinie zu. Auch in diesem Mannschaftszeitfahren, das man für gewöhnlich mit seinen Teamkameraden gemeinsam bestreitet. Für gewöhnlich. Doch gleich die erste Mannschaft, die heute an den Start ging, brach hier kurioserweise die Norm. Sprinter Vincente Reynès erschien mit einigen Sekunden Verspätung zum Start und konnte während des ganzen Tages den Rückstand zu seinen Teamkameraden nicht mehr aufholen. Und während er hinten langsamer und langsamer wurde und mit ansehen musste, wie die voll funktionstüchtigen Züge anderer Mannschaften an ihm vorbeizogen, zerfuhr sein Kapitän Charly Rothen vorne die eigene Mannschaft an einem Anstieg und trudelte über eine halbe Minute vor dem Rest seines Teams ein. Fatal.
Die desaströseste aller Vorstellungen des heutigen Tages war beendet, und so war die Bühne bereitet für all jene mit ernsthaften Ambitionen. So, wie beispielsweise das Team Gerolsteiner. Voller Elan rollte Tim Schwarzenbeck als erster seiner Mannschaft von der Startrampe und führte seine Formation so auf den Kurs, wie er sie gut eine Stunde später auch wieder über die Ziellinie manövrieren sollte. Sie waren bereit für eine großartige Vorstellung. Schwarzenbeck, Förster, Gatto, Kohl, Haussler, Zaugg, Schöckel, Wegmann und Fothen. Einmal die Reihe durch. Noch einmal. Und immer wieder. Knapp die Hälfte der Strecke haben sie bereits gemeistert. Und jetzt schnauft Oscar Gatto. Merklich. Er wankt ein wenig. Und mehr. Beginnt zu zittern. Angst durchflutet ihn. Lässt er jetzt abreißen, dann stellt er seine Nominierung in Frage. Lässt er jetzt abreißen, dann nimmt er seinem Kapitän, der sich für ihn und seinen Einsatz stark gemacht hat, Sekunden. Lässt er jetzt abreißen, dann ist dies ein fataler Knick in seiner karriere. Eine Träne kullert seine Wange hinab. Ob sie der Trauer, der Angst oder dem Schmerz entstammt ist nicht ersichtlich, doch was sie bewirkt umso mehr. Er darf nicht aufgeben. Nicht jetzt. Mit der allerletzten ihm verbliebenen Kraft stemmt er sich aus dem Sattel, spurtet an seinen Kameraden vorbei, ein letztes Mal vor ihnen in den Wind. Und mit finalen letzten Sprint zieht er sie noch dreihundert, vierhundert, vierhundertfünfzig, vierhundertachtzig Meter hinter sich her, bevor er völlig entkräftet vom Rad fällt, erst nachdem er sieben Minuten mit einer schmerzverzerrten Fratze am Straßenrand gesessen hatte in den Begleitwagen steigt und keine Kraft mehr aufbringen kann als jene, seinen Teamkameraden die Daumen zu drücken. Doch wenngleich seine Frankreichrundfahrt vorbei ist kann er sich glücklich schätzen, seinen Teil für die Mannschaft getan zu haben.
Doch vor ihm fuhren sie weiter. Und wie. Zwar fehlt die Harmonie eines perfekten Zuges, doch der Elan der einzelnen Fahrer, ihre Energie und ihr Wille waren das Ausschlaggebende an diesem Tag. Über die letzten Kilometer und Meter waren es mit Fothen, Kohl und Schwarzenbeck die Stars der Mannschaft, die die anderen hinter sich herzerrten. Kein Zusammenspiel mehr, sondern nur noch der gemeinsame Wille, schnell zu sein und endlich die Tortur hinter sich zu bringen. So schnell. Schneller als der Rest. Auch Toma Schöckel und Oliver Zaugg waren dem Tempo zum Opfer gefallen, doch das sollte nicht mehr von Bedeutung sein. Mit Schwarzenbeck an erster Stelle überquerten sie zu sechst die weiße Linie und unterboten die bisherige Bestzeit um weit über eineinhalb Minuten. Der eigene Auftritt war geglückt, und nun hieß es warten. Warten auf die anderen, warten darauf, ob der Erfolg sich einstellen würde, und warten auch mit der Hoffnung, vielleicht den Jubel der Welt empfangen zu dürfen.

Und während die Fahrer von Gerolsteiner schon im Ziel saßen waren die anderen bereits unterwegs. T-Mobile, zwar mit vielen Leuten, die auf einer solchen Strecke Tempo machen können, fehlte die Zusammenarbeit, das Teamgefüge. Sie landeten heute abgeschlagen auf Rang neun. Die Favoritenmannschaft von Milram fuhr gut, doch nicht so gut, wie man es erwartet hatte. Neun Sekunden vor Gerolsteiner bedeuteten zwar die Bestzeit, doch noch standen die beiden größten Kontrahenten aus. Enttäuscht stiegen Boasson Hagen, Lövkvist, Popovych und Braijkovic von ihren Rädern und warteten auf ihren fünften Mann, Stefan Schumacher, den sie rund siebenhundert Meter vor dem Ziel verloren hatten. Zehn Sekunden hatte sie dieses Malheur allemal gekostet, wenn nicht gar noch mehr. Der Toursieg würde so wohl kaum verloren gehen, doch der Tagessieg vielleicht schon. Doch als wenig später Quickstep die Ziellinie überfuhr atmete man auf. Obwohl das Team an allen Messpunkten auf der Strecke die Bestzeit gefahren war hatten sie zum Ende hin federn lassen müssen. Vier Sekunden Rückstand. Vier Sekunden, auf sechzig Kilometern. Und so etwas sollte wohlmöglich über den Tagessieg entscheiden? Diese lachhafte Winzigkeit von Zeit, die selbst für die schnelllebigen Menschen wenig ist. Sie waren so grandios gefahren. Teppers, Boonen, Denoulet, und vor allem Floriano Guidi hatten das letzte aus sich herausgeholt, die anderen immer wieder angetrieben, den Rhythmus aufrechterhalten, das Gleichgewicht des Gefüges bewahrt, gebissen und gekämpft. Und so war es allein die Zeit, die ihnen an diesem Tag einen Strich durch die Rechnung machte.

Und schließlich richteten sich alle Augen auf CSC, die als letzte auf die Strecke gegangen waren. Hatten sie auch, mit Ausnahme von Volker Ruland, keinen wirklichen Zeitfahrspezialisten in ihren Reihen, so galten sie dennoch als Favoriten. Sie sind wohl die einzigen, die in dieser Disziplin regelmäßig den richtigen Stil, das homogene Mannschaftsgefüge und die einzigartige Perfektion in stundenlangen, gemeinsamen Ausfahrten zu finden versuchen. Vielleicht sind das die Körner, die Ruland am Ende immer fehlen, wenn er Jahr für Jahr daran scheitert, der allergrößte zu werden, mein stärkster Bezwinger, wenn es steiler und steiler wird. Doch vielleicht sind es auch die wenigen Sekunden, die ihm am Ende zu einem besseren Platz verhelfen können. Es wird sich zeigen. Und die Augen aller richteten sich zurecht auf das Team, denn wie die Zahnräder eines Uhrwerks ineinandergreifen so spulte auch der Zug des Teams CSC heute den eingearbeiteten Tross ab. Meter für Meter, voller Harmonie und ohne ein Glied, das auch nur irgend aus der Reihe tanzte, durchpflügten sie die Luft und flogen voran, dem Ziel entgegen. An den Zwischenzeiten lagen sie in Schlagdistanz, doch nicht vorne. Ein letztes Mal nahm Volker Ruland das Szepter in die Hand und fuhr alleine die letzten sechshundert Meter von vorne. Doch es wirkte nicht arhythmisch, wie bei allen anderen zuvor, sondern elegant und eingeübt, gewollt und geplant. Und das war es auch. Denn während sich alle an der Ästhetik dieser Formation, die so einig wirkte, ergötzen, vergaß man fast, auf die Zeit zu achten. Zu neunt erreichten sie die Ziellinie, mit neununddreißig Sekunden Vorsprung. Das war eine Zeit, eine Marke. Natürlich konnte sie niemand mehr unterbieten, waren sie doch die letzten gewesen. Die Perfektion des Uhrwerks hatte über die Individualisten und den Kampfgeist gesiegt.
Und so hatte sich nicht nur die Mannschaft den Tagessieg sondern auch Volker Ruland das Maillot Jaune verdient. Das vierte seiner Karriere. Ob er es noch einmal abgeben muss? Es bleibt abzuwarten. Mit dem heutigen Tag jedoch ist er, der Kronprinz des Vorjahres, endgültig zum größten Favorit auf den Gesamtsieg gereift. Ob er dem Druck der Welt standhalten kann?

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Beitrag: # 439163Beitrag Valverde3007
30.6.2007 - 22:45

Deine Beiträge sind schon Entschuldigung genug für die Wartezeit. Und auch wenn du mit dem Beitrag nicht zufrieden bist, war er doch wieder genial und hatte diese Abschnitte, die diesen AAR so einzigartig machen. Die Szenen mit Gatto und Lustrinelli sind einfach oberste Klasse. Die gehen wirklich unter die Haut. Ich freue mich schon auf die nächsten Posts.

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Beitrag: # 445346Beitrag Grabba
12.7.2007 - 23:26

Die Ewigkeit der wahren Treue

Genau ein Jahr ist es nun her. Es ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ein Tag, an dem auch ich gelernt habe, von einem einfachen Menschen, einem Radrennfahrer, nur wenig erfolgreich, und doch seit einem Jahr glücklicher ist als jeder andere. Und nun, da die letzten Sonnenstrahlen eines glorreichen Tages mir in ihrer abendlichen Schönheit das Gemüt erwärmen fließen meine Gedanken zurück in die Vergangenheit, genau ein Jahr, an jenen einen Tag, der für das Leben dieses einen jungen Mannes so schicksalsträchtig und entscheidend werden sollte...

Er fuhr an mir hinauf. Stetig bergan, meine steilen Wände erklimmend. Er legte sich ins Zeug, so sehr er nur konnte. Es war die Aussicht auf den Erfolg seines Lebens, die ihn alle Schmerzen vergessen ließ. Und so strampelte er sich die Seele aus dem Leib, schweißgebadet, und der Sieg war zum Greifen nahe. Doch es kam anders, als er es je beabsichtigt hätte. Ein kleiner Seitenblick genügte, geleitet nur von einem unerklärlichen Wink des Schicksals. Und so kam es, dass er sie sah. Neun Jahre waren vergangen, doch nie war seine Seele zur Ruhe gekommen. Und wieder sah er es, dieses einmalige Funkeln der großen, tiefen braunen Augen, die ihn damals schon immer so erwartungsvoll angeblickt hatten. Doch nun endlich sah er noch mehr in diesen Augen, und er wusste in diesem einen Augenblick all ihre Gedanken zu lesen und zu verstehen. Er wusste, dass er die Erwartungen dieser Augen erfüllen würde.
Nicht einen einzigen Moment zögerte er noch, denn seine Entscheidung war gefallen. Er betätigte die Bremse, hielt an. Ohne Mühe, beschwingt wie ein Engel, drehte er sich um, rollte ein kleines Stück bergab und hielt wieder an. Er stieg ab, ging zwei Schritte voran und schloss die einzige Liebe seines Lebens, jene, die er seit neun Jahren nicht gesehen hatte, in seine Arme. Seine Entscheidung war gefallen. Gegen den Radsport, doch für das einzige Glück, das es gibt.

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Grabba
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Beitrag: # 445649Beitrag Grabba
13.7.2007 - 18:44

Ereignislosigkeit, der Schatten der Berge

Ein Wink mit der Fahne. Der Start.
Ein kleiner Antritt. Das Feld zieht das Tempo an. Und nimmt wieder heraus.
Er fährt. Einsam an der Spitze. Langsam.
Das Feld hinter ihm verfällt in Ruhe. Hält an. Und fährt weiter.
Er gewinnt. Die Zwischenwertungen. Ohne Gegenwehr.
31 Kilometer noch. Er ist wieder gestellt.
Gemeinsam rollt man dem Ziel entgegen. Ruhig.
Acht Kilometer noch. Ein kleiner Gegenhang. Eine letzte Bergwertung.
Attacke.
Filippo Pozzato setzt sich ab. Gewinnt die Bergwertung.
Ohne Interesse.
Er tritt durch. Der kleine Vorsprung schmilzt. Und hält doch.
Er reißt die Arme in die Höhe. Ein Schrei. Laut. Doch voller Freude.
Ein weiterer. Doch dieser nicht von ihm. Und auch nicht glücklich.
Tom Boonen. Heute endlich schnellster. Und doch geschlagen.
Eine Träne. Der Enttäuschung.
Und so geht der Tag zu Ende.
Im Schatten der Berge.
Ereignislos.

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arkon
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Beitrag: # 445656Beitrag arkon
13.7.2007 - 18:53

grabba, du darfst den ganzen tag lückenfüller schreiben. vor allem "Die Ewigkeit der wahren Treue" find isch klasse. kitschig. aber klasse. und jetzt sieh zu, dass du nen schönes feuerwerk in den bergen abbrennst!
wer keine ahnung hat - einfach mal die fresse halten

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Grabba
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Beitrag: # 447292Beitrag Grabba
17.7.2007 - 12:29

Vogesen, der Berge kleine Brüder

Er stand am Rande eines Abgrundes. Ein weiterer Schritt nach vorne, und er würde ins Bodenlose fallen. Ein Schritt zurück, und er würde stolpern um für immer liegenzubleiben. Und so gab es nur eines, was er tun konnte: Umdrehen. Und er tat es. 2009 hatte er den Giro auf Rang zwei beendet und dabei selbst mich überzeugt. Doch seither war er untergegangen und scheinbar unaufhaltsam auf die tiefste aller Schluchten zugerollt. Doch gerade noch rechtzeitig hatte er seinen Fehler erkennen können und neue Wege eingeschlagen.
Joseph Caruana wusste nun, dass er niemals mehr eine Grande Tour auf den vordersten Plätzen der Gesamtwertung würde beenden können. Zu schlecht waren seine Fähigkeiten im Kampf gegen die Uhr, zu gering seine Konstant, und vor allem zu groß der Druck, der auf ihm lastete und ihn zugrunde richtete. Er war kein Champion. Er war keiner der ganz Großen. Er war ein talentierter, starker Kletterer, dem einst eine riesige Überraschung gelungen war. Doch mehr war er nicht und würde es nie sein.
Und so konzentriert er sich mittlerweile auf Anderes. So wie heute. Ein saftiger Antritt am ersten ernsthafteren Anstieg dieser Tour, und man ließ ihn, der sich bereits über fünf Minuten Rückstand in der Gesamtwertung erarbeitet hatte, fahren, zuerst mit einer Gruppe bedeutungsloser Begleiter, doch sobald die Strapazen stärker wurden und an den Fahrern zehrten, schüttelte er schon bald seine Gruppe ab. Dass man ihn am Ende doch noch aufrollte dürfte wohl vor allem daran gelegen haben, dass die Anstiege nicht hart genug waren für ihn, den unermüdlichen Kletterer. Doch völlig zurecht hat man ihm heute mein Trikot ausgehändigt, und morgen darf er es voller Stolz präsentieren und durch die französischen Straßen tragen. Und wenn er mich dann schließlich besucht wird er ganz tief kramen müssen, doch in seinem Repertoire wird er Mittel und Wege finden, es mit mir aufzunehmen. Bei dieser Frankreichrundfahrt, wenngleich als ein Unbekannter und Unbeachteter angetreten, wird er noch viele das Fürchten lehren. Neue Wege zu gehen zahlt sich oftmals aus, und wenn man am Abgrund des Lebens steht, so ist eine Kehrtwendung das einzig Richtige. Er hat es geschafft und überlebt. Und so hat sich auch der Erfolg wieder eingestellt.

Doch wenngleich er am heutigen Tag der Protagonist war, so gab es doch auch einige andere, die zu überzeugen wussten, und die gleichzeitig in der Gesamtwertung eine Rolle spielen werden. 53 Kilometer vor dem Ziel, am härtesten Anstieg des Tages, einem der zweiten Kategorie. Zweite Kategorie. Im Vergleich zu dem, was ich biete, mit Sicherheit, doch immerhin hart genug, um manch einem den Zahn zu ziehen. Doch nicht ihm, Tim Schwarzenbeck. Ein kurzer, starker Antritt sechs Kilometer vor dem Gipfel, an dem er bereits eine Minute herausgefahren hatte. Hinten lächelte man zuerst nur müde. Die Rulands, Brogniarts und all die anderen großen Kapitäne und Favoriten ließen sich von ihren Mannen eskortieren. Mit 59 Leuten in der großen Gruppe überquerten sie den Gipfel und rauschten nun bergab. Und auch als es in den nächsten Anstieg ging und der deutsche Kapitän von Gerolsteiner seinen Vorsprung sogar noch ausgebaut hatte lächelte man noch immer. Doch mir war das Lachen längst vergangen. Denn ich sah, wie er noch immer voller Energie war, wie seine Kräfte nicht auch nur im Ansatz zu schwinden schienen, wie sein Tritt noch immer so rund war wie die Räder des Gestelles, dass er nicht hinaufwuchtete wie die schweren Sprinter am Ende des Feldes sondern das er mit einer Leichtigkeit bewegte, dass es mir Angst und Bange wurde. Als sein Vorsprung noch vor dem Gipfel auf über zwei Minuten angewachsen war bekam man es hinten schließlich doch mit der Angst zu tun. Kreuziger und Dekker versuchten es, kamen aber kaum weg unter dem Tempodiktat von Frank Schleck. So früh also musste bei CSC der Edelhelfer ran. Und dieser konnte den Abstand zum Führenden nicht einmal konstant halten.
Und so rissen nun auch bei den letzten der verbliebenen Kapitäne alle Nerven. Brogniart, Singh, Reus, Braijkovic, Lövkvist, Teppers – sie alle attackierten. Nun ließ das gelbe Trikot seinen letzten Helfer, der heute stärker aussah als er selbst, den Basken Alan Guerao, das Tempo forcieren. Und mit der Herrlichkeit vieler anderer war es nun vorbei. Allen voran die Italiener. Rujano, Nibali, Cunego und Bertin. Doch auch andere. Contador, Gomez Marchante. Rogers. Und auch Iban Mayo. Sie alle konnten das Tempo nicht halten, genau wie Lövkvist, der vorne einbrach und zurückfiel. Sie kamen Seite an Seite mit den stärksten der Sprinter ins Ziel, als Ciolek den Spurt um Platz dreizehn vor Boonen und Haussler gewann.

Doch vorne war einer unaufhaltbar auf und davon. Ein einsamer Streiter, alleine gegen den Rest. So war er schon immer gewesen, sein ganzes Leben lang. Die Passion und Hingabe für den Radsport waren ein Vermächtnis aus seiner Kindheit, vom Todestag seines Großvaters. Ein Vermächtnis, so alt und grau, dass er selbst es aus seinem Gedächtnis verbannt hat. Doch die Wirkung hält noch immer an.
Mit dreizehn Jahren hatte er sich von seiner Familie gelöst und war in ein Sportinternat gezogen. Er hatte trainiert wie ein Besessener. Die Liebe im Leben hat er niemals gesucht und bis heute nicht gefunden. Freunde hat er nur wenige, und diese sind nichts weiter als Teamkameraden, und die Gespräche beschränken sich auf die Oberflächlichkeiten des Berufes. Und nur wenn er an einem ruhigen Winterabend in seinem Bett liegt und der Mond am klaren, dunkelblauen Himmel durch das Fenster auf sein Bett herniederscheint und die Kälte der Nacht seine Haut durchzieht kommen ihm Gedanken an all die Schönheit, die er einst zurückließ in seinem Leben, an die Glückseligkeit und Geborgenheit von Liebe und Freundschaft. Doch er weiß, dass dies nicht seine Bestimmung ist. Er weiß, dass ihm einzig und alleine eines auferlegt worden war – Radrennen zu fahren. Und so ist er und so lebt er, ein einsamer Wanderer zwischen Leben und Zeit, nur das Ziel des Rennens vor Augen.

Das Ziel, das er heute erreichte. Mit über eineinhalb Minuten Vorsprung. Vor David Brogniart, dem Franzosen, der sich kurz vor dem Ziel am letzten, drei Kilometer langen Anstieg, noch einmal aus seiner Gruppe gelöst hatte. Und vor Yvan Teppers, dem stärksten Sprinter derjenigen Favoriten, die heute keine Zeit eingebüßt hatten, außer auf Tim Schwarzenbeck. Wenige nur waren es gewesen. Und so war der Kreis derer, die noch siegen können, drastisch reduziert, und das nach einer Etappe, der man vorher allemal ein Abtasten der Favoriten einer offenen Rundfahrt zugetraut hätte. Doch einer war heute stärker gewesen als alle anderen, und er hatte nicht nur die eigene Stärke sondern auch den eigenen Kopf und den Moment der Überraschung genutzt. Das gelbe Trikot war mehr als nur der verdiente Lohn. Es war vor allem der Beweis, dass die Zeit der abwartenden Fahrweise endgültig vorbei ist und dass man nur mit Wagnis Siege erringen kann. So wie Tynyanov und Rujano es in den letzten Jahren immer wieder gezeigt hatten.
Ob der Deutsche, der sie heute alle überragt hat, auch an den höchsten der Anstiege seine Stärke beibehalten wird, das wird sich zeigen. Und auch über dem Leistungsvermögen des heute starken David Brogniart steht weiterhin ein Fragezeichen. Er jedenfalls, trotz seiner nunmehr über drei Minuten Rückstand, ist sich nach wie vor sicher, dass er diese Rundfahrt gewinnen wird. Ruland, wenngleich noch immer zweiter der Gesamtwertung und aufgrund seiner Zeitfahrfähigkeiten sehr aussichtsreich platziert offenbarte heute erste Schwächen. Auch die Dreierspitze von Milram ist bereits jetzt zu einer Doppelspitze geschrumpft, deren Effektivität und vor allem deren Kraft man bezweifeln mag. Und von den anderen sahen nur wenige stark genug aus, eine Attacke wagen zu können. Es ist offen wie selten zuvor, und man wird sehen, wie stark ich meine Selektion voranbringen kann, wenn es schließlich endlich gegen mich geht. In den Alpen werde ich in einigen Tagen weiter sortieren dürfen, bis die Pyrenäen schließlich über alles entscheiden werden. Hoffentlich.

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Grabba
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Beitrag: # 458247Beitrag Grabba
8.8.2007 - 23:32

Der Richter, Kern meiner Selbst

Eine langweilige Sprintankunft. Nuyens, Eijkenbroek, Napolitano. Ein Sprinterzug, wie aus dem Lehrbuch. Ein Lehrbuch, das ihnen gegen mich nichts nützen kann. Taktik ist vergebens. Stärke allein wird zählen. Und sie werden untergehen. Nach wie vor ist mir die Freude Napolitanos über diesen, seinen Sieg ein ebenso großes Rätsel wie Boonens Frust über den erneuten zweiten Platz. Soll er es doch an den Anstiegen probieren. Wenn er wirklich so stark ist, wie er selbst es sagt, dann kann er hier seine Chance suchen. Warum bloß kommen ihm diese Gedanken nicht selbst?
Der Tag danach. Boonen hatte das Vertrauen in sich selbst verloren. So schien es zumindest. Auf welligem Terrain ließ man eine Gruppe ziehen. Auch Gerolsteiner hatte kein Interesse. Das Kommende war zu furchterregend. Und ist es noch immer. Für die meisten. Wohl auch für Gerolsteiner, die sich aus aller Verantwortung entbinden wollten. Ceredi, Gilbert, Eisel, Schöckel, Cancellara, Serpa, Gusev und Bazayev – eine namhafte Spitzengruppe. Serpa und Ceredi lagen beide nur wenige Minuten hinter dem Führenden, der Kolumbianer noch knapp vor dem Italiener. Für alle anderen ging es nur um den Tagessieg. Zu stark waren Eisel, Schöckel und Bazayev in einem Sprint. Zu groß die Gefahr, die auf den letzten flachen Kilometern von Cancellara und Gusev ausging. Und nach wie vor lag José Serpa besser platziert als er selbst. Und so musste er sein Heil in der Flucht suchen. Die letzte Bergwertung, und Rosalbino Ceredi griff an, und nur einer ging mit. Phillipe Gilbert überquerte an seinem Hinterrad mühelos die Bergwertung. An einem normalen Tag hätte er ihn bezwungen. Doch heute brauchte er jede Hilfe. Fast war er beängstigt über die Stärke des Belgiers, wie dieser ihn so mühelos hielt. Doch er hielt ihn nur. Keine Sekunde ging er dabei selbst in die Führung. Ceredi fluchte förmlich in sich hinein. Nun schleppte er ihn mit, und so würde er den Tagessieg niemals erringen können. Doch was war seine Alternative? In die Gruppe zurückzufallen, um unterzugehen? Nein, er musste fahren und sich das strahlendste aller Trikots zumindest für einen Tag sichern. Und so holte sich Gilbert die Etappe, und nach dreizehn Sekunden des bangen Wartens hatte auch Ceredi die Bestätigung, morgen in gelb fahren zu dürfen. Und als er auf dem Siegerpodest stand waren es nicht nur seine Augen, aus denen die Sonne schien, sondern auch sein Körper, ganz in gelb gekleidet. Einen weiteren Traum seines Lebens hatte er sich endlich erfüllen können.

Und so kam der Ruhetag. Ich bewundere sie. Seit dreieinhalb Wochen harren sie hier bereits mit ihrem Wohnwagen. Sie haben sich den besten aller Plätze gesichert. Es ist auch mein Lieblingsplatz. 13,5% Steigung. Eine Rampe, inmitten einer Kurve. Ein großer Felsbrocken am Straßenrand auf dem sie sitzen und die Fahrer aus nächster Nähe erleben können. Sie selbst in aller Ruhe und Gemütlichkeit, während die Fahrer sich quälen und jammern werden. So muss es sein. Spätestens hier wird es Attacken geben. Hier werden die Fahrer platzen, hier werden sie leiden und sterben, reihenweise, in Massen. Und sie erfreuen sich an diesem Spektakel, ganz so wie es sich gehört. Sehnsüchtig warten sie. Im Gegensatz zu allen anderen halten sie keine Wasserflaschen bereit. Die Fahrer müssen es alleine bewältigen oder sie sind es nicht wert. Jahrelang war das Ehepaar selbst Radrennen gefahren, und nun lag die einzige Freude ihres Lebens im Leiden anderer. Ich verstehe sie.
Mittlerweile sind es hunderte, wenn nicht gar Tausende, die meine Hänge säumen. Sie alle erwarten dieses einzigartige Spektakel. Und sie verdrecken die Straßen, meine Straßen. Werfen ihren Müll auf die Wiesen, meine Wiesen. In die Gebüsche, meine Gebüsche. Hinterlassen ihre Ausscheidungen an meinen Bäumen. Verschandeln mein Antlitz. Ich bin es leid. Und dennoch ertrage ich es Jahr für Jahr aufs Neue, denn nur so kommt die Schau zu ihrer vollen Entbreitung, nur so kann ich sie bis ins letzte Detail genießen und ihr alles abgewinnen, was sie mir bietet. Und wenngleich ich den Müll hasse, so hat doch auch er seine guten Seiten. Viele Zeitungen liegen hier herum, und so habe ich einen Artikel gefunden, der mein Interesse an dem befriedigt, was ich bereits zu vergessen drohte: Eine meist langweilige erste Woche.

Eine Zeitung hat geschrieben:Sprints, Zeitfahren und ein erster Großangriff

Selten nur war die erste Woche der Frankreichrundfahrt von mehr Spannung als dem Kampf der Ausreißer gegen die Sprinter geprägt. Auch in diesem Jahr verhielt es sich nicht anders. Nach Thomas Dekkers überlegenem Prologsieg versuchte auf der ersten Etappe der junge Schweizer Mauro Lustrinelli sein Glück, doch den Sieg im Massensprint holte sich Gerald Ciolek. Am nächsten Tag übernahm Floriano Guidi durch eine Zeitbonifikation das gelbe Trikot. Im Ziel jubelten die Franzosen mit Gérard Culianez, während Rosalbino Ceredi und seine Fluchtgefährten erst kurz vor dem Ziel eingeholt worden waren. Den vierten Tagesabschnitt gewann Gerald Ciolek. Nach der großartigen Arbeit seiner Teamkameraden konnte Boonen auch hier erneut nicht triumphieren, doch immerhin gelb übernehmen. Und das nur, um es am nächsten Tag an Volker Ruland zu verlieren, der mit seiner CSC-Mannschaft das Zeitfahren gewann.
Einen Tag später ging es in die Vogesen. Erwartete man doch eigentlich ein erstes kleines Abtasten der Favoriten beim Sieg einer Ausreißergruppe wurde hier bereits der erste Generalangriff gestartet. Tim Schwarzenbeck löste sich weit vor dem Ziel und kam in diesem mit einem gewaltigen Vorsprung an und übernahm das gelbe Trikot von seinem Landsmann. Stark waren auch Brogniart, Teppers und Guerao, wohingegen Ruland erste Schwächen offenbarte, sich im Gegensatz zu vielen anderen Favoriten, die bereits mächtig verloren hatten, jedoch schadlos hielt. Am nächsten Tag gewann Napolitano den Massensprint vor Tom Boonen, der hier bereits zum vierten Mal während dieser Tour nur an einem anderen Fahrer scheiterte. Am darauffolgenden Tag übernahm sein Mannschaftskamerad Rosalbino Ceredi aus einer Ausreißergruppe heraus das gelbe Trikot, wenngleich er den Etappensieg dem Belgier Phillipe Gilbert überlassen musste.
Die Tour zeigt sich offen wie selten. Volle Spannung scheint garantiert. Die Wertung der ersten Woche, den Kampf ums grüne Trikot, führt Tom Boonen knapp vor den beiden Deutschen Ciolek und Haussler an. Wenngleich die nächsten beiden Tage kaum für Veränderung sorgen dürften ist in diesem Dreikampf noch alles offen. Von hinten droht jedoch kaum Gefahr – zu inkonstant in den Massensprints und zu schwach am Berg ist ihre Konkurrenz.
In der Bergwertung führt Joseph Caruana, der nach Jahren in der Versenkung zu alten Qualitäten zurückgefunden zu haben scheint. Es bleibt abzuwarten, was er am morgigen Tag leisten kann, denn auch Tim Schwarzenbeck hat bereits viele Punkte sammeln können, und noch wurde noch kein Berg der ersten oder höchsten Kategorie erklommen. Der derzeitige zweite Phillipe Gilbert wird seine Position im Hochgebirge kaum halten können. Es steht zu erwarten, dass einige der bereits abgeschlagenen Favoriten sich jetzt auf die Bergwertung konzentrieren werden. Rujan, Cunego und Steyaert kämen hierfür sicherlich in Frage.
In der Gesamtwertung führen mit Ceredi und Serpa zwei Fahrer, denen man es nicht zutraut, den morgigen Tag an der Spitze zu überstehen. Es scheint, als habe Schwarzenbeck sein Trikot nur abgegeben, um es morgen erneut überstreifen zu dürfen. Doch auch Volker Ruland und sein stark wirkender Teamkamerad Guerao liegen noch in Schlagdistanz. Auch der Belgier Yvan Teppers, ähnlich wie Ruland ein herausragender Zeitfahrer, hat nicht all zu viel verloren. Die Sprinter werden morgen wohl endgültig ihre guten Positionen abtreten müssen. Ganz im Gegensatz dazu steht die Ausgangslage des Franzosen David Brogniart, der endlich wieder den Gesamtsieg für die Gastgebernation einfahren will. Drei Minuten liegt er bereits hinter Schwarzenbeck zurück. Für ihn gibt es, wenn er den Traum seines Landes erfüllen will, im Gebirge nur eines: den bedingungslosen Angriff.
Wir haben eine Gesamtwertung erstellt, in der wir Tim Schwarzenbeck als Ausgangspunkt nehmen, die ersten fünfzehn Fahrer auflisten und darunter weitere am Berg stark einzuschätzende Fahrer mit ihren ungefähren Abständen auf den Deutschen aufführen. Und so können wir uns auf eine spannende erste Hochgebirgsetappe nach dem Ruhetag freuen.

Gesamt
0.1 Ceredi -2:17
0.2 Serpa -1:59
1. Schwarzenbeck 0:00
2. Ruland 1:13
3. Guerao 1:23
4. Teppers 1:50
5. Braijkovic 1:53
6. Fothen 2:01
7. Reus 2:15
8. Kohl 2:18
9. Singh 2:28
10. Dekker 2:40
11. Boonen 2:51
12. Kreuziger 2:53
13. Brogniart 3:00
14. Haussler 3:16
15. Gilbert 3:19
Mullor, Steyaert, F. Schleck 3:30
Gerdemann, Lövkvist, Martin 4:00
Rujano, Bertin, Cunego, Gil, Mayo, Contador, A. Schleck, Marchante 4:30
Nibali, Selerno 5:00
Caruana 8:00

Berg
1. Caruana 41
2. Gilbert 36
3. Schwarzenbeck 22

Sprint
1. Boonen 158
2. Ciolek 147
3. Haussler 141

So sehen die Zeitungen die Rundfahrt also. Interessant. Für mich zählen nur die Bergwertung und einige Fahrer des Gesamtklassements. Alles andere fungiert als Lückenfüller. Irgendetwas muss man ja schreiben. Und die Masse der Leute interessiert es. Für mich jedoch zählt das Spektakel allein. Kampf, Blut und Schweiß. Schmerzen und Leiden, und Freude vielleicht für einen einzigen.

Wenngleich dieser Tag ein Ruhetag vom Rennen war hielt er doch nicht endende Strapazen für die Fahrer bereit. Der Gesamtführende musste unzählige Fragen beantworten, doch im Gewissen, morgen keine Möglichkeit zu haben, sich zu verteidigen, konnte er den Tag genießen. Ich bin mir nicht sicher, doch vielleicht wird ihn diese Gelassenheit und Ignoranz am Ende alles kosten?
Ganz anders gingen die Favoriten zu Werke. Ein jeder fuhr sein Stück des Weges, gemeinsam mit den Teamkameraden oder alleine, so wie es am Ende der Etappe ebenfalls der Fall sein wird. Doch nur ein einziger Fahrer des Feldes nahm den Schlussanstieg in Angriff und bezwang ihn auch heute schon. Der Venezolaner José Rujano, der bereits knapp sieben Minuten Rückstand auf den Gesamtführenden hat, will anscheinend morgen einen Versuch starten.
Er wirkt stark. Konzentriert. Und entschlossen. Man sieht in seinen Augen ein einziges Ziel, dass er erreichen will. Hier zu siegen. Sein Tritt ist rund. Kein übermäßiger Kampf. Es ist nur das Einrollen. Er nimmt jede Kurve in Augenschein und geht dabei kein einziges Mal aus dem Sattel. Im Rennen wird das anders sein. Und schließlich kommt er oben an. Noch immer konzentriert, wenngleich sich die Anspannung gelöst hat. Er kann seinen Körper einschätzen. Er kennt seine Form, von der noch immer ein guter Teil vorhanden ist. Und er weiß, dass er es schaffen kann. Es wäre ein Sieg, den ihm keiner nehmen könnte. Wohl noch höher einzuschätzen als jener in l’Alpe d’Huez. Denn es würde zum ersten Mal eine Ankunft auf dem Col du Galibier geben. Dieser Tagessieg würde mehr zählen als jeder andere, den es zuvor bei der Frankreichrundfahrt zu erringen gab.
2005 ging sein Stern auf bei der Italienrundfahrt. 2006 versagte er. Doch 2007 nahm er sie noch einmal in Angriff, und seither mit Erfolg. Zwar konnte er damals in der letzten Woche gegen Cunego nicht bestehen, doch er war es gewesen, der die Glanzpunkte der Rundfahrt gesetzt hatte. Gerade die damalige siebte Etappe war eine der größten des vergangen Radsportjahrzehnts gewesen. Gleich zwei Sterne waren an diesem grandiosen Tag der Radkünste aufgegangen. Vom Start weg ging es bergauf, in schwindelerregenden Höhen stetig auf und ab, ohne Unterlass. Der siebzehnjährige Arslan Tynyanov griff unmittelbar am Anfang an, noch bevor auch nur zweihundert Meter zurückgelegt waren. Ein jeder ging davon aus, dass er den Tag nicht überstehen würde, doch er belehrte sie alle eines Besseren. Er sicherte sich entscheidende Punkte im Kampf um das Bergtrikot, das er am Ende der Rundfahrt mit nach Hause nehmen durfte. Vor allem aber konnte er seinen Kapitän José Rujano, als dieser nach einem Drittel des Rennens angriff, mit vollsten Kräften unterstützen. Eine lange Abfahrt, einen Anstieg, und eine weitere Abfahrt wurde Rujano damals von Tynyanov behütet und durch die Etappe geführt. Danach zog er alleine durch. Er erarbeitete sich gegen Cunegos Team, das hinten Tempo bolzte, einen großen Vorsprung, der erst zu schmelzen begann, als der Italiener selbst antrat. Dennoch kam Rujano mit knapp drei Minuten Vorsprung als Solist im Ziel an und übernahm erstmals das Maglia Rosa. Dieser Tag war der großartigste seiner Karriere gewesen, vielleicht die Geburtsstunde seines endgültigen Durchbruchs.

„Die Fahrer haben die ersten Kehren des Col de la Madelain genommen. Und da, ein Angriff. José Rujano, den zweiten des Giro d’Italia, hält es nicht mehr im Sattel. 83 lange, beinharte Kilometer liegen noch vor ihm, doch scheinbar hat er es sich ernsthaft vorgenommen, die Spitzengruppe bis zum Gipfel aufzurollen. Siebeneinhalb Minuten. Das ist ein gewaltiges Loch. Wer weiß, ob er das noch zufahren kann? Doch ja, wir erinnern uns auch noch alle an das Jahr 2007. Damals, als der junge Arslan Tynyanov seinen Kapitän Rujano zu einem der größten Triumphe des Radsports fuhr. Viele Zweifel wurden damals laut, doch seine Leistung, das konnte später bewiesen werden, war einwandfrei. Ein grandioser Erfolg damals, und auch heute scheint er wieder ähnliches vorzuhaben.“

So hat es also begonnen. Die erste Schlacht der Entscheidung, von einem der größten Kämpfer eröffnet. Die Worte aus den Radios der Leute, die Stimme des Kommentators. Sie haben keinerlei Möglichkeit, das zu beschreiben, was José Rujano heute wieder zu vollbringen im Begriff ist. Noch fährt er rund und flüssig. Keinerlei Anstrengung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er weiß, was er tut. Doch es ist heiß. Die Sonne knallt. Ähnlich wie 2007. Noch immer hat er Kraft.
Er konnte sich bereits merklich vom Feld lösen. Jenes, in dem Quick Step noch immer ein verhaltenes Tempo angeschlagen hat. Schließlich will man den eigenen Mann nicht in Bedrängnis bringen. Viele andere hingegen sind bereits zurückgefallen. Doch Ceredi selbst, dessen strahlend gelbe Hülle heute nicht mit dem sengenden Feuerball mithalten kann, sieht noch immer sicher und unbedrängt aus. Im Gegensatz zu den Sprintern. Napolitano hat soeben das Rennen beenden müssen, ebenso Flecha. Beide haben in dieser Tour an meinen Anstiegen nicht die Form, die sie bräuchten, um gegen diese Strapazen ankämpfen zu können. Und so kommt nicht einmal Genugtuung in mir auf. Und dennoch. Ich spüre nicht nur ihre Qual und ihr Leiden, sondern auch ihren Schweiß. Es ist Angstschweiß. Meine Zeit ist endgültig gekommen.

„In der Spitzengruppe fällt nun auch die Spitzengruppe auseinander. Ventoso und Artetxe haben bereits vor einigen Kilometern reißen lassen müssen. Gemeinsam versuchen der Sprinter und der Prologspezialist nun ihren Rhythmus zu finden und sicher ins Ziel zu gelangen. Die Karrenzzeit wird heute für viele ein Problem darstellen, gerade wenn man beachtet, wie das Rennen der Favoriten bereits begonnen hat. Dass Rujano den Fehdehandschuh bereits jetzt geworfen hat könnte der Todesstoß für eine Vielzahl der Sprinter sein.
Auch Lemercier und Banatiev haben jetzt Schwierigkeiten am Ende der Gruppe. Noch sind sie dran. Und jetzt, Igor Anton tritt an! Von ihm hatten wir bisher noch absolut gar nichts gesehen in dieser Rundfahrt. Seinem Teamkapitän Juan Manuel Mullor wird heute einiges zugetraut. Er ist bereits so weit zurück, dass er mit einer Attacke am Télegraphe durchkommen könnte.
Caruana hat derweil die Schlagzahl an der Spitze der Gruppe ein wenig erhöht. Lemercier und Banatiev sind jetzt völlig weggeplatzt und kämpfen sich verzweifelt den Anstieg hinauf. Sie drohen jeden Moment vom Rad zu fallen wenn sie so weiter machen.“


Sehr gut. Alles läuft nach Plan. Die Leute jubeln jetzt schon, beim bloßen Hören der Kommentatorenstimme. Sollen sie doch. Später werde ich jubeln können. Die Spitzengruppe wird immer kleiner. Die Stärksten Vertreter werden das Ende des Tages gemeinsam in Angriff nehmen können. Und dann gibt es Kämpfe an allen Ecken und Enden. Den einen vorne. Vielleicht um den Tagessieg, vielleicht auch gegen die heranrauschenden Favoriten, die hinten ihren eigenen Kampf ums gelbe Trikot austragen werden, und dabei wie eine große Welle alles vor sich ohne Rücksicht überrollen werden. Und vielleicht auch gegen José Rujano, der zwischen zwei Fronten den einsamen Kampf dieses Tages austrägt.
Ich sehe Ventoso und Artetxe, wie sie sich den Berg hinaufquälen. Rujano zieht mit einer Leichtigkeit an ihnen vorbei, die selbst mich in ein nicht geringes Staunen versetzt. Auch Lemercier ist bereits in Sicht, Banatiev ebenfalls nicht mehr fern. Vorne in der Gruppe kämpft Wegmann nun aus Leibeskräften um den Anschluss. Zu hoch ist sein Gang. Er wackelt, schaukelt, stiefelt. Ohne jegliche Konzentration, ohne Koordination, ohne Stil. Doch er kämpft und beißt. Caruana fährt jetzt alles von vorne. Er zieht die Gruppe den Berg hinauf. Und dabei ist er so stark. Heute ist er deutlich stärker als er es bei seinem zweiten Platz in der Italienrundfahrt war. Denn er ist gereift.

„Vorne fällt nun auch Wegmann endgültig ab. Vier Kilometer noch bis zur Bergwertung. Caruana fährt alles von vorne. Jetzt beschleunigt er noch einmal im Sitzen. Er zieht einfach nur die Frequenz an. Und schon lässt Weening reißen. Er fährt aber sein Tempo weiter. Und Anton platzt jetzt richtig. Da geht gar nichts mehr. Der steht förmlich. Rujano liegt noch drei Minuten zurück. Nur Valerio kann Caruana noch halten, doch auch er sieht nicht mehr so stark aus. Und jetzt lässt auch er reißen. Doch es scheint, als würde er hier seinen Rhythmus fahren und etwas Kraft sparen, um seinen Kapitän Rujano, der unaufhaltsam von hinten kommt, zumindest in der Abfahrt unterstützen zu können. Abfahrten waren noch nie Rujanos Stärke.
Hinten bestimmt noch immer Quickstep das Tempo im Feld. Noch keine Attacken bis jetzt. Doch die Fahrer wissen, was sie noch erwartet. Die höchste Bergankunft dieser Tour, auf über 2600 Metern Höhe. Und auch die Straße musste an einigen Stellen umgebaut werden, es ist jetzt noch steiler und härter. Gerade die Kurven weisen teils enorme Prozente auf. Der Anstieg wird die Fahrer zermürben. Und jetzt hat sich auch Quickstep aus der Führung verabschiedet. Floriano Guidi, der Dritte des Prologs, hatte jetzt bestimmt fünf Kilometer lang das Tempo gemacht und fällt nun zurück. Tom Boonen holt gerade noch einmal Flaschen, hat jetzt aber Mühe, zu Ceredi und Teppers vorzufahren. Milram, Caisse und Euskaltel schlagen jetzt ein richtig hohes Tempo an und sofort gehen wieder viele Fahrer fliegen. Wenn das so weitergeht wird die Gruppe sich bis zum Gipfel noch auf weniger als dreißig Mann reduzieren. Rujano mittlerweile übrigens über sechs Minuten vor dem Feld, damit schon fast im virtuellen gelben Trikot, wäre da nicht Caruana, der dieses virtuelle Leibchen bereits eine ganze Weile übergestreift hat. Doch der Schlussanstieg ist noch so hart.
Caruana ist jetzt an der Bergwertung. Anton wurde schon von Rujano übeholt, der jetzt noch 800 Meter bis zum Gipfel hat. Gleich wird er an Weening vorbeigehen und dann mit seinem Teamkameraden zusammentreffen. In der Teamleitung hat man wohl gemerkt, dass Valerio gegen Caruana keine Chance hätte und so setzt man also voll und ganz auf Rujano. Ja, er nimmt tatsächlich noch etwas heraus. Und jetzt zieht er noch einmal an, führt Rujano über den Gipfel. Gut... zweieinhalb Minuten haben sie oben an Rückstand. Auch Weening hat sich jetzt festgebissen, zumindest bis zum Télegraphe wird er sich hier noch dranhängen und dann seinen Rhythmus ins Ziel fahren. Caruana fährt bereits die Kurven hinunter, auf den finalen Anstieg des...“


Mehr muss ich nicht wissen. Gleich ist es so weit. Alles scheint gerichtet. Großartige, grandiose Duelle um den Gesamtsieg werden mich erwarten. Und noch viel mehr Kampf. Ich merke, wie die Spannung bei den Zuschauern steigt. Und so steigt auch meine Spannung und meine Konzentration. Die Entscheidung naht, es dauert nicht mehr lange. Jetzt kommt es drauf an. Ich muss, will und werde. Kämpfen? Ringen? All meine Kraft aufbringen? Vermutlich alles. Heute ist der Tag der Entscheidungen, und ich alleine bin der allgegenwärtige Richter.

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Grabba
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Beitrag: # 459381Beitrag Grabba
13.8.2007 - 10:34

Höhenluft, die Qual der Schwachen

Es hat begonnen.
Joseph Caruana fährt als erster in den Anstieg zum Télegraphe. Valerio hat Rujano bis auf zwei Minuten herangeführt. Noch einmal sprintet er die ersten Kilometer in den Anstieg hinein. Pieter Weening versucht die Zähne zusammenzubeißen, doch so sehr er sich auch müht, es gelingt ihm nicht. Die Hitze hat seinen Mund vertrocknet. Seine Hand greift nach unten, an seinen Rahmen. Er nimmt die Trinkflasche. Sie ist leer, fällt ihm aus der Hand. Ein Zuschauer rennt auf die Straße, schnappt sie sich. Ein anderer reicht dem Niederländer eine neue, volle. Doch er ist zu schwach, danach zu greifen. Nicht einmal ein Schmerzensschrei kann seiner Kehle entrinnen. Und doch ist er gefangen auf dem Fahrrad, begraben unter den feurigen Strahlen der Sonne, die ihm Haut und Leben zu vernichten drohen.
Dass Rujano und Valerio schon längst aus seiner Sicht entschwunden sind hat er bereits aus seinem geschundenen, verbrannten Bewusstsein verdrängt. Er kämpft nur noch ums nackte Überleben, an einem der härtesten Tage der Radsportgeschichte. Und ich lächele. Denn Rujano ist soeben seinem Teamkameraden davongefahren. Auch Caruana scheint vorne nun am Anschlag zu fahren. Sieben Kilometer noch bis zum Gipfel des Télegraphe, 30 bis ins Tagesziel. Und sie alle beißen.

Das Feld hat den Anstieg ebenfalls schon in Angriff genommen. Hinten hat sich mit Tom Boonen nun auch der letzte aller Sprinter verabschiedet. Ich bewundere ihn dennoch für seine heutige Leistung. Und während die Gruppe zerbröselt beschleunigt nun Contador. Eines hat er nie verloren: Seine enorme Antrittsgeschwindigkeit. Doch meist sind diese Antritte viel zu schnell wieder verpufft. Es fehlt ihm die Kraft, die Härte, dieses Durchhaltevermögen. Es fehlt ihm die absolute Klasse gegen mich. Und auch heute scheint es ähnlich, denn schnell wird er zurückgeholt. Auch Iniesta Arza von Astana geht jetzt los. Er scheint stark zu sein. Ich spüre Kraft. Von ihm kann man noch manches erwarten in dieser Rundfahrt. Und dennoch, es war zu viel für ihn, denn schnell ist er wieder gestellt.
Aha, Reus schickt seine Mannen nach vorne. Galder Royo und auch Michael Rogers. Stärke? Welch Unsinn! Er hat jetzt schon Probleme und sie sollen für ein gleichmäßiges Tempo sorgen. Die Antritte sind Gift für ihn. Oh ja, ich kann ihm ins Gesicht schauen, in ihn hineinfühlen. Er ist schwach, die Form des Prologes Vergangenheit. Wenig ist nur noch vorhanden von seiner Kletterstärke vor der Tour, mit der er Rogers in Grund und Boden und sich selbst in die Kapitänsrolle gefahren hat. Die Kapitänsrolle, die bereits heute wechseln könnte. Es sei denn, Singh wird heute geopfert, für Kai Reus.

Koldo Gil. Ich schaue ihm ins Gesicht, in die Augen. Sie sind stur geradeaus gerichtet. Er hat sich eine gute Platzierung vorgenommen. Viel bereits jetzt verloren. Seine Beine brennen. Die Hitze macht auch ihm zu schaffen. Sein Kopf tut ihm weh. Sein Bauch drückt, seine Füße brennen. Der Schweiß läuft an ihm hinunter und tropft zu Boden. Auch der Schluck aus der Wasserflasche kann ihm nicht mehr helfen. Er weiß, dass es für ihn heute nur noch zweierlei gibt: Alle Schmerzen auf der Flucht nach vorne zu vergessen oder abzusteigen. Und so richtet er sich auf, schaut sich um, und tritt an. Rogers bemerkt den Antritt, doch er lässt ihn ziehen und geht sein Tempo weiter. Und Gils Antritt sitzt. Die Gruppe hat er abgehängt.
Doch erst jetzt machen sich die Schmerzen wirklich bemerkbar. Im Moment seines Antritts war es das Adrenalin in seinem Körper, das wie ein Betäubungsmittel auf ihn gewirkt hatte. Doch nun fährt er vor dem Feld, mit einem noch höheren Einsatz, und dies erneut im vollen Bewusstsein seiner gesamten Pein. Noch immer sind es 27 Kilometer bis ins Tagesziel. Tränen des Schmerzes rinnen sein Gesicht herab. Doch er tritt tapfer weiter in die Pedale. Ich bewundere seinen Kampfesgeist. Doch er beginnt zu wanken. Die Schmerzen holen ihn ein, übermannen ihn. Er ist nicht mehr Herr über seinen Körper. Und wird langsamer. Und mit seinen Sinnen erschlafft auch sein Kampfgeist. Selbst der leichte Schatten des jungen Baumes, der hier noch sein Dasein fristet, kann ihm nicht mehr helfen. Das Feld ist an ihm vorbeigerollt. Die Narren im Fernsehen, die schaulustigen Zuschauer, sie alle werden diese Aktion als eine sinnlose Kraftverschwendung abtun. Keiner von ihnen weiß oder kann verstehen, dass es die endlose Pein war, die ihn zu dieser Flucht nach vorne getrieben hat.

Vorne fährt noch immer Joseph Caruana. Unbeeinträchtigt ist sein Fahrstil. Ruhig, mit einem kleinen Gang. Es wirkt kontrolliert, durchdacht. Doch Reserven hat auch er nicht mehr. Seine Haut beginnt zu rosten. Es schmerzt ihn. Er will es ignorieren, versucht es, und es gelingt. Nach wie vor fährt er unbeirrt. Immer weiter bergauf. Warum tut er sich diese Pein an? Ist es der Drang nach Erfolg? Oder doch die innere Befriedigung, die er am Abend verspüren wird, wenn er an seine grandiose Leistung zurückdenkt? Und trotz der unerträglichen Hitze tritt er weiter, immer im Kreis, immer weiter, Tritt um Tritt, immer ein kleines Stückchen weiter voran. Er kurbelt sich den Berg hinauf. Es erscheint langweilig. Und doch ist da diese immanente Qual, der endlose Schmerz, der immer weiter ansteigende Wunsch, abzusteigen. Es ist keine Qual, die ihm selbst entsteigt. Es ist die Qual, die ich ihm gebe, meine Aufgabe, mein Kampf gegen jeden Fahrer, der siegen will. Die Schweißtropfen perlen an ihm herab während die Sonne immer heißer herniederbrennt. Er überquert den Gipfel, fährt die kleine, kurze Abfahrt hinab. Rujano ist bis auf 39 Sekunden herangekommen. Und wirkt dabei noch immer stärker. Wenngleich auch er größte Schmerzen bereits seit langem verspürt. Selbst ihn kann ich also zum Leiden zwingen. Befriedigung macht sich in mir breit. Heute ist mein Tag.
Und so wie die beiden Protagonisten an der Spitze des Rennens sich quälen rückt das Feld mittlerweile der Bergwertung am Télegraphe näher, noch immer angeführt vom unermüdlich kämpfenden Rogers. Bewundernswert, dass er, der im letzten Jahrzehnt immer für gute Ergebnisse gesorgt hat in der Endabrechnung dieser Rundfahrt, nun für seinen Teamkameraden fährt, der hier bereits heute in Schwierigkeiten ist. Doch er hilft auch sich selbst. Keinen einzigen Blick richtet er zurück, immer stur geradeaus. Er fährt sein Tempo, seinen Stiefel. Keine Attacken mehr, die ihn zermürben. Nicht die ständige Konzentration und Angst, seinen Platz zu verlieren. Er fährt sein Ding, unangefochten. Und niemand stört sich daran, bis auf jene, die den Anschluss schon lange verloren haben.
Neunzehn Fahrer nur noch hängen an seinem Hinterrad, als er schließlich den Télegraphe überquert, mit fünfeinhalb Minuten Rückstand. Und die Abgehängten werden nicht mehr zurückkehren. Viele Namen der Gesamtwertung sind bereits zurückgefallen. Doch diese interessieren mich heute nicht. Sie leiden, auch ohne meine Hilfe. Sie sind schwach. Und wertlos. Meine Aufmerksamkeit gilt den Anderen, den Starken, jenen, die um den Sieg fahren, jene wenigen, die mich gefährden können. Kai Reus gehört mit Sicherheit nicht dazu. Zu wackelig sitzt er bereits auf dem Rad, jetzt, da es wieder bergan geht. Und dennoch arbeitet man noch immer für ihn. Doch andere wirken lockerer, stärker. Wie zum Beispiel der Belgier Luis Steyaert, vierter der letztjährigen Italienrundfahrt. Er ist der Edelhelfer seines Kapitäns, des Franzosen Brogniart, der noch immer gewinnen will. Ebenfalls ein Edelhelfer ist der Baske Alan Guerao. Sein kleiner Gang verleiht seinem runden Tritt einen Anblick, der Stärke vorgaukelt. Und dennoch ist er noch immer locker unterwegs, hat seine eigene Kraft und Energie und spielt diese aus. So wie sein Teamkapitän Ruland, der seinen dicken, großen Gang unentwegt tritt. Der heutige Tag kommt ihm entgegen, das gleichmäßige Tempo des Australiers an der Spitze. Doch ob er auch die Attacken mitgehen können wird?
Auch der Belgier Teppers hält sich noch immer in der Gruppe. Am Ende der Gruppe. Er ist zu schwer. Die Kraft allein reicht ihm nicht, sich die Berge hinaufzuwuchten. Hier, gegen die Besten der Besten, fehlt es ihm. Er kann nicht kontrollieren oder gar angreifen. Er kann das Tempo halten. Noch. Wenngleich er schwitzt. Und kämpft. Doch das kann er. Er beißt noch immer, während die Gruppe sich schon wieder verkleinert hat. Janez Braijkovic. Ich hätte gedacht, er sei stärker. So kann auch ich mich täuschen. Seine Schwäche am heutigen Tag kostet ihn womöglich den Toursieg. Wenn der dazu jemals die Möglichkeit gehabt hätte. Und so ist auch sein Traum geplatzt wie eine Seifenblase. Und ich freue mich, wenngleich es mich wurmt, dass so wenige Starke mir als Kontrahenten verbleiben.

Doch Rujano ist heute stark, so unendlich stark. Er kommt nun zu Caruana. Acht Kilometer noch bis ins Ziel. So wenig, und so viel noch was ich zu tun hätte. Unmittelbar geht er vorbei, ohne sich um den Überholten Caruana zu kümmern. Er weiß, dass er selbst stärker ist. Er geht in die Führung, zieht das Tempo noch einmal an. Doch er beißt, wie er es schon lange nicht mehr getan hat. Die Schmerzen die seinen ganzen Leib durchziehen sind so enorm. Dies sind die Augenblicke, in denen der Verstand eines Rennfahrers aussetzt, die Momente, in denen sich zeigt, wer ein wahrer Held ist. Die einen beenden die Qual, steigen ab oder fahren langsam dem Ziel entgegen. Doch jene wenigen, die besser sind, bleiben. Sie fahren weiter, schnurstracks, und blenden die Qualen aus. Sie fahren, ihren eigenen Weg, und nichts anderes. Auch sie mögen die Schmerzen nicht, doch sie schaffen es, die Pein zu besiegen. Jene, die ich ihnen auferlege. Genau wie in diesem Moment.
Das Ehepaar, das länger als alle anderen schon gewartet hat, steht nun endlich auf. Rujano ist in der steilsten Kurve angekommen, im brutalsten Abschnitt des Rennens, nein, vielleicht der ganzen Tour. Er will noch einmal beschleunigen, doch es geht nicht. Keine Reserven hat er mehr übrig. Es ist die Kurve der Qualen, der Entscheidungen. Joseph Caruana hat den Anschluss verloren. Ich bin zu stark. Und er ist schwächer. Schwächer auch als Rujano. Der, wenngleich verbrannt von innen und außen, wenngleich am Zittern, wenngleich mit allergrößter Qual und Not, noch immer fährt. Gestern noch war es so einfach gewesen, gestern noch hatte er es geschafft. Ja, gestern, gestern als ich schlief. Heute muss er sich schon mehr quälen. Und er weiß, dass sein Vorsprung bereits zu schmelzen begonnen hat, und dass die Größten, die Stärksten, hier an dieser Stelle ihre Angriffe führen werden. Darauf muss er sich vorbereiten. Es wird schwer. Und er weiß es. Er zweifelt. Und bekommt Angst. Was, wenn es nicht reicht? Seine Zweifel sind begründet. Es freut mich. Und das Ehepaar stimmt in meine Freude mit ein. War er vorhin noch so sicher, auch gestern, so ist es jetzt die große Unsicherheit. Und ich trage meinen Teil dazu bei.

Hinten ist die Attacke gegangen. Juan Manuel Mullor. Baske, Euskaltel. Rogers ist geplatzt. Ich habe ihm meinen Stachel ins Herz gebohrt. Er ist gebrochen, verloren. Wie der Rest seines Teams. Sie kämpfen vereinzelt, Reus am Ende der Gruppe und Singh mittendrin. Es wird ein harter, schwerer Tag. Und die Entscheidung ist noch nicht gefallen.
Markus Fothen führt die Gruppe jetzt an, hinter ihm Bernhard Kohl, und dahinter der deutsche Meister, Tim Schwarzenbeck. Heute will er wieder gelb übernehmen. Doch dazu muss er sich anstrengen und noch vieles leisten. Doch er sieht gut aus, noch immer. Sein Tritt ist flüssig, die Kraft vorhanden. Seine Muskeln zucken noch nicht. Er verkraftet die Sonne. Hat den Mut und die Energie. Und er kann dem Druck standhalten. Dies soll seine Tour werden. Heute kann sie es endgültig werden. Noch läuft es nach seinem Plan. Doch schon bald mag sich alles mit einem Schlag ändern. Die Entscheidung naht.
Mullor ist nicht weit weg. Zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Und so lasse ich ihn sterben. An der steilsten Rampe des Tages. Und wieder steht das Ehepaar auf und freut sich, die richtige Stelle gewählt zu haben. Hier, wo sie alle und jeden leiden sehen. Hier, sechs Kilometer vor dem Ziel. Der nächste Kletterer wurde hier gefällt. Auch ihn hat die Kraft verlassen. Doch hinten geht nun die Attacke, auf die ich gewartet habe. Sehnsüchtig. Endlich hat er den Willen, den Mut und das Vermögen, das umzusetzen, was er immer wollte. Er war der einzige in der Gruppe, der nicht geschwitzt hat. Als einziger sah er stark genug aus, diesen Angriff zu gehen. Und auch mental war er auf der Höhe. Er saß ruhig auf dem Rad. Sein Blick war die reinste Konzentration. Kein Anzeichen von Angst, von Anstrengung, nicht einmal von Zweifel. Er war sich sicher. Und ist es noch immer. Zurecht.
Sein Stil ist einmalig. Trotz dieses Angriffes an der steilsten Stelle des Tages, trotz der Anstrengungen, die auch er verspürt, behält er seine Position bei und weicht nicht einen einzigen Millimeter davon ab. Und er kann sich lösen. Meter um Meter. Es war kein Angriff mit vollster Härte, es war nicht die Brechstange. Nicht jener Fehler, der Mullor heute zum Verhängnis geworden ist. Er wusste, dass ihm diese Stelle den entscheidenden Vorteil über alle anderen bringen würde. Und er ist einfach nur schneller geworden und hat so alle anderen stehen lassen. Meine tiefste Bewunderung wird ihm zuteil. Der Stärkste am heutigen Tag ist einzig und allein er, David Brogniart, der Franzose. Auch das Ehepaar muss dies erkennen. Kein Leiden zeichnet sein Gesicht. Und so wenden die beiden sich voller Enttäuschung ab. Er hat sie heute eines Besseren belehrt.

Hinten hat sein Angriff Verwüstung angerichtet. Ruland ist bereits ein kleines Stück zurückgefallen. Alan Guerao ist noch immer an seiner Seite und versucht nun, ihn wieder heranzuführen. Tim Schwarzenbeck hat versucht, den Angriff mitzugehen, doch er war nicht stark genug. Alle anderen haben bereits eingebüßt und kämpfen nun vereinzelt gegen mich an. Und das, obwohl meine Konzentration nicht einmal ihnen gilt. Tim Schwarzenbeck beißt und kämpft. Er weiß, wie wenig drei Minuten gegen einen solchen Gegner sind. Er war vielleicht der einzige, der die Ankündigungen des Franzosen ernst genommen hatte. Und heute weiß er wieso. Doch er kennt seine Chancen, seine eigene Stärke. Er weiß, was er zu tun hat. Er kämpft sich den Berg hinauf. Doch noch ist er nicht im Ziel, noch habe ich manches in der Hinterhand.
Guerao wirkt noch runder, lockerer. Ruland hingegen schnauft. Wie ein Elephant. Er kämpft, beißt und gibt alles. Er kennt seine Stärke. Im Zeitfahren kann keiner ihm das Wasser reichen. Übermorgen wird sein Tag. Übermorgen wird er Schwarzenbeck distanzieren, und Brogniart, und alle anderen. Übermorgen wird er... Er denkt zu viel. Und leidet noch immer zu wenig. Guerao macht ihm das Tempo. Der Baske ist so stark. Vielleicht hätte er als einziger die Attacke des Franzosen kontern können. Vielleicht. Doch wohl auch nur für kurze Zeit. Heute stellt er sich in den Dienst der Mannschaft. Noch immer ist der Sieg der Rundfahrt greifbar. Man kann nicht jeden Tag dominieren. Es kommt darauf an, am Ende der Beste zu sein.
David Brogniart hingegen fährt noch immer seinen eigenen Stil. Ohne Mühe. Ich ringe mit mir, suche in meinen Gedanken nicht nach Hindernissen, die ich ihm in den Weg legen könnte, sondern nur nach jenem Wort, das ihn beschreibt. Wenn es ein Wort gibt, das ihn beschreiben kann, wie er auf dem Rad sitzt, sein Selbstbewusstsein, seine Entschlossenheit, sein Stil, sein zielgerichtetes Wesen auf dem Rennrad, so gibt es dafür nur ein Wort: Eleganz. Er gleitet diesen Berg förmlich hinauf. Und er ist noch lange nicht fertig. Das Feuerwerk hat soeben erst begonnen.
Sie kommen näher. Von hinten. Hat er überzogen? Dieser Gedanke findet heute keinen Platz in seinem Kopf. Tim Schwarzenbeck weiß, dass er sich schinden muss, um diese Rundfahrt zu gewinnen. Seinen Vorsprung hat er bereits herausgefahren, und nun gilt es, ihn zu verteidigen. Er kann es. Er hat die Kraft. Er ist stark. Und doch leidet er nun wie selten zuvor in seinem Leben. Er versucht Kraft zu finden, doch vergeblich. Sein Tritt wird schwerer. Aber er weiß, dass er nun nicht aufgeben darf. So lang, so ewig lang wird es noch dauern, so weit, so unendlich weit ist die rettende Ziellinie noch entfernt. Doch dieser Kampfgeist ist bewundernswert. Er fährt nun mit zusammengepressten Augen. Selten nur noch öffnet er sie zu kleinen Schlitzen. Seine Umgebung nimmt er nicht mehr wahr. Noch immer knallt die Sonne herab. Es stört ihn nicht mehr. Weiterhin hat er nur ein einziges Ziel vor seinen geschlossenen Augen. Und er weiß, dass er es heute erreichen wird. Er weiß, dass er am heutigen Abend im gelben Trikot fahren wird. Und dafür kämpft er unverdrossen weiter. Der Gedanke, aufzugeben, kommt ihm nicht. Und so fährt er.

Bäume hat er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Nur noch die weiten, endlosen Flächen voller Gras und Felsen. Und so wie die Felsen war sein heutiger Weg. Rau, hart und brutal. Doch es war ein erfolgreicher Weg. Es sind dies die letzten 500 Meter des Tages. Gleich hat er es geschafft. Sein Vorsprung ist groß, groß genug. Genug für den Etappensieg, doch auch für einen großen Sprung in der Gesamtwertung. Heute war sein Tag. Er hat alle Hindernisse überwunden, und auch die eigene Schmerzensgrenze. Er hat es allen bewiesen, dass er noch immer die Fähigkeit hat, der beste Kletterer der Welt zu sein. Er hat es allen bewiesen, und so auch mir, doch vor allem sich selbst. José Rujano ballt die Faust und reckte seine Arme gen Himmel. Er hat gewonnen!
Mit gut zwei Minuten Rückstand erreicht Joseph Caruana das Ziel. Erschöpft fällt er vom Rad. Ich habe ihm alles abverlangt. Jedes kleinste Korn an Reserve, das noch in seinem Körper schlummerte. Und er hat sie mir alle gegeben. Er hat seinen Tribut entrichtet, und so wird er erneut seinen verdienten Lohn empfangen, jenes Trikot, das er bereits trägt, jenes, das man mir zu Ehren aushändigt. Ob er es verteidigen kann wird sich zeigen, doch er ist stark. Sein Tag war der heutige. Es war der Auftritt seines Lebens gewesen.
Auch David Brogniart erreicht nun das Ziel. Noch immer sieht man keinerlei Spuren von Anstrengung in seinem Gesicht. Nur ein zufriedenes Lächeln macht sich breit. Ihm hatte ich heute nichts entgegenzusetzen. Er war der einzige, der an diesem Tag wahrlich stärker war als ich. Und er weiß es. So fährt er also ins Ziel, und allen seinen Konkurrenten hat er viel Zeit abgenommen. Wie viel, das bleibt abzuwarten. Ob es für den Toursieg reicht wird sich noch zeigen, und mir bleiben noch viele Möglichkeiten, mich bei ihm zu revanchieren. Noch habe ich Dinge in der Hinterhand, die ich ihm, wenn es hart auf hart kommt, in den Weg legen kann. Ich freue mich auf weitere Duelle. Er ist ein würdiger Gegner.
Guerao und Ruland sind noch an Schwarzenbeck herangekommen und haben diesen sogar stehen lassen. Guerao ist so stark. Noch immer rund und flüssig. Zwar besteht kein Vergleich zu David Brogniart, so wie er jetzt und hier über die Ziellinie sprintet, doch er war stark, so überaus stark. Seine Berge werden noch kommen, und dann wird sich zeigen, ob er nicht doch zu mehr gut sein kann als nur als Edelhelfer für seinen Kapitän, der hier schwächer war als er selbst. Doch auch Tim Schwarzenbeck erreicht nun das Ziel. Er ist gebrochen. Ich habe ihn zermürbt, vernichtet. In dieser Höhe, mit all dieser Brutalität, an diesem Tag, an dem die Sonne mein größter Verbündeter war. An diesem Tag hat er Zeit verloren. Er konnte den Rückstand begrenzen, konnte Schwächen ausgleichen. Und dennoch. Es wird schwer für ihn. Er ist heute an seine Reserven gegangen. Er kriegt kaum Luft, kann nicht einmal mehr trinken. Das Wasser, das seine Kehle hinabrinnt, schmerzt ihn so sehr. Alles Wasser auf seiner Haut ist längst zu Dampf verpufft. Nicht einmal die Aussicht auf die anstehende Siegerrehrung kann ihn auf die Beine zurückhieven. Hier nun zeigt sich, was ich anrichten kann, wenn ich es will. Er hat heute all meine Kraft, meine Energie und meinen Willen zu spüren gekriegt. Und auch meine Wut, dass einer stärker war als ich. Dieser heutige Tag war kein Tag eines einzelnen Fahrers, sondern einzig und allein der meinige. Noch ist der Krieg in vollem Gange, doch die erste entscheidende Schlacht habe ich zu meinen Gunsten entscheiden können. Wenig nur fehlt mir zum vollständigen Triumph. Mir, dem König der Tour.

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Beitrag: # 459688Beitrag Grabba
14.8.2007 - 11:37

Die Vielfältigkeit des wahren Sieges

Lange schon sind keine Strahlen der Sonne mehr zu sehen. Sie ist untergegangen. Sie hat ihre Aufgabe am heutigen Tag erfüllt. Vortrefflich. Nun ist es Nacht, und der helle Mond wirft seinen Schein auf die Welt und auf mich. Ich genieße es. Nach der Hitze und den Anstrengungen des Tages ist es die gewünschte Abkühlung, die mir so zuteil wird. Noch einmal läuft der Film des Kampfes in mir ab. Wie die Spitzengruppe zerfallen ist, wie Rujano sich abgesetzt hat aus dem großen Feld. Wie es an meinen Hängen zur finalsten aller Schlachten gekommen ist, wie sie sich zerfleischt haben. Wie Rujano als Sieger über die Ziellinie fuhr, wie Brogniart mit seiner spielerischen Leichtigkeit und Eleganz allen anderen davongezogen war, wie Guerao und Ruland den Rückstand hatten begrenzen können, wie Schwarzenbeck Zeit verloren hatte und wie der Tag jeden anderen wohl den Toursieg gekostet hat. Und nicht zuletzt, wie Joseph Caruana in so überragender Manier mein Trikot erkämpft, erobert hat.

Tageswertung
1. Rujano 0:00
2. Caruana +2:03
3. Brogniart +2:37
4. Guerao +3:14
5. Ruland +3:14
6. Schwarzenbeck +3:21
7. Steyaert +4:00
8. Mullor +4:13
9. Kohl +4:51
10. Singh +5:06
11. Kreuziger +5:07
12. Teppers +5:09
13. Fothen +5:27
14. Reus +5:27
15. Valerio +5:51
16. Ceredi +5:51
17. Braijkovic +5:51
18. Rogers +6:33
19. Dekker +6:33
20. Bertin +6:33

Gesamtwertung
1. Schwarzenbeck
2. Ceredi +0:13
3. Rujano +1:02
4. Ruland +1:06
5. Guerao +1:16
6. Brogniart +2:08
7. Teppers +3:29
8. Fothen +4:07
9. Steyaert +4:08
10. Sing +4:13
11. Reus +4:21
12. Mullor +4:29
13. Kreuziger +4:39
14. Kohl +4:48
15. Braijkovic +5:23
16. Dekker +5:52
17. Caruana +6:42

Bergwertung
1. Caruana 124
2. Rujano 69
3. Schwarzenbeck 48
4. Guerao 41
5. Gilbert 36
6. Brogniart 35
7. Valerio 33
8. Ruland 28
9. Steyaert 24
10. Mullor 23

Doch noch während ich dies alles durchgehe schweifen meine Gedanken bereits ab. In die Köpfe der Fahrer, die nun in ihren Betten liegen, vom bleichen Licht des kalten Mondes, das durch ihre Fenster dringt, bestrahlt und von den Erinnerungen an die Schmerzen des Tages geplagt. Und während sie im Wachen daliegen und sinnieren dringe ich in sie ein, drifte ab, verschwimme, und bin schließlich ein Teil von ihnen, sie selbst...

Alles war nach seinem Geschmack gelaufen. Was scherten ihn Tagessiege? Er hatte schon einige auf seinem Konto. In diesem Jahr wollte er nur eines: Den Toursieg. Das Zeitfahren würde sein Tag werden. Gegen den besten Kletterer hatte er nur wenig Zeit verloren. Die würde er allemal wieder aufholen. Gegen seinen vielleicht größten Konkurrenten hatte er sogar Sekunden gewinnen können. Er hatte sein Ding durchgezogen und sein Ziel erreicht. Mit Bravour. Sein Dank galt seinem Helfer, dem stärksten, den man sich wünschen könnte. Für ihn stand fest, dass er die Vuelta fahren würde, nicht auf eigene Rechnung, sondern um Alan Guerao dort zum Sieg zu verhelfen. Er dachte an Armstrong. Auch dieser hatte mehrfach angekündigt, die Vuelta für seinen Edelhelfer fahren zu wollen. Und es dann doch nicht getan. Volker Ruland hingegen fasste seinen Entschluss im Stillen. Und freute sich über seinen grandiosen Auftritt. Und auf das Zeitfahren. Auf seinen Tag.

Er hatte sein Trikot zurückerobert. Dreizehn Sekunden hat er nur Vorsprung auf den Italiener Ceredi. Gerade einmal zweieinhalb Minuten hatte er ihm abnehmen können im Anstieg. Erstaunlich stark war er gewesen. Doch das hatte Schwarzenbeck nicht überrascht. So wie dieser Tag überhaupt kaum Überraschungen für ihn bereitgehalten hatte. Vielleicht wundert er sich ein wenig über die Schwächen mancher Konkurrenten. Doch er weiß dies auch der eigenen Stärke zuzuschreiben. Dieser lange, kräftezehrende Anstieg. Dieser härteste, dieser brutalste aller Tage des gesamten Jahres. Er hatte ihn gefürchtet. Er wusste von Anfang an, dass es nur darum ging, Schadensbegrenzung zu betreiben. Es war ihm gelungen. Wenngleich er die Zeit, die er auf Ruland verloren hatte, sehr bedauerte. Das Zeitfahren würde mit Sicherheit kommen. Dort galt es, sein Trikot zu verteidigen, mit allem was er hatte. Die Tour war noch lang, doch dem Sieg war er ein großes Stück nähergekommen.

Es war dies heute sein erster großer Schritt. Der Schritt in Richtung Toursieg. Dem Einzigen, was für ihn zählt. Noch war er weit von diesem, seinem, gelben Trikot entfernt, das er in diesem Jahr endlich erobern wollte. Doch er hatte den ersten Schritt getan. Sein Angriff hatte gesessen und die Konkurrenz in die Knie gezwungen. Er hatte ihnen allen gezeigt, dass er der Stärkste war. An seine Reserven war er heute noch nicht gegangen. Er würde nicht mehr einbrechen während dieser Rundfahrt. Er würde sie gewinnen. Als er heute auf dem Podest stand und die Ehrung entgegennahm, der schnellste Fahrer dieses finalen, dieses härtesten, längsten und brutalsten Anstieges gewesen zu sein, strahlte sein Blick nichts als Entschlossenheit und Zuversicht aus. Für ihn gibt es keinen Zweifel mehr, dass er diese Tour de France gewinnen wird. Er ist der wahre Sieger des heutigen Tages.

Über zwei Minuten hatte er verloren auf den letzten Kilometern. Und dennoch. Hätte man es ihm vor einem Jahr prophezeit, dass er diesen Tag als zweiter beenden würde, dass er an dessen Ende das Bergtrikot in seinen Händen halten würde, so hätte er darüber nicht einmal lächeln können. Er war überglücklich. Nach der langen, tiefen und ausweglosen Schlucht, durch die er über Jahre hinweg in Dunkelheit gewandert war, kam dieser zweite Platz wie eine Erlösung. Er zählte für ihn mehr als alles, was er zuvor erreicht hatte. Es war der größte Sieg seiner Karriere gewesen, der Sieg über sich selbst.

Dass er heute für seinen Kapitän gefahren war hatte vielleicht auch seine gute Seite gehabt. Er konnte mit seinen Kräften haushalten. Er ist den Angriff nicht mitgegangen, hat nicht überzogen. Und er hat sich die Loyalität Rulands erworben. Wenn nicht gar die Freundschaft. Es war dies ein blindes Verständnis, das im Laufe der Rundfahrt zwischen ihm und seinem Teamkameraden, seinem Kapitän, herangewachsen war. Er weiß, dass Volker Ruland die Rundfahrt noch immer gewinnen kann. Die Chancen dafür stehen gut. Und auch die eigenen, wenngleich in einer gewissen Distanz, geben ihm noch immer Kraft, für das zu kämpfen, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Das gelbe Trikot war verloren. Doch nur knapp. Es hatte ihm wahrlich Flügel verliehen. Leider waren diese nicht groß genug gewesen. Kaum jemand hatte ihm Beachtung geschenkt, kaum jemand hatte ihn auf der Rechnung gehabt. Dass er diesen Tag würde durchhalten können hätte niemand für möglich gehalten. Um so mehr erstaunte es sie alle, wie schnell er das Ziel erreicht hatte. Zu spät. Und dennoch nur um eine Winzigkeit. Und er kennt seine Chance. Morgen werden die Favoriten sich belauern, werden ihre Kräfte sparen. Für das Zeitfahren. Jenes, das ihn kaum interessiert. Und dennoch wartet morgen ein harter, anstrengender Tag. Es kann sein Tag werden. Es wird sein Tag werden. Morgen Abend wird er erneut in gelbem Glanz erstrahlen. Und so hat sich auch für ihn der Kampf des Tages gelohnt, denn sein Trikot ist noch immer halb bei ihm.

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Beitrag: # 462420Beitrag Grabba
29.8.2007 - 10:22

Der Tag des Vergessens

Ich stehe, warte und ruhe,
Auf den neuen Tag,
Auf die Entscheidungen,
Die kommen werden.

Ich harre all dem,
Was die Zukunft bringen wird,
Jene goldene, einzig wahre,
Das Glück eines Jeden.

Sehnsüchtig blicke ich,
In der Welt umher,
Doch was ich sehe,
Ist die Leere.


In der heutigen Nacht hat sich eine Dunkelheit meiner bemächtigt, die ich nicht verstehen kann. Gestern war mein Tag, und auch heute werde ich wieder vieles leisten können. Was also sollte mich abhalten können von der Auslebung meiner Freude? Was ist es, das in diesem Jahr anders ist als in all den Jahren zuvor? Ich verstehe es nicht. Kann es einfach nicht begreifen. Wenn ich den Grund herausfinde mag es bereits zu spät sein. Dies ist es, was ich befürchte. Ob ich damit Recht behalten werde wird sich zeigen, doch ich empfinde erstmals Furcht. Nun gilt es, Ruhe zu bewahren, und jenes zu tun, was mir einst auferlegt worden war: Jeden einzelnen Radfahrer an den Rand seiner Leistungsfähigkeit zu führen und über ihren Rand hinauszustoßen. Und so begann der heutige Tag.

Es waren drei Fahrer, die das Rennen prägten. Drei Fahrer, und eine namenlose Spitzengruppe. Einer kam aus ihr. Damiano Cunego. Gestern hatte er gespürt, dass es nicht mehr ging. Er hatte herausgenommen, sich geschont. Für heute. Das Glück war ihm hold gewesen. Die richtige Gruppe hatte er auf Anhieb erwischt. Bis zum letzten namhaften Anstieg hatte er mit seinen Begleitern gemeinsame Sache gemacht, doch dann war sein Antritt gefolgt. Am Fuße. Am Gipfel hatte er sich so weit von ihnen gelöst, dass sie ihn nie wieder würden einfangen können.
Doch ein anderer war nahe gekommen. Zu nahe. In der Abfahrt schloss Juan Manuel Mullor auf. Zusammen fuhr man dem Ziel entgegen. Noch einmal kam ein Anstieg. Dieser war Cunegos Gift des Tages. Er verlor den Anschluss. Das Ziel erreichte er über eine halbe Minute hinter dem vor Freude jubelnden Basken Mullor. Dies war er gewesen, sein Tag in dieser Frankreichrundfahrt. Noch einmal würde diese Möglichkeit sich nicht bieten. Es war zu spät. Und so stieg er aus. Hinter der Ziellinie. Nur sein Wille brachte ihn noch dorthin. Ein anderer wäre zuvor schon vom Rad gestiegen. Er hatte versagt.
Doch es war nicht dies gewesen, was der heutigen Etappe ihren Reiz gegeben hat. Weder Mullors Sieg noch Cunegos Ausstieg. Es war eine Aktion gewesen, mit der niemand gerechnet hatte. An jenem letzten Anstieg geschah es, an einer harten, einer bösen Steigung, jedoch nicht all zu lang, von deren Gipfel es nur noch sieben Kilometer bis ins Ziel waren. Rosalbino Ceredi griff an. Mit all seiner Kraft und Macht. Und Schwarzenbeck und alle anderen verharrten in ihren Satteln. Ließen die Teamkameraden fahren. Um sich für das morgige Zeitfahren zu schonen. Was mich enttäuscht hat ist für den Zuschauer nur die logische Konsequenz.
Und so wird es sich morgen ergeben, dass Rosalbino Ceredi erneut das gelbe Trikot präsentieren darf. Seine Stärke überrascht mich wirklich. Zwar wird er es wieder verlieren, und danach kaum noch zurückerobern können, doch er hat sich gezeigt, mehr als man dies erwartet hätte. Und erneut erstrahlte er in seinem gesamten Glanz. Welch großartiger Sieg, an einem Tag, an dem die Starken, die Großen und die Schnellen sich zurückhielten. An einem Tag der Außenseiter.

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Beitrag: # 465496Beitrag Grabba
11.9.2007 - 17:31

Die Einheit der Sonne

Die warmen Sonnenstrahlen kitzelten ihn aus dem Schlaf. Mit der Sekunde, in der er aus dem Bett stieg, war er topfit. Keinen Tropfen kalten Wassers brauchte er für sein Gesicht an diesem Morgen. Er öffnete das Fenster und schaute hinaus. Noch war die Sonne nicht vollständig aufgegangen. Doch es würde nicht mehr lange dauern. Die Morgenluft war frisch und rein. Er genoss es, sog den Sauerstoff in vollen Zügen in sich ein. Er würde ihn heute noch brauchen.
Eine halbe Stunde später löste er sich von der Welt. Die Sonne hatte sich endgültig auf ihren langen Weg gemacht, wenngleich ihre Strahlen noch immer einzig und allein auf ihn gerichtet waren. Er schloss das Fenster und drehte sich um. Jetzt erst verspürte er die unmenschliche Stärke, die ihn heute durchfloss. Er würde früh auf die Strecke gehen. Er würde alle anderen Zeiten um Minuten pulverisieren können. Seine Bestzeit würde bis zum Ende des Tages Bestand haben. Und so war der Tag bereits entschieden. Er würde nur noch losfahren müssen.

Während er sich aufwärmte und bereitmachte tobte der Kampf bereits auf der Strecke. Die erste starke Bestzeit wurde aufgestellt von T-Mobiles Alvaro Artetxe, nur um eine halbe Stunde später von seinem Teamkollegen Cancellara unterboten zu werden. Beide lagen nur wenige Sekunden auseinander, doch weit über eine Minute vor allen anderen.
Ihn jedoch interessierte das wenig. Auf dem Weg zum Start waren alle Gedanken der absoluten Konzentration und reinen Fokussierung auf die Strecke gewichen. Er dachte nicht mehr nach. Das Zeitfahren war seine Disziplin, sein Leben. Das Talent war ihm angeboren, der Stil naturgegeben und die Sitzposition würde er selbst im Schlaf annehmen können. Den eigenen Körper hatte er so gut einzuschätzen gelernt, dass er während des Rennens nicht mehr in sich hineinhorchen musste. Und so gab es auch heute wieder nur ihn und die Strecke. Er, sein Rennrad und die Straße bildeten eine große Einheit, ein Gefüge, das durch nichts aus der Ruhe zu bringen war. Und die klaren Sonnenstrahlen an diesem kühlen Tag des Sommers stärkten ihn zusätzlich. Es gab nichts und niemanden, was ihn aufhalten konnte. Keine einzige Zwischenzeit musste man ihm während der Strecke durchsagen. Er wusste, dass er schneller war als alle anderen. Über zweieinhalb Minuten hatte er Fabian Cancellara im Ziel abgenommen. Es war das wohl beste Zeitfahren seines Lebens gewesen. Lange hatte er darauf hingearbeitet, so lange trainiert, und nach dem verpassten Prologsieg war es eine doppelte Genugtuung. Nun saß er im Ziel und wartete. Auf die Siegerehrung. Denn Zweifel an seinem Triumph hatte er nie gehabt.
Und so wie er saß konnte er den Rest des Rennens aus der Distanz beobachten. Er sah Boasson Hagen, der immerhin nur etwas weniger als zwei Minuten Rückstand zu ihm hatte. Er sah zu, wie Thomas Lövkvist kläglich scheiterte. Und er sah zu, wie die Favoriten auf den Gesamtsieg auf die Strecke gingen und ihr Rennen fuhren. Viele von ihnen waren stark und gut, doch kein einziger konnte mit seiner Umgebung verschmelzen, und so würden sie am Ende alle hinter ihm zurückbleiben.
Auf dem Zeitfahrrad musste er nicht mehr arbeiten. Es gab nichts mehr, das er verbessern könnte. Er hatte begonnen, seine Fähigkeiten an den Anstiegen zu steigern. Erst an den kürzeren, um auch wellige Zeitfahren zu gewinnen. Und seit einiger Zeit trainierte er auch an den langen Anstiegen des Hochgebirges. Nicht, um eines Tages eine große Rundfahrt gewinnen zu können. Dies war nicht seine Bestimmung, und er würde es niemals schaffen können. Auch nicht, um Kräfte zu sparen. Sein Ziel ist es einzig und allein, eines Tages ein Bergzeitfahren gewinnen zu können. Und es scheint mir, als wäre er auf dem richtigen Weg dahin. Doch in den letzten Tagen hatten diese Fähigkeiten ihm vor allem eines gebracht. Er hatte Kraft sparen können. Er war ein gemütliches Tempo, weit unter seinen Möglichkeiten, die langen Anstiege hinaufgefahren. Er hätte um einen Platz unter den ersten 20 mitfahren können. Jetzt lag er 100 Positionen weiter hinten. Doch die Kraft, die er so hatte sammeln können war es, die ihm heute zusätzlich zugute kam. Und so konnte es sein Tag werden, mehr noch als sonst. Denn das Zeitfahren war sein Leben.
Langsam rollten auch die besten der Gesamtwertung ins Ziel. Er lächelte bei einem jeden, noch lange bevor er die Ziellinie überfuhr. Thomas Dekker mit fast zwei Minuten Rückstand. Seine Form war wohl definitiv dahin. Ähnlich erging es auch Kai Reus, als er die Ziellinie überfuhr. Mit nur wenig geringerem Rückstand reihte er sich zwar an der dritten Position ein, doch wie sollte er so in der Gesamtwertung etwas erreichen können? Roman Kreuziger hatte nur etwas über eine Minute länger als er selbst gebraucht. Eine starke Leistung. Bayung Singh und Markus Fothen schlugen sich mit ihren zweieinhalb Minuten Rückstand für ihre Verhältnisse noch beachtlich, doch andere Fahrer wie Luis Steyaert und Juan Manuel Mullor verloren heute bis zu sieben Minuten auf den Tagessieger und somit die Rundfahrt. Ein einziger hatte bisher ein starkes Zeitfahren gezeigt. Yvan Teppers, der belgische Star, war gerade einmal 39 Sekunden hinter ihm zurückgeblieben. Beachtlich, doch nicht stark genug.
Und so kamen schließlich die besten ins Ziel. David Brogniart als erster von ihnen, und wohl auch als schlechtester. Drei Minuten und 15 Sekunden. Zu viel. Alan Guerao, der Edelhelfer Volker Rulands, überraschte alle mit seinen Zeitfahrkünsten. Sogar er, der seit nunmehr fast vier Stunden auf seine Siegerehrung wartete, kam ins Staunen, als der baskische Kletterer gerade einmal eine Minute und 47 Sekunden Rückstand auf ihn ins Ziel brachte. Sein Teamkollege Volker Ruland, der genau eine Minute und fünf Sekunden weniger brauchte und somit als einziger neben Teppers weniger als eine Minute des Rückstandes auf ihn einfuhr, hatte ihn nicht auffahren können. Das alleine überraschte alle Experten. Jose Rujano hingegen konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Fast vier Minuten Rückstand waren es am Ende, und somit sind auch seine Chancen auf das Podest fast schon dahingeschwunden. Im Zeitfahren. Doch Tim Schwarzenbeck hatte ihn nicht ganz aufrollen können. Genau zwei Minuten war er zurück. Eine überaus starke Leistung. Mehr, als man sich von ihm erwartet hätte. Und dennoch nicht genug für das gelbe Trikot. Volker Ruland war schneller gewesen. Im Zeitfahren wesentlich. In der Gesamtwertung sind es nur fünf Sekunden. Ein Wimpernschlag. Rosalbino Ceredi fuhr mit sechseinhalb Minuten Rückstand über die Ziellinie und musste den übermäßigen Anstrengungen der vergangenen Tage Tribut zollen. Dennoch hatte er gezeigt, welches Potential in ihm steckt, und wer weiß, vielleicht wird auch er eines Tages kommen um diese Rundfahrt zu gewinnen, so wie Tim Schwarzenbeck in diesem Jahr.

Es war ein ereignisreicher Tag gewesen. Bereits mit der Morgensonne war er entschieden worden. Zu seinen Gunsten. Nun stand er auf dem Siegertreppchen und ließ sich feiern für seinen ersten Sieg bei einem langen Zeitfahren der Tour de France. Obwohl er es den ganzen Tag über gewusst hatte kullert nun doch eine Träne der Freude, der Erleichterung und des Glückes langsam an seiner Wange herab und zerplatzt erst auf dem Boden. Er hat das Zeitfahren dominiert. Er hat gewonnen.
Auch Volker Ruland wird nun geehrt. Mit dem gelben Trikot. Seinem Trikot, das er nun endlich zurückgewonnen hat, an seinem Tag, dem Zeitfahren. Der Tagessieg war ihm egal gewesen. Für ihn zählt einzig der Gesamtsieg. Seinen beiden großen Kontrahenten hat er viel Zeit abgenommen. Er liegt nun vor ihnen. Nur knapp vor Tim Schwarzenbeck, der jedoch im Hochgebirge schwächer scheint als er selbst. Weit vor David Brogniart, der ihm diese Zeit am Berg nur schwerlich wird abnehmen können. Noch nie stand die Tür zum Toursieg für ihn so weit offen. Er würde sie nur noch durschreiten müssen. Daran, dass die Türschwelle ihm im Weg sein und ihn aufhalten könnte, denkt er leider nicht.
Zwei weitere Fahrer werden geehrt. Joseph Caruana hat viel Zeit verloren, doch mein Trikot ist sein Trikot. Tom Boonen wurde heute starker zehnter und konnte so seine Führung noch einmal ausweiten. Es fehlt ihm nur noch der Tageserfolg. Doch wenn er sich seiner Stärke besinnt, dann wird er auch diese Hürde noch nehmen können. Er weiß es, und er fasst seinen Entschluss. Jetzt, da der Tag sich seinem Ende neigt.
Und so betrachtet Floriano Guidi die untergehende Sonne. Denn es waren dies jene Strahlen, die ihn am heutigen Morgen geweckt und ihn später zum Sieg geführt hatten. So denkt er. Doch wenn er wüsste, dass der Erfolg seiner Leistung einzig und allein auf seinen eigenen Errungenschaften, auf der Kraft seines Körpers und der Stärke seines Geistes beruht, so wäre in Zukunft aller Reiz der Rennen verloren.





Das hat ja mal wieder viel zu lange gedauert, und dennoch bin ich mit diesem Beitrag nicht restlos zufrieden. Eigentlich wollte ich das Zeitfahren ja schon lange hinter mich gebracht haben, aber es bedurfte dann doch arkons Anstachelung getsern Abend, um mich zum Weiterschreiben zu bewegen. Danke dafür. Und gleichzeitig will ich damit noch um etwas mehr Feedback hier im Forum bitten. Ich weiß, es fällt nicht immer leicht, etwas zu schreiben, doch ganz gleich ob es euch gefällt oder nicht... Jede Rückmeldung motiviert mich zusätzlich und beschleunigt meine Arbeiten. Nun ja, ich hoffe, der Beitrag hat gefallen. Es wird bald mehr kommen!

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